ABENDLAND

Knapp vor ihrem Untergang brach unter der Wolkenbank nochmals die Sonne hervor. Ihre Strahlen kleideten das Land in ein glühendes Orange. Die Schatten der mächtigen Bäume warfen Netze über die Kornfelder. Das Dunkel der Seegräser zeichnete im Abendwind flüchtige Figuren auf die Dünen. Krähen ließen sich auf die Bäume nieder und hüpften übermütig von Geäst zu Geäst. Andere flogen der Sonne entgegen und waren bald nur noch kleine schwarze Punkte am Horizont. Das Weiß der Gefieder der Möwen zerbarst die Gewitterwolken. In ihren Augen glänzte das Licht, und der Himmel war voller winziger Spiegel.

Als sich die Sonne dem Horizont näherte und wie ein gewaltiger roter Laib ins Wasser sank, faßten ihre Strahlen die Wolken in einen feinen Saum aus Gold. Wie ein Rückgrat teilten sie das Wasser in zwei gewaltige Hälften. Langsam versank das Land im Dunkel, und allmählich verwandelte sich das Meer in ein riesiges schwarzes Loch. Manchmal funkelten Schaumkronen weiß auf im Licht des Mondes. Das regelmäßige Donnern der heranrollenden Wellen durchbrach als einziges die Stille. Vor der Schwärze der Nacht flatterte das Nordlicht wie ein gewaltiger Vorhang über dem Meer. Ganz selten klangen von weit her menschliche Stimmen.

Zwischen den Dünen lag auf dem Boden erschöpft ein Wanderer. Auf seinen linken Arm gestützt, hatte er aus Strandgut ein kleines Feuer entfacht. Es sollte ihn wärmen und vor wilden Tieren schützen. Schon lange war er auf der Suche gewesen und hatte sich nur noch von Beeren und Heuschrecken ernährt. Sein Haar war zur Mähne und seine Haut ledern geworden. Die Wangenknochen warfen Schatten auf das nach vorn gebeugte Gesicht. Neben dem Feuer und mit Blick auf das nahe Ufer wollte er sich und dem Körper Ruhe gönnen. Seine Augen aus Glas suchten ständig den Horizont ab – einem Bauern ähnlich, wenn ein Unwetter naht.

Als der Wanderer Wochen später gefunden wurde, konnte man sich ihm nur mit einem Tuch vor Nase und Mund nähern. Sein Körper lag gekrümmt auf der Seite, und es schien, als hätte er sich übergeben müssen. Doch es waren Maden, die aus seinem halb geöffneten Mund und aus den Augenhöhlen krochen. Wie ein Leichentuch bedeckten sie seinen tabakblätterfarbigen Körper.

Als wolle er eine Geliebte umarmen, hatte er sich mit der rechten Hand in den Rucksack vergraben. Um die Umklammerung zu lösen, mußte sein Arm mit Gewalt losgerissen werden. Als man den Rucksack leerte, fielen ein Schloß zu Boden und ein vergilbter Terminkalender, der als Tagebuch gedient hatte. Zu unterst lag, sorgfältig verpackt und fein säuberlich verschnürt, ein kreisrundes Paket.

Die Kunde vom seltsamen Fund verbreitete sich wie ein Sturmfeuer. Von allen Seiten hasteten Menschen über die Hügel zum Strand. Männer mit den langen Stöcken verließen ihre Herde, Mütter zerrten ihre Kinder am Arm, einige trotzig ihr Gesicht hinter vorgehaltener Hand verbergend. Lange schrieen die Herangeeilten planlos einander an. Dann sammelten sie sich im Kreis um das Paket. Einer öffnete das Garn mit ausgestrecktem Arm. Von seinen Fesseln befreit, begann das Paket sich zu bewegen und nach und nach aufzugehen. Mit großen Augen starrten die Menschen, viele von ihnen ihr Gesicht hinter einem dunklen Schleier verbergend – auf den alten Laib Brot.

Gerhard Streminger, in Los Angeles geboren,
veröffentlichte in Marburg vor sieben Jahren "Der natürliche Lauf der Dinge".


Publiziert in: STERZ 90 (2002)

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