Gerhard Streminger

Zur Sinnfrage

(erweiterte Fassung; Originalbeitrag
ursprünglich geschrieben für die Festschrift für Hans Albert)

 

Ich beschwöre euch, ..., bleibt der Erde treu und glaubt Denen nicht, welche euch von
übernatürlichen Hoffnungen reden! Giftmischer sind es, ob sie es wissen oder nicht.

Friedrich Nietzsche

 

Persönliche Vorbemerkung

Gegenüber dem Phänomen der Religion lassen sich, speziell im deutschen Sprachraum, meines Erachtens folgende vier Standpunkte unterscheiden:

  1. Zunächst gibt es die Agnostiker und Atheisten, die sich an keinem Weltbild, in dem Gott im Zentrum der Betrachtung steht, orientieren; ein Theismus, also eine Rückbindung an ein transzendentes Höchstes Wesen, ist den Vertretern dieser ersten Gruppe fremd. Sie beziehen ihre Werte aus anderen Quellen als dem göttlichen Willen, etwa aus egoistischen oder altruistischen Interessen – oder aus der Vernunft.

  2. Als zweites seien jene Gläubige genannt, die sich in ihrem Denken und Handeln danach richten, was ihrer Meinung nach im Christentum bzw. in einer der vielen Versionen desselben (der angeblichen >Leitkultur<) von ihnen erwartet oder gefordert wird. Das Mittel ihres Strebens ist die Verwirklichung des göttlichen Willens, und der Zweck ist jenseitiges Wohlbefinden und Seelenheil. Während unter Gebildeten die erste Position seit Jahrzehnten stetig zunimmt, wird die zweite Gruppe kontinuierlich kleiner. Das mag sich, wie schon mehrmals in der Geschichte, langsam wieder ändern und durch den Fundamentalismus in anderen Religionen – kommunizierenden Gefäßen nicht unähnlich – beeinflusst werden. Aber zumindest in Westeuropa gibt es gegenwärtig dafür keine wirklichen Anzeichen. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist dies freilich anders. Dort hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Gruppe christlicher Fundamentalisten – wasps – einen entscheidenden Teil der Macht übernommen.

  3. Während also die zuerst genannten Positionen bezüglich der Religion am stärksten zu- beziehungsweise abnehmen, hat die dritte Einstellung gegenüber der Religiosität den angenehmen Nebeneffekt, dass sie für ein Fortkommen zumal an deutschen Hochschulen höchst Erfolg versprechend ist. Diese Position ist dadurch gekennzeichnet, dass einige wenige kirchliche Lehren, vor allem die Sexualmoral sowie die Stellung von Frauen, kopfschüttelnd abgelehnt werden. Aber das Problem einer religiösen Weltanschauung als solcher bleibt unangetastet. Im Gegenteil: Viele Vertreter dieser Position versäumen selten den Hinweis (das Lippenbekenntnis?), dass sie sich anderen Teilen des Christentums – insbesondere der so genannten Bergpredigt – selbstverständlich verpflichtet fühlen.

  4. Während also eine solche Einstellung gegenüber den christlichen Kirchen aus Karrieregründen durchaus empfehlenswert ist, zeichnen sich Exponenten der vierten Gruppe dadurch aus, dass sie besonders selten sind. Ihre Position ist dadurch gekennzeichnet, dass sie das Phänomen der Religion durchaus ernst nehmen, aber nicht nur einige wenige Punkte, sondern die religiöse Weltanschauung als solche hinterfragen: Wie kann, beispielsweise, die Existenz Gottes begründet werden? Was sind überhaupt die göttlichen Attribute? Sind es Güte und Barmherzigkeit oder Grausamkeit und Rachsucht? Wie verträgt sich Seine angebliche Gerechtigkeit mit den Leiden der Welt? Welche Gewissheiten gibt es, dass die heiligen Bücher tatsächlich vom Geist Gottes erfüllt sind, also die These von der Verbalinspiration ihrer Verfasser richtig ist? Oder wird hier die Überzeugungskraft rationaler Argumente bloß durch den Glauben an die Vertrauenswürdigkeit eher dubioser Zeugen ersetzt?

Wem das oft heuchlerische Verhalten der Exponenten der dritten Gruppe zuwider ist und wer zudem die Ansprüche der verschiedenen Religionen nicht aufs Geradewohl akzeptieren will, der wird in der Kritikfähigkeit und Geradlinigkeit Hans Alberts den vielleicht wichtigsten deutschsprachigen Vertreter dieser vierten Gruppe finden. Allein schon deshalb werden die an Aufklärung Interessierten seinen 80. Geburtstag in Anerkennung feiern.

 

I. Das Argument

Der Inhalt dieses eher programmatischen Essays lässt sich in Kürze so zusammenfassen: Ausgangspunkt ist eine kleinere Arbeit Alberts, die meines Wissens in der Sekundärliteratur kaum Beachtung gefunden hat. Es handelt sich dabei um den Aufsatz >Der Sinn des Lebens ohne Gott< in der von Norbert Hoerster edierten Sammlung zur Religionskritik im Reclam-Verlag, 1984 (S. 119-128). Einige Thesen dieses Aufsatzes sollen hier weiter ausgearbeitet werden.

Albert diskutiert darin jenes Argument, das im gegenwärtigen Diskurs zur religiösen Frage von Gläubigen wohl am häufigsten vorgebracht wird, das Argument nämlich, dass es >keinen Sinn im Leben ohne Gott< gäbe. Präziser formuliert lautet die gegenwärtige Zauberwaffe in der Auseinandersetzung von Gläubigen mit Skeptikern und Ungläubigen so: Das menschliche Leben ist "in einen kosmischen Sinnzusammenhang eingebettet, der durch den göttlichen Willen gestiftet ist. Dieser göttliche Wille weist den Menschen ... eine Aufgabe zu, an der sie sich bewähren können. Wer sich dem Willen Gottes unterwirft, der darf ... darauf hoffen, dass ihm nach seinem Tode die ewige Seligkeit zuteil wird." (Albert, S. 121f.)

Erst dadurch, dass das individuelle Leben seinen Ort im göttlichen Heilsplan einnimmt und der Einzelne sein Tun auf göttliche Gebote ausrichtet (>DEIN Wille geschehe!<), bekommt – so das Argument – das menschliche Dasein erst seinen Sinn. Wer die ihm zugewiesene Rolle im göttlichen Geschehen gut spielt, wer sein diesseitiges Leben nach dem Heilsplan Gottes gestaltet, der darf nach dem Tod auf himmlische Seligkeit hoffen.

Was ist nun von diesem weit verbreiteten Argument zu halten? Aufgrund der folgenden Einwände erscheint es als wenig plausibel.

 

Einwand 1 (Existenz Gottes)

Das theistische Argument setzt zunächst voraus, dass EIN Gott mit bestimmten Eigenschaften existiert. Ganze Waggonladungen voll Bücher wurden geschrieben, um diese Denkmöglichkeit als wahr auszuzeichnen, also die besagte Behauptung als rational zu rechtfertigen. Doch alle derartigen Versuche sind misslungen. Das klingt anmaßend, aber für die Richtigkeit dieser These gibt es keinen besseren Hinweis als diesen:

Die allermeisten modernen Theologen haben, als Verteidiger des Monotheismus, die Suche nach einem Beweis der Existenz Gottes längst aufgegeben. Sie sprechen nur noch davon, dass man an die Existenz Gottes glauben müsse: SEIN Sein sei keine Wissenstatsache, sondern eine Glaubenswahrheit!

Während Thomas von Aquin, zur Zeit der Hochblüte des Christentums, noch behauptet hatte, dass man an Gott glauben und von ihm wissen könne, opfern moderne Theologen – vor dem Hintergrund skeptischer Einwände seit Jahrhunderten – den Wissensanspruch am Altar des reinen, (vom Verstand unbefleckten) Glaubens. Sie vertreten, wie Albert dies nennt (siehe dazu etwa sein Buch Kritischer Rationalismus. UTB 2000), die Idee einer >reinen Religion<, ohne sich im Klaren zu sein, dass auch dieser Position fundamentale Schwierigkeiten eigen sind.

Denn unweigerlich stellt sich die Frage: Warum sollte gerade an den traditionellen Monotheismus geglaubt werden? Warum sollte es nur einen Schöpfer Himmels und der Erde geben und nicht zwei oder fünf Göttinnen, wobei einige für das Gute und andere für das Schlechte verantwortlich sind? Warum sollte dieser eine Gott auch noch barmherzig sein und sollte, so wie die Welt nun einmal beschaffen ist, die Annahme der Existenz eines bösen Dämons nicht ungleich überzeugender sein?

Nur die gerade von Gläubigen so viel geschmähte Vernunft kann aus der Fülle möglicher Glaubensinhalte eine begründete Antwort etwa zugunsten des klassischen Eingottglaubens treffen. Aber in diesem Punkt, nämlich mit Hinblick auf die Existenz (und Beschaffenheit) einer erfahrungsunabhängigen Erstursache, schweigt die Vernunft.

Wie zumindest seit David Hume und Immanuel Kant bekannt ist, misslingen alle rationalen Versuche einer Rechtfertigung des Monotheismus. Der menschliche Geist verstrickt sich hier, also bei Aussagen über Erstursachen, in Absurditäten und Widersprüche und vermag nichts Begründetes zu erkennen.

An einem Beispiel sei dies kurz erläutert: Ausgangspunkt sei einer der drei klassischen Gottesbeweise, nämlich das besonders interessante kosmologische Argument. In seiner einfachsten Form besteht es aus den folgenden Behauptungen und Schlüssen:

 

(a) Alles hat eine Ursache;
(b) also muss es einen Verursacher, eine erste Ursache geben.
(c) Diese Erstursache ist Gott.

      Also existiert Gott.

 

Problematisch an diesem Gottesbeweis ist bereits der Übergang von (a) zu (b). Denn es lässt sich begründeterweise fragen, was denn eigentlich Gott verursacht hat. Wird nun – wie üblich – behauptet, dass zwar alles in der Welt verursacht, aber Gott unverursacht oder ewig sei, so stellt sich die Frage, warum nicht gleich die Materie als >ewig< bezeichnet werden kann.

Wenn >Ewigkeit< ein sinnvoller Begriff ist, so könnte bereits der Materie – und nicht erst Gott – diese Eigenschaft zugesprochen werden. Auf die Annahme eines ewigen Geistes könnte auf diese Weise verzichtet werden, was ontologisch sparsamer wäre, d.h. das Gleiche ließe sich mit weniger Voraussetzungen erklären. Zudem entginge man dadurch der Schwierigkeit, erklären zu müssen, warum der unendliche Geist die endliche Materie geschaffen hat – aus Langeweile etwa, wie manchmal vermutet wird? Aber kann einem reinen, unwandelbaren Geist langweilig sein, was zumindest ein Zeitbewusstsein voraussetzt? Aber ist nicht auch die Zeit erst mit der Materie entstanden? Und wenn Gott doch nicht langweilig gewesen sein sollte, wie kann der Unwandelbare dann zunächst Nicht-Schöpfer und dann Schöpfer sein?

Vor dem Hintergrund bereits dieser Schwierigkeiten ist die Annahme einer ewigen Materie weitaus plausibler. Zudem kennen wir nur einen Geist im Zusammenhang mit Materie. Einen entkörperlichten Geist, wie es Gott ja sein soll, haben wir noch nie wahrgenommen. Das Konzept eines ewigen, unverursachten Geistes ist also überaus rätselhaft, jedenfalls noch viel rätselhafter als das der ewigen Materie.

Der Glaube an die Existenz eines Gottes ist, wie auch an den übrigen Gottesbeweisen gezeigt werden kann, somit keine Vernunftwahrheit, sondern unbegründet und schlicht willkürlich.

Aber Theologen vertreten unbeirrt weiterhin die Meinung, dass bezüglich des Ursprungs alles Seins mehr als nur Beliebiges ausgesagt werden könne. Sie geben weiterhin Antworten auf Fragen, die nur wenige gefragt haben und noch niemand beantworten konnte. Während Priester und Theologen also hier – zumeist unter dem Deckmantel von >Objektivität< – munter ihrem Wunschdenken frönen und Mögliches (bestenfalls!) als wahr ausgeben, kehren sie in Bezug auf empirisch Wahrscheinliches – etwa die Evolution von Körper und Geist – oftmals den tiefsinnigen und gedankenschweren Skeptiker hervor. Aber in Wahrheit sind sie mit ihrer Gotteslehre in einer ausweglosen Lage gefangen:

Um aus der Menge an möglichen Glaubensinhalten jene herauszufiltern, die am besten begründet ist, müsste die Vernunft bemüht werden. Aber bezüglich der Existenz und Beschaffenheit von Erstursachen schweigt sie. Doch anstatt die ganze theistische Weltanschauung als unbegründbar aufzugeben und sich eine Arbeit zu suchen, die empirisch überprüfbar ist, bemühen Theologen erneut den reinen Glauben, der aber nicht imstande ist, eine der vielen Möglichkeiten als wahr auszuzeichnen.

Weder die Vernunft noch der Glaube vermag das Problem der Existenz Gottes zu lösen. Es sollte deshalb nicht überraschen, dass Theisten im Laufe der Geschichte praktisch an alles glaubten. Aber ein bestimmter Glaube oder eine feste Überzeugung beweisen noch keine Wahrheit. Man müsste vielmehr zeigen, dass man mit Recht, mit guten Gründen, so überzeugt ist wie man es ist; aber eine derartige Begründung ist bezüglich der Existenz und Beschaffenheit von Erstursachen unmöglich.

Allein schon ob dieser Willkür sind alle Versuche, den Sinn des Lebens von einem Gott abhängig zu machen, sehr problematisch.


Einwand 2 (Theodizee)

Das theistische Sinnargument nimmt nicht nur die Existenz Gottes an, sondern setzt zudem voraus, dass der göttliche Heilsplan >gut< und >gerecht< ist. Diese Behauptung wird üblicherweise damit gestützt, dass der göttliche Planer selbst gut und gerecht sei. ER werde, so heißt es, am Jüngsten Tag für alle auf Erden begangenen Taten belohnen und bestrafen, also im Jenseits ausgleichende Gerechtigkeit üben.

Was ist nun von der Behauptung der Güte und Gerechtigkeit Gottes zu halten? Bei diesem positiven Gottesbild taucht unweigerlich das Problem der Theodizee auf, also die Frage, wie Gottes Güte verträglich sein sollte mit den Übeln der von IHM geschaffenen Welt. Wie kann der angebliche Schöpfer Himmels und der Erde, also der mächtige Erschaffer von Milliarden Sonnensystemen, wenn er auch noch gut und gerecht ist, etwa Vernichtungslager mit Monstern in Menschengestalt zulassen? Denn jedes menschliche Wesen, sofern es gerecht oder sogar gütig ist, würde – wenn es auch noch die Macht dazu besäße -, einem solchen Treiben sofort Einhalt gebieten.

Gewiss keine Waggonladungen, aber doch ganze Schubläden voll Bücher wurden geschrieben, um Gottes Wohlwollen in Einklang zu bringen mit den irdischen Leiden. Dieses Bemühen ist durchaus verständlich, denn nur zu einem Wesen, das gut und gerecht ist, kann man ernsthaft eine Vertrauensbeziehung aufbauen; nur ein solches Wesen ist der Garant für Moralität; und nur dann, wenn Gott auch gut und gerercht ist, macht die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits Sinn.

Doch auch hier waren alle theologischen Versuche erfolglos; das Theodizeeproblem blieb ungelöst. Der bekannteste Lösungsversuch, nämlich alle Übel der Welt – etwa Erdbeben oder Ungeziefer – auf die menschliche Willensfreiheit zurückzuführen, setzt zunächst einmal die Klärung der Frage voraus, ob menschliche Freiheit ihren gelegentlichen Missbrauch notwendigerweise einschließt oder nicht. Müssen Menschen, um überhaupt frei – und nicht bloß Automat – zu sein, das Böse gelegentlich wählen oder ist dies nicht nötig?

Wird die Frage bejaht, so stellt sich die weitere Frage, warum dann die ersten Menschen (und mit ihnen alle anderen kollektiv) bestraft werden, hatten sie doch nur das ihnen von Gott geschenkte überragende Gut der Freiheit realisiert? Wird die Frage hingegen verneint, wird also behauptet, dass menschliche Freiheit ihren gelegentlichen Missbrauch nicht notwendigerweise einschließt – und in der klassischen Theologie wird die Existenz von Wesen behauptet, die in Freiheit stets das Gute tun, nämlich die guten Engel – ... wenn also menschliche Freiheit ihren gelegentlichen Missbrauch nicht notwendigerweise einschließt, dann taucht die Frage auf, warum Menschen ihre Freiheit so oft missbraucht haben und missbrauchen.

Die einzige plausible Antwort darauf ist diese: Offensichtlich sind die Menschen und die Umstände, in denen sie leben, schlecht geschaffen, und die Schuld fällt wiederum auf denjenigen zurück, der die Welt angeblich aus dem Nichts gemacht hat, und das ist Gott.

Woher, wenn nicht vom Schöpfer Himmels und der Erde, sollte auch die behauptete Verderbtheit der Menschennatur stammen? Woher der Wunsch des Menschen, so zu sein wie Gott? Und warum wird weiterhin gepredigt, dass das Negative ursprünglich im göttlichen Schöpfungsplan gar nicht vorgesehen war, sondern erst durch die Verfehlungen der ersten Menschen – der Tod ist der Sünde Sold – in die Welt kam?

Aber wenn man der Wissenschaft glauben darf, dann gab es den Tod schon geraume Zeit, ehe es >Sünder< gab und die ersten Menschen das Schlachtfeld betraten; also kann schon deshalb der biblische Schöpfungsbericht nicht richtig sein.

Der menschenverachtende priesterliche Versuch, durch die Konzeption einer Willensfreiheit den Allmächtigen zu ent- und den Menschen zu belasten, misslingt jedoch. Gottes Güte bleibt ungerechtfertigt, und Paulus und seine Anhänger entpuppen sich als Trojanische Pferde, die die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verderbtheit der Menschennatur in die Welt schmuggeln, um vor diesem Hintergrund die Heilstat Jesu, des >zweiten Adams<, des >Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünden der Welt<, als einleuchtend und voll Hoffnung verkaufen zu können. (Wegen dieser Sündenvergebung als Belohnung dafür, dass die Geschichten über Jesus für wahr gehalten werden – Der Auferstandene ist nur den Seinen erschienen! – … wegen dieser Sündenvergebung also dürfte das Christentum vor allem für das Gesindel attraktiv gewesen sein. Siehe dazu die grandiose und zugleich beklemmende Darstellung von K. Deschner, Die Kriminalgeschichte des Christentums. Reinbek 1986ff. Das Drama um Jesus, die angebliche >Frohbotschaft<, ist bar jeder Vernunft: Durch den gewaltsamen Tod Jesu wird den Menschen der Weg zum ewigen Leben frei: >Der Sohn zeigt den Weg zum Vater, der gerechte Gott ist versöhnt durch den Tod des liebenden<. Aber das heißt im Klartext: Zuerst werden die Menschen verdammt, weil sie ein vergleichsweise kleines Gebot übertreten haben. Viel plausibler wäre es gewesen, wenn der Barmherzige den Menschen einfach verziehen hätte. Aber dann ist er doch versöhnt und sind die Menschen prinzipiell gerettet, nachdem sie das Schlimmste getan haben, nämlich IHN, den Schöpfer Himmels und der Erde, verkannt, gefoltert und an das Kreuz genagelt haben. Ein Gott, der erst dann mit seinen Untertanen versöhnt ist, nachdem diese ihn zu Tode gefoltert haben. Wer – außer Paulus und einigen Psychoanalytikern – mag das verstehen?)

Römer warfen den Christen odium humanis generis vor, also >Hass auf das ganze Menschengeschlecht<. Das ist zunächst unverständlich, aber wenn man an die Ursündenlehre denkt, der zufolge die Menschen am Negativen in der Welt schuld seien, so ist das Urteil der heidnischen Römer nachvollziehbar.

Dass Jesus als der Sohn Gottes für die Sünden der Menschen gestorben sein soll, ist – von der inneren Unlogik einmal abgesehen – noch aus einem anderen Grund wenig überzeugend. Denn es gibt eine plausiblere Alternative: Jesus war gestorben, weil er die Untersten gegen die Hierarchie – die letzte Macht, die das jüdische Volk in Zeiten der Besatzung noch besaß – aufwiegelte – Natterngezücht! – und für sein höchst problematisches Tun auch noch göttliche Autorität beanspruchte. Dieser Anspruch Jesu, nämlich die Gottesherrschaft, wurde (und wird) von Juden im Namen Gottes als Gotteslästerung abgelehnt. Für sie – sehr gute Kenner des Alten Testaments! – ist Jesus, evangelisch gesprochen, nichts anderes als ein Pharisäer. Denn die in der heiligen Schrift verheißenen Attribute des Messias treffen auf ihn nicht zu. Aber vielleicht ist alles noch viel einfacher, und ist Jesus in Gethsemane deshalb nicht geflohen, weil er sich schon die ganze Zeit über schuldig fühlte, waren doch seinetwegen so viele Kleinkinder umgebracht worden.

Es wäre überaus hilfreich, wenn es neben den Schriften der Evangelisten – durch und durch interessierte Parteien – noch andere Berichte über die Geschehnisse vor 2000 Jahren gäbe. So bleibt tiefe Skepsis angebracht, wie wir ja auch zurecht äußerst misstrauisch wären, wenn wir von Adolf Hitler nur aus dem Bericht eines glühenden Nationalsozialisten wüssten. Wir wären selbst dann extrem zurückhaltend, wenn der Jubelbericht nicht 2000 Jahre alt wäre und keinen Widerspruch enthielte von der Art wie dieser: "Gehet nicht auf der Heiden Straßen …, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel … Ich bin nur zu den verlorenen Schafen Israels geschickt worden", heißt es hier (Mt 10,5f.) Und: "Darum geht zu allen Völkern und macht alle Völker zu meinen Jüngern", heiß es dort (Mt 28,19), übrigens im gleichen Evangelium.–

 

Mit der menschlichen Willensfreiheit lässt sich das Theodizeeproblem also nicht lösen. Aber vielleicht gelingt dies: Eine zweite, immer wieder vorgebrachte Lösung ist der Schluss, dass es zwar im Diesseits keinesfalls gerecht zuginge (den Guten gehe es oft schlecht und den Schlechten oft gut), dass uns dafür aber ein gerechtes Jenseits erwarte: >Dort werde Gott für alles erlittene Leid und Unrecht Gerechtigkeit üben<.

Dieser Schluss erinnert jedoch an Folgendes: Man erhält eine Kiste voll Eier, öffnet sie und sieht, dass die oberste Lage weitgehend verdorben ist. Daraus schließt man dann – wenn man nur lange genug theologische Bücher studiert hat –, dass deshalb, weil die oberste Lage von Eiern verdorben ist, die übrigen vorzüglich sein werden. Viel überzeugender wäre jedoch folgender Schluss: Weil die oberste Lage Eier stinkt, ist die Erwartung, dass die ganze Kiste verdorben sein wird, plausibler als die Erwartung, dass sie es nicht sein wird.

Wir haben bessere Gründe für die Annahme, dass ein Gott, der sich im Diesseits nicht als gerecht offenbart, es auch anderswo nicht sein wird. Weil Gott im Diesseits nicht gerecht ist, sollte man ihn überhaupt nicht gerecht nennen; und die Vorstellung einer >ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits<, also die Idee künftiger Belohnungen und Bestrafungen für diesseitiges Verhalten, aufgeben. Auch hier befinden sich Theisten in einer ausweglosen Lage: Weil das Diesseits nicht gerecht ist, wird eine ausgleichende Gerechtigkeit, ein gerechtes Jenseits behauptet. Aber weil das Diesseits nicht gerecht ist, wird die Vorstellung eines gerechten Jenseits unplausibel. Warum sollte das Höchste Wesen dort gerecht sein, wenn er es hier nicht ist?

Weil somit weder die Behauptung der Existenz Gottes noch Seine Güte und Barmherzigkeit gerechtfertigt werden können (auch bezüglich der göttlichen Attribute sprechen moderne Theologen nur noch von Glaubenswahrheiten), sollten wir auch den angeblichen göttlichen Heilsplan nicht >gut< nennen. Es ist deshalb auch nicht positiv, den eigenen Willen vor dem Hintergrund angeblich göttlicher Forderungen aufzugeben, den eigenen Willen gleichsam >Gott zu überantworten<.

Moralität, die für ein gedeihliches Zusammenleben natürlich unbedingt erforderlich ist, muss anders als mit dem Hinweis auf den göttlichen Willen und göttliche Gebote gerechtfertigt werden. In der >Aufgabe< des eigenen Willens angesichts angeblich göttlicher Forderungen gar den Sinn des Lebens zu sehen, ist somit – vorsichtig formuliert – etwas voreilig. (Zum Theodizeeproblem siehe mein Buch Gottes Güte und die Übel der Welt. Tübingen 1992.)

 

Einwand 3 (Seele)

Die theistische Position in der Sinnfrage setzt des weiteren voraus, dass es eine menschliche Seele gibt – also ein Etwas, das unsterblich ist und empfinden kann, da es das Objekt künftiger Belohnungen und Bestrafungen sein wird. Der Seele werde einmal entweder ewige Seligkeit, also höchst Angenehmes, oder ewige Verdammnis, also höchst Unangenehmes, zuteil werden.

Die Hölle ist dabei ein äußerst bedauernswerter Zustand, den die christliche Nächstenliebe weitaus detaillierter als den Himmel geschildert hat. Was sich in der Hölle einmal abspielen werde, hat die religiöse Phantasie ziemlich klar ausgemacht – Heulen und Zähneknirschen -, aber wodurch zeichnet sich denn der Himmel aus? Es werde, so die spärlichen Angaben, kein Leid mehr geben, auch keinen Tod, keinen Alkohol, und schon gar keinen Geschlechtsverkehr.

Glücklicherweise hat jedoch Thomas von Aquin eine plastischere Beschreibung himmlischer Freuden gegeben. Dem ersten Lehrer der heiligen Kirche zufolge werde es zu den Glückseligkeiten der Geretteten gehören, dass sie – gleichsam am freien Tag beim Schaufensterbummel – die Leiden der Verdammten in der Hölle – gleichsam im red light district – beobachten dürfen (ehe sie dann wieder kichernd und Psalmen singend auf ihre Wolke zurückkehren, wo sie inbrünstig bei Harfenklängen das >Lobet den Herrn< anstimmen).

Aber aller Heiligkeit zum Trotz: >Freude am Leid anderer< ist die klassische Definition von Sadismus; und für die meisten Menschen wäre ein solcher Himmel die reine Hölle.

Was ist nun, von Himmels- und Höllenvorstellungen einmal abgesehen, von der Konzeption einer unsterblichen und empfindenden Seele, von diesem amphibischen Wesen zwischen Dies- und Jenseits zu halten? Sehr wenig. Auch die Behauptung ihrer Existenz erweist sich als so haltbar wie ein Pudding, den man an die Wand nageln will. Denn wir haben noch kein Ding namens >Seele< wahrgenommen. Alles das, was wahrgenommen wurde, sind Gegenstände dieser Welt aufgrund verschiedener Sinneseindrücke. Doch alle diese Erfahrungen sind an einen konkreten Körper gebunden; enden dessen Funktionen, so enden auch die verschiedenen Erfahrungen. Die behauptete Existenz eines Etwas, das ohne Körper wahrnehmen und empfinden kann, also eine entkörperlichte Seele, ist somit eine sehr spekulative Annahme.

Dies ist ein weiterer Grund, weshalb es wenig vernünftig ist, künftige Belohnungen für rechtes Verhalten zu erhoffen und auf ewige Seligkeit zu bauen.

 

Einwand 4 (Moral)

Der theistischen Auffassung vom Lebenssinn zufolge gilt das Verhalten im Diesseits als Mittel zur Erlangung eines bestimmten Zwecks. Wer nämlich seine eigenen Wünsche in einem gottgefälligen Leben hintanstellt, der darf auf künftige Belohnungen hoffen; wer hingegen nicht willens dazu ist, dem drohen schwerste Strafen – sogar ewiges Leid. (Das göttliche Gerechtigkeitsempfinden entspricht offensichtlich nicht dem menschlichen, demzufolge die Strafe dem Vergehen angemessen sein sollte, und das heißt: Endliche Vergehen eines endlichen Wesens wird mit endlichen Strafen vergolten.)

Was ist nun von dieser Belohnungs- und Bestrafungsmoral, von dieser speziellen Instrumentalisierung des Diesseits zu halten? Einmal abgesehen von den bereits genannten Bedenken, taucht die Vermutung auf, dass durch dieses Schielen auf künftige Belohnung der tatsächliche moralische Wert einer Handlung überhaupt nicht erfasst wird.

Damit ist folgendes gemeint: Jemand, der in Mittel(Diesseits)- und Zweck(Jenseits)-Beziehungen denkt und noch dazu von der Sonderstellung menschlicher Interessen überzeugt ist – Ebenbilder, macht Euch die Erde untertan! –, degradiert seine Umwelt zu einem bloßen Kalkulationsobjekt. Dadurch geht der Eigenwert des Anderen verloren. So öffnet sich, um ein Beispiel aus der Ästhetik zu bringen, erst in der zwecklosen Betrachtung der Natur der Raum, wird aus >nützlichen< und >unnützen< Dingen – jenseits ihrer jeweiligen Dienstbarkeit – eine Landschaft. (Überhaupt scheint dieses theistische Denken in >Diesseits-< und >Jenseits-Kategorien auf das Phänomen der Zeit geradezu fixiert zu sein. Konsequenterweise ist der Gott der Bibel viel eher ein Herr der Geschichte denn ein Herr der Natur; der biblische Gott ist vor allem der in der Geschichte Handelnde.)

Strebt man für intellektuelle Leistungen durchaus auch nach Anerkennung, so wird der moralische Wert einer Handlung gerade dadurch zerstört, zumindest wesentlich gemindert, dass man für sein Tun – entweder hier oder im Jenseits – auch noch belohnt werden will. Strebt etwa eine Mutter nach einer Gegenleistung für das Gute, was sie ihrem Kind getan hat?

Ein moralischer Diskurs setzt voraus, dass es keinen Gott gibt, vor dessen Forderungen und Verlockungen Menschen in Kategorien von diesseitigem Verhalten und jenseitiger Belohnung denken. Erst dann kann man dem Gegenstand gerecht werden. Einmal hieß es: Durch den gewaltsamen Tod Gottes wird den Menschen der Weg zum ewigen Leben frei. Aber richtig scheint zu sein: Durch den Tod Gottes wird den Menschen erst der Weg zum Leben frei.

Angesichts einer jenseitigen Welt der leidlosen Seligkeit, eines ewigen Eiapopeia, ist es nicht unplausibel, sich um das Diesseits nicht wirklich zu kümmern, diese Welt der Übel vielmehr auszubeuten und Fremdes – unter dem Mantel der Missionierung – zu unterdrücken: "Tiere und Ungläubige sind von Natur aus dazu da, um gefangen und getötet zu werden", heißt es im meistgelesenen religiösen Buch, in Gottes angeblicher Offenbarung, verkündet vom ersten Papst (2 Petr. 2,12).

Natürlich wurden Ungläubige von Christen nicht immer einfach gefangen und getötet, aber sie wurden – wenn immer dies möglich war – ihrer Kultur beraubt. Zuerst kam, wie man es vor allem von Indianern hören kann, das Pferd und das Gewehr – und dann kam das Buch. Die christliche, die priesterliche Logik, die selten aufklärend, aber nach einem herzhaften >Grüßgott< und >Hallo< zumeist anklagend ist, lautet wie folgt: Derjenige, der im Diesseits zufrieden lebt, muss mit schwerer Schuld infiziert werden und die Zufriedenheit muss für das Jenseits aufgehoben werden. Die immanente Lebensform wird durch eine auf Transzendenz gerichtete ersetzt.

Der >Primitive< ist besiegt worden, indem schwere Schuld und Sündhaftigkeit in seine Welt geschleppt wurde. Die Missionare haben den Völkern vor allem das schlechte Gewissen gebracht; und als einen der kleinen Nebeneffekte lehrten sie sie, wie man in alten Büchern schlecht liest.

Den Armen der Erde wurde Gleichheit im Jenseits versprochen, wenn sie nur die Ungleichheit im Diesseits akzeptieren. Aus schierer Notwendigkeit ergaben sich diese zumeist der religiösen und politischen Tyrannei – in der Hoffnung auf ein glücklicheres Leben ohne Ende. >Arme aller Länder vereinigt euch!<, aber nicht hier, im Jenseits.

Die Lehre von einem künftigen, ewigen Leben hat viele Menschen daran gehindert, sich ihr diesseitiges Glück bewusst zu machen, auf die Verbesserung ihrer Institutionen, ihrer Gesetze, ihrer Moral und ihres Wissens bedacht zu sein. Das Jenseits hat ihre Aufmerksamkeit und Energien gänzlich in Anspruch genommen. Es gibt meines Wissens im Kalender keinen einzigen Heiligen, dessen gedacht würde, weil er etwas Diesseitiges, etwa die Rechtsprechung, verbessert hätte.

 

Wenn Moralität von Verständnis, Mitgefühl und sympathetischer Anteilnahme ihren Ausgang nimmt, so birgt eine theistische Moral die Gefahr in sich, dass dieses Fundament durch das Interesse am eigenen Seelenheil zerstört wird. Echtes Mitgefühl und echte Anteilnahme werden mit der Versicherung, dass die Leidenden ohnedies künftige Freuden genießen werden, von Grund auf zerstört. Moralität verliert sich hier im Eigennutz so, wie das Wasser der Flüsse sich im Wasser des Meeres verliert.

Dieser Appell an das eigene Seelenheil scheint für alle, oder doch für die allermeisten theistischen Systeme zu gelten. Der biblische Jesus, beispielsweise, hat seine Anhänger ausschließlich durch den Appell an deren Egoismus, nämlich an das eigene Seelenheil, zur Befolgung angeblich göttlicher Gesetze motiviert. Auf die berechtigte Frage: Wozu diese Gebote befolgen?, gab der Held des Christentums nur etwa folgende Antwort: Sei klug, sammle nicht Schätze im Diesseits, wo Motten sie zerfressen, sondern sammle Schätze im Himmel! Bei näherem Hinsehen entpuppt sich die viel gerühmte christliche Nächstenliebe also als Eigenliebe; die Liebesethik ist in Wahrheit eine bloße Klugheitsmoral.

Dieses Interesse am eigenen, künftigen Seelenheil zerstört nicht nur das Fundament der Moral, sondern hat oft auch noch eine leise Grausamkeit zur Folge – gegen die eigene Natur, die einen ins Diesseits zu verstricken sucht, gegen die natürlichen Neigungen anderer, gegen die Natur schlechthin. >Satan< wurde deshalb häufig derjenige genannt, der Menschen vom Interesse am Jenseits abhält. (Der Glaube an Luzifer ist seit langem im Schwinden begriffen, nicht zuletzt deshalb, weil die moderne Psychologie für diesen Glauben natürliche Erklärungen gibt. Warum sollte es für den Glauben an einen lieben Gott nicht auch ähnliche Erklärungen geben, somit auch dieser Glaube natürlichen und nicht übernatürlichen Ursprungs sein?)

Theisten, die in einer Umgebung, sofern diese unwissend ist, gegen Andersgläubige oft den Geist der Zwietracht säen (Religionskriege!), führen häufig selbst ein Leben in einer strengen Kammer. Und wenn sich die eigene Natur doch nicht unterdrücken lässt, dann leben manche dieser selbsternannten >Wächter der Tugend< im Club der roten Lichter ihre Leidenschaften unter der Decke aus: Wenn schon nicht keusch, dann wenigstens heimlich!

Wenn zumindest ein wesentlicher Teil dieser religionskritischen Argumente stichhaltig und auch nicht gänzlich unbekannt ist (es gibt einen Großteil von ihnen schon seit 250 Jahren), dann kann es Wahrheitsliebe wohl kaum sein, von der die Funktionäre theistischer Ethiken sich geleitet fühlen. Denn die Liebe zur Wahrheit erinnert immer wieder an die Vielzahl der Probleme, mit denen ein Weltbild, in dem Gott im Zentrum des Interesses steht, konfrontiert ist; bessere Argumente sprechen eher gegen die Ansprüche eines solchen Theozentrismus als dafür.

Wahrheitsliebe – und kein blinder Gehorsam, an dem noch so gute Argumente wie Wassertropfen an einer Fensterscheibe abprallen – ist aber Herzstück eines jeden moralischen Lebens. Eine derartige Liebe ist von moralisierenden Wegelagerern allerdings kaum zu erwarten.

Aber nicht nur die Wahrheitsliebe, sondern die Vernunft schlechthin ist unter Theisten kein sehr hoher Wert. Es scheint geradezu folgende Gesetzmäßigkeit zu gelten: Je stärker die Religion in einem Individuum oder in einer Kultur verankert ist, desto fester wird die Überzeugung sein, dass der Verstand unfruchtbar oder gar schädlich ist.

Die Geringschätzung der Tugend der Vernunft findet sich mit besonderer Deutlichkeit in den Briefen des Paulus, der als unheiliger Saulus Wohlgefallen an der Steinigung des Stephanus gefunden hatte. Paulus, der Begründer des Christentums, hat – wie üblich für diese Religion – eine antike Wahrheit ins Gegenteil verkehrt. In diesem Fall ist es die Wertschätzung von Wissen und Vernunft. Diese Tugenden wurden von Paulus für alle wesentlichen Dinge als unfähig, als impotent erachtet. Von nun an ist anstelle der Vernunft dasjenige zuständig, was Paulus, etwa im ersten Brief an die Korinther, wiederholt "Torheit" nennt. Diese wird glorifiziert und die "Weisheit der Weisen" und die "Weisheit der Welt" – heute würde man sagen: die Besonnenheit der Philosophen und die Einsichten der Wissenschaftler – verachtet.

Manche modernen Christen werden Paulus natürlich vehement widersprechen, doch wenn dieser mit Abscheu meint, dass "die Griechen nach Weisheit streben", er sich aber an die "Torheit" der Menschen wende, so war es diese Umwertung, die geschichtsmächtig wurde.

Denn fortan erhielten nur noch wenige Besonnene, aber sehr viele Törichte die Macht. Die paulinische Methode der Menschenfischerei hatte sich durchgesetzt. Auf allfällige Unzulänglichkeiten und die Kriminalgeschichte des Christentums angesprochen, bemühen moderne Theisten üblicherweise die verderbte Menschennatur, Gott und das Jenseits.

Kurz: Ganz im Gegensatz zur gängigen Meinung ist der Theismus eher eine Bedrohung denn eine Stütze für die Moral. Wie sollte auch etwas so Willkürliches, nämlich die Religion, etwas so Notwendigem, nämlich der Moral, Halt geben können?

 

II. Die Alternative

Die theistische Antwort auf die Sinnfrage gleicht also, bei Licht besehen, einem löchrigen Eimer, der das Wasser des Lebens nicht sehr weit zu tragen vermag. Zudem gibt es eine Alternative, der nicht der Nachteil der religiösen Konzeption eigen ist, nämlich nichts anderes als ein viel bestauntes Hochhaus auf einem schwankenden Hausboot zu sein.

Als Frage formuliert lautet diese Alternative so: Warum sollten rein am Diesseits orientierte Zwecksetzungen zu keinem hinreichend sinnvollen Leben führen können? Denn die Erreichung jedes Ziels ist mit Befriedigungen verschiedenster Art verbunden. Um dabei ein möglichst hohes Maß an Genugtuung zu erreichen, ist es klug, von sich und anderen vernünftige Ziele zu fordern. >Vernünftig< ist ein Ziel dann, wenn es eine gewisse Herausforderung darstellt, also zu seiner Erlangung die Freisetzung einer Vielzahl von Fähigkeiten benötigt, ohne Überforderung.

So wäre es ein unvernünftiges Ziel – und ein dummes Beispiel aus der Welt des Sports obendrein –, aus dem Stand zwei Meter hoch springen zu können; aber es wäre für die meisten auch ein ziemlich unvernünftiges Ziel, nur einen Zentimeter hoch zu springen. Auf vernünftige Weise könnten dem Leben immer wieder neue, rein diesseitige Ziele gesetzt werden, deren Erlangung Glückgefühle auslösen; und die Bekämpfung des Elends auf dem Planeten Erde wäre für die allermeisten unserer Anstrengungen Sinn genug.

Jenseitsgläubige sind zu einer solchen Alternative aber zumeist nur mit Widerwillen bereit. Ganz unverständlich ist diese Reaktion von ihrer Warte aus nicht, denn >es geht in Wirklichkeit doch um wichtigere Dinge<. Während viele Humanisten und Aufklärer das physische Leid bekämpfen, kreist das Neue Testament und sein Fanclub nicht primär um empirisches Leid, sondern um noch viel Schlimmeres, nämlich um ewiges Leid – und davor sollen Menschen bewahrt werden, und zwar durch adäquate Gottesfurcht, indem Gott wieder in das Zentrum des Lebens und der Angst rückt. Auf das künftige Leben müssen Menschen vorbereitet werden und vor ewigem Leid müssen sie bewahrt werden!

Zudem heißt es treffender Weise: Not lehrt beten!, also ist es im Interesse derjenigen, die aus dem Beten anderer Nutzen ziehen, wenn es den potentiell Betenden nicht ganz schlecht, aber auch nicht allzu gut geht.

 

Die Tragödie

Aber mit dem Setzen >vernünftiger< Zwecke ist noch keine Antwort gefunden, wie auf die unerreichbaren Ziele des Lebens zu reagieren wäre. Wie könnte man in einer rein am Diesseits orientierten Lebensform mit dem unentrinnbaren Schicksal – Leid, Krankheit, Tod – fertig werden? Alle unausweichlichen Zweckwidrigkeiten sind von keinem kosmischen Sinn mehr erfüllt, und es ist unmöglich geworden, daraus irgendeinen metaphysischen Sinn zu pressen. Das unausweichlich Negative muss als Teil der empirischen Wirklichkeit verstanden und akzeptiert werden.

Aber die schmerzlichen narzistischen Kränkungen sind natürlich alles andere als einfach zu ertragen, und von diesem Leid nimmt die theistische Hypothese wohl ihren Ausgang: >Ohne Leid und Tod gäbe es keine Metaphysik<, wusste spätestens schon Arthur Schopenhauer.

Aber lässt sich auch der Ursprung des Theismus nachvollziehen, so münden die damit verknüpften Hoffnungen in eine intellektuelle Sackgasse. Gegenüber dem blinden Schicksal muss daher eine haltbarere Alternative der Bewältigung, als es der Theismus ist, gefunden werden, und eine solche könnte die klassische Tragödie sein.

Der tragische Held begegnet darin, trotz weitgehend unverdienten Leids, in erhabener Weise, also mit innerer Größe, einigen der irdischen Schrecken. Und den Zuschauern des tragischen Geschehens wird bewusst, dass das größtmögliche Leid zwar auch sie bedroht, dass sie bis jetzt aber noch vergleichsweise gut davon gekommen sind; und dass sie zwar ohnmächtig, aber nicht allein sind.

Aristoteles war wahrscheinlich der erste, der die kathartische, >reinigende<, purgierende Wirkung der Tragödie abgehandelt hat. Angesichts des Leids von Ödipus, beispielsweise, sind die eigenen Alltagssorgen und Alltagsängste zumeist ein Akt der Selbstüberschätzung und der Verblendung.

Insoweit erlöst uns die Tragödie von >psychischer Verstopfung< und macht die Tragödie uns weise, indem sie immer wieder daran erinnert, dass das Schicksal in seinen unergründlichen Kapriolen im Inneren pulsiert, während wir an der Oberfläche überzeugt sind, voll Schwung und Hoffnung unsere großen Pläne schmieden zu können.

Die Alternative zur theistischen Antwort auf die Sinnfrage besteht also darin, dem individuellen Leben lösbare Ziele zu setzen und deren Grenzen annehmen zu können. Wir werden zwar immer auch Fremde auf dieser Erde sein – Menschen werden ohne ihren Willen geboren und die meisten von ihnen werden gegen ihren Willen sterben, die Geliebten zurück lassend. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben findet hier, nämlich in der Auseinandersetzung mit den titanischen Abgründen der Natur, ihren Ursprung. Aber will man nicht an willkürlichen Aussagen über die Beschaffenheit von Erstursachen ersticken, dann ist eine Alternative vonnöten, und diese findet sich in einer vernünftigen Zielsetzung – und in der Kunst.

Bei den Griechen verstand sich der Einzelne weniger in Opposition zur Natur, sondern diese wurde grundsätzlich akzeptiert und ein Großteil der eigenen Energien darauf verwendet, sich in ihren Lauf einzufügen.

Nach christlicher Lehre ist nur der Mensch telos, >Ende und Ziel< des Weltgeschehens. Alles Nicht-Menschliche ist bloßes Mittel zu diesem Zweck. Anders in der kosmozentrischen Antike: Dort erlebte der Mensch noch viel unmittelbarer die Natur nicht im Sinne der Dienstbarkeit, sondern im Sinne der Mächtigkeit. Diese >Mächtigkeit< galt es dann zu besänftigen – und zu ertragen. Diese Naturerfahrung ist wohl der Ursprung des Anthropomorphismus, also der >Vermenschlichung< der fremden Mächte, um diese mit den bei uns üblichen Kategorien beeinflussen zu können, nämlich durch Geschenke und Bitten; und für die Gebildeteren war diese Mächtigkeit der Ursprung der Tragödie.

In einer Welt ohne Gott und Jenseits wird ein erfülltes Leben im Hier und Jetzt – ohne Schielen auf ein Dort und Danach – möglich. Obwohl Jenseitsgläubige meinen, den Menschen etwas zu geben – nämlich die Hoffnung –, betrügen sie sie in Wahrheit um die Besonderheit des Daseins. Indem Gläubigen zufolge das diesseitige Leben bloß ein Durchgangsstadium, gleichsam eine Durststrecke ist, nehmen sie sich und anderen die Freude am Faktischen und das Bemühen um die Bändigung des Entsetzlichen. Anstatt beharrlich zu schweigen, üben sie sich in Ungeduld und Eifer und quetschen oft aus schlimmstem Schicksal noch einen übernatürlichen Sinn.

Auf diese Weise wird das vorhandene Leid nur noch vergrößert, und werden Mitmenschen um die Tragik des Lebens gebracht, um die Schleier der Vergänglichkeit, um die langen Schatten der Melancholie. Das Reich der Jenseitsgläubigen ist tatsächlich nicht von dieser Welt. Aber vielleicht plaudert gerade der dubiose biblische Schöpfungsbericht – ungewollt – die Wahrheit aus, dass ein Leben, in dem ein Gott sich umherschleicht, kein Paradies ist. Lieber arbeiten und Schmerz ertragen und leiden und einmal sterben, aber frei von Gott sein. Dies ist ein weiterer Grund, warum der Himmel, wenn Menschen nur nachdächten, für viele gar nicht so erstrebenswert wäre.

Einige wenige dürften dies geahnt haben: "Ich habe mir fast das Herz aus dem Leibe geweint", heißt es bei Emily Bronté in Wuthering Heights, "dass ich zurück auf die Erde kann. Und die Engel warfen ... mich zuletzt hinaus, mitten in die Heide ... Und dort erwachte ich, vor Freude schluchzend." Für Menschen, die das Leben bejahen und sich nicht in die transzendente, >wahre< Welt locken lassen, bedeutet die Wiederkehr des Gleichen im Hier und Jetzt das höchste Glück. Solche Menschen sehen sich nicht als Geschöpfe eines fernen Gottes, sondern als Produkte dieser Erde. Sie hören nicht mehr auf die Verkünder der Ewigkeit, die einmal Sirenengesänge anstimmen, dann wieder Tatzenhiebe austeilen. Nach Friedrich Nietzsche sind alle diejenigen Heiden, die Ja zum Leben sagen. Praxisfremde Menschen mit ziemlich reduzierter Sinnlichkeit sagen üblicherweise Nein zum Leben, aber diese Monotono-Theisten fühlen sich wohl in Heiligen Büros und in Bibel- bzw. Korankreisen.

Heiden besitzen ein anderes Zeitempfinden. Während Jenseitsgläubige in großen Zeiträumen denken – von Ewigkeit zu Ewigkeit, vom Anfang der Welt bis zum Jüngsten Gericht – und während speziell für Christen die Zeit linear ist – Gott stirbt nur einmal! – lebt der Heide eingebettet in den Naturzyklus. In dieser Welt des ständigen Werdens und Vergehens ist das Negative Teil des Wirklichen, des Lebendigen. Während Heiden die Natur verehren, verehren Theisten den abstrakten Schöpfer derselben.

Aber wie könnte man im Christentum zum irdischen Negativen überhaupt eine positive Beziehung entwickeln, ist man doch überzeugt, dass der liebe Gott das Negative gar nicht geplant hatte, sondern dass das Negative erst durch uns Menschen in die Welt kam? Im jüdisch-christlichen Weltbild ist das irdisch Negative nichts anderes als ein bedauerlicher, vermeidbarer Betriebsunfall.

Deshalb mussten die Missionare allen, die sich hier im Diesseits grundsätzlich wohl fühlen, eintrichtern, dass sie eigentlich schwere Sünder wären und dass sie sich hier nicht wohl fühlen könnten, wenn sie zu Gott ins Paradies kommen wollten. Das zu erreichen (und allzu häufig erreicht zu haben), ist die eigentliche Brillanz der priesterlichen Pastoral. Und das Ergebnis: Die Quelle des Lebens ist für alle, gerade auch für Jenseitsgläubige selbst, fast versiegt.

Auch Dionysos wird in der kalten Jahreszeit gemartert und schließlich getötet. Aber er schwebt nach seinem Tod in keiner Wolke gen Himmel, um schließlich zur rechten Hand Gottes thronend, die Menschen einmal richten (und sich rächen?) zu können. Dionysos kehrt vielmehr Jahr für Jahr wieder, kehrt jeden Frühling zurück auf seine Erde – und Pflanzen und Triebe sprießen. Für Menschen, die sich daran erfreuen können, wird diese Wiederkehr des Gleichen tatsächlich zum größten Glück.