Gerhard Streminger

Gottes Güte und die Übel der Welt

Das Theodizeeproblem

J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1992

Vorbemerkung: Dieses Buch handelt von der Frage, wie Gottes angebliche moralische Vollkommenheit, Seine Gerechtigkeit, Güte und Barmherzigkeit, verträglich sein könnte mit den Übeln der Welt. In der langen Geschichte des Theodizeeproblems wurden auf diese Frage die unterschiedlichsten Antworten gegeben, die Punkt für Punkt dargestellt und diskutiert werden. Ein Teil der Übel der Welt sind die menschlichen Leiden. Es waren (und sind) vor allem Dichter, die diese Übel in all ihren Schattierungen in Worte gefasst und deren mögliche Ursachen geschildert haben. Aus der reichen Fülle an Literatur zu diesem Thema wurden zwei m.E. besonders beeindruckende Beispiele ausgewählt und vielen Überlegungen meines Buches zugrunde gelegt: William Shakespeares King Lear und Emily Brontës Wuthering Heights. Die Darstellung des Inhalts dieser beiden Werke, die sich in Gottes Güte und die Übel der Welt auf den Seiten 17 – 32 findet, werden hier neu abgedruckt (wobei einige kleine Fehler und Ungenauigkeiten korrigiert wurden).

King Lear

Shakespeares Tragödie handelt von zwei Vätern, nämlich von König Lear und dem Grafen Gloucester, und von ihren fünf Kindern: Goneril, Regan, Cordelia, Edmund und Edgar. Die drei Frauen sind Töchter Lears, Edgar ist der legitime Sohn Gloucesters, Edmund dessen illegitimer. Schauplatz der Handlung sind zwei Orte: zum einen verschiedene Königsschlösser in England und zum anderen die Heide. Das Stück beginnt mit einer Liebesauktion, die einen frösteln läßt. König Lear, schon ein wenig gebrechlich geworden, faßte den Entschluß, den Besitz aufzugeben und das Königreich auf seine drei Töchter aufzuteilen. Ehe er den ihnen zustehenden Teil übergibt, fordert er sie jedoch auf, ihm ihre Liebe zu bezeugen:

»Welche von euch liebt uns nun wohl am meisten?«

Gonerils und Regans Reden sind nicht viel mehr als ein Buhlen um Besitz und Macht, aber in ihrer moralischen Qualität sind sie nicht unähnlich dem Versuch des Vaters, Menschen in einer Weise zu manipulieren, daß sie Gefühle vortäuschen, die nur in Freiheit geäußert werden können. Als Lear schließlich die eine, von der alle wissen, daß sie ihn am meisten liebt, zum Liebesbekenntnis auffordert, antwortet diese:

»Nichts, gnäd'ger Herr! «.
Der König: »Nichts?«
Cordelia: »Nichts«.

Liebe ist keine Schuld, sondern ein Geschenk. Wer Liebe fordert, macht aus ihr eine Pflicht – etwas, das sie gerade nicht ist. Die ehrlichste Antwort in dieser Zwangssituation war: >Nichts< Und Liebe ist nicht nur in ihren Äußerungen souverän, sondern sie ist auch furchtlos gegenüber möglichen Konsequenzen:

»Wozu den Schwestern Männer, wenn sie sagen,
Sie lieben Euch nur? Würd' ich je vermählt,
so folgt' dem Mann, der meinen Schwur empfing,
Halb meine Treu', halb meine Lieb' und Pflicht.
Gewiß, nie werd ich frein wie meine Schwestern,
Den Vater nur allein zu lieben.«

Eine Tochter verteidigt hier die Autonomie ihrer Wünsche gegenüber den Ansprüchen des Vaters, die in letzter Konsequenz die Zerstörung ihrer emotionalen und sexuellen Wünsche bedeuteten. Cordelias leidenschaftliches >Nichts< pocht auf das Recht auf eigene Liebe. Lear, geblendet von der funkelnden Welt bloßer Schmeicheleien, verweigert sich jedoch dieser Wahrheit und verstößt seine Lieblingstochter. Cordelia verläßt England und wird schließlich Königin von Frankreich. »Wahrheit«, so weiß der Narr, »ist ein Hund, der ins Loch muß und hinausgepeitscht wird, während Madame Schoßhündin am Fenster stehen und stinken darf. «

Aber nicht nur Cordelia ist von nun an in England ohne Zuhause, auch der König, der seinen Lebensabend bei ihr verbringen wollte (»ich hofft' auf Trost von ihrer sanften Pflege«), ist dort zum Nomaden geworden: Einen Monat will er mit seinem Gefolge bei Goneril, den jeweils darauffolgenden bei Regan verbringen. Aber diese Absprache erweist sich als unerfüllbar, da unversöhnliche Neigungen aufeinander prallen: Ungezähmt durch Zuneigung, vielmehr gesteigert noch durch lang ersehnte Machtgefühle, brechen in Goneril und Regan die dunkelsten Begierden hervor. Sie nehmen an ihrem Vater üble Rache und sind nicht bereit, ihn mit seinem Gefolge aufzunehmen. Sie wollen ihn ungeschützt, hilflos, zum Kind degradiert sehen. Lear solle ohne seine Männer kommen, er solle »zum gehorsamen Vater« werden. Der Narr:

»Gehn die Väter nackt,
So werden die Kinder blind;
Kommen sie geldbepackt,
Wie artig scheint das Kind.
Fortuna, die arge Hur'
Tut auf den Reichen nur.«

Mögen die Handlungen der zwei Töchter auch noch so verwerflich sein, völlig unverständlich sind sie nicht. Denn nicht nur hatten sie, so läßt sich zumindest vermuten, während ihrer Kindheit unter dem selbstsüchtigen Vater gelitten, sondern sie fühlen sich auch noch herausgefordert durch Lears Verhalten: Den Besitz hat er zwar aufgegeben, nicht aber das Gehabe und die Vorrechte eines Königs, die ihn für Schmeicheleien so empfänglich machen. Lear ist eigensinnig, selbstherrlich, sinnlos jähzornig, nur bei Cordelia, und dies deuten wohl die schönen Worte: >ich hofft' auf Trost von ihrer sanften Pflege< an, wäre er bereit (und imstande?) gewesen, die unvermeidliche Rückkehr zum Anfang, zur Hilflosigkeit des Kindes zu ertragen. Cordelias Liebe, und nur sie, hätte daraus keinen Akt der Demütigung gemacht.

Aber vor Goneril und Regan ist Lear zu dem Verlust an Selbständigkeit nicht bereit. Vor ihren Machtgelüsten, die vor der Vernichtung anderer, selbst des eigenen Vaters nicht zurückschrecken, sucht Lear während eines Gewittersturms, der die Bestürzung in seinem Geist widerspiegelt, in der Heide Zuflucht. Schutzlos, beim »Krachen grausen Donners«, stellt er sich dem Aufruhr und überschreitet, physisch und geistig, die Grenze zweier Welten. Hinter sich der Hof, mit seiner Etikette und dem Überfluß, den Intrigen und Machtspielen, dem unstillbaren Interesse zu wissen, »wer denn nun in, wer aus der Gunst« sei, die Welt der Schmeicheleien vor allem, in der nur Narren und Liebende die Wahrheit sagen, kurz: die Welt der Opportunisten, die ihre Hälse wie Wetterhähne nach jedem Luftzug, der von Mächtigeren ausgeht, richten ... und vor sich die Heide: Zu Shakespeares Zeiten war dieser große Teil Englands jenseits der eingezäunten Weiden und Felder noch ganz nahe. Das Gebiet der Moore und Sümpfe, wo Bären und Wölfe lebten, wo einige einsame Bauernhäuser, Schafhürden und kleine Wassermühlen standen, begann gleich hinter dem Stadtrand oder der Dorfgrenze. Wo die Heide begann, endete die Verfolgungsjagd der Dienstherrn und der Einfluß der zentralen Verfügungsgewalt. Nicht nur König Lear fand in diesem rechtlosen Raum Schutz, sondern auch: Arme, denen im Pfarrhof ein Schlafplatz verweigert worden war; Zigeuner und Landstreicher, die sich nicht dem Joch der Sklavenarbeit unterwerfen wollten; vor der Gerichten Geflohene sowie Alte, die von ihren Familien zurückgelassen oder vor die Türe gesetzt worden waren; Verrückte und Schwachsinnige, die in Erdlöchern oder auf Strohmatten hausten, wie der arme Tom o' Bedlam, der »den schwimmenden Frosch ißt, die Kröte, die Unke, den Kellermolch …, der in der Wut seines Herzens, wenn der böse Feind tobt, Kuhmist für Salat ißt, die alte Ratte verschlingt und den toten Hund, den grünen Mantel des stehenden Pfuhls trinkt, gepeitscht von Kirchspiel zu Kirchspiel und in die Eisen gesteckt, gestäupt und eingekerkert«.

Shakespeare sah in der Heide einen Ort großen Elends, wo Herrscher ihre Schlachten schlugen, wo der »böse Feind« sein Unwesen treibt, der »mit der Abendglocke kommt und umgeht bis zum ersten Hahnenschrei«, der »den Star bringt und den Schwind«, der die Augen »schielend macht und Hasenscharten schickt« und der »den Weizen verschrumpft«. Aber es war auch in der Heide, wo Macbeth die Hexen prophezeiten und dieser bei ihnen Rat suchte, und wo König Lear, bei den »Wanderern der Finsternis«, gleichsam einen Bewußtseinsprozeß durchmacht: »Dem Eigensinn wird Ungemach, das er sich selber schafft, der beste Lehrer«, weiß selbst Regan.

Dieser Lernprozeß vollzieht sich dabei in mehreren Stufen des Verlusts. Zuerst muß der König auf vertraute Mitmenschen verzichten, nur noch der Narr ist ihm geblieben. Schon nach kurzer Zeit wird er in der Einsamkeit des nächtlichen Unwetters, bei dem selbst »der Löwe und hungergrimm'ge Wolf gern trocken halten ihr Fell«, aber erstmals fähig, sich nicht bloß als König, sondern auch als mitfühlender Mensch zu erleben. Zum Narren gerichtet meint er:

»Mein Hirn beginnt zu schwindeln.
Wie geht's mein Junge?
Komm, mein Junge!
Friert dich? Mich selber friert.«

Obwohl allein aus Not geboren, ist dieses Wissen kostbar. Denn angesichts der Schrecken des Daseins ist es tröstend zu wissen, daß andere ähnlich empfinden. Lears Selbstbezogenheit schrumpft langsam und schafft Raum für Mitleid mit anderen, für eine Solidarität, die selbst unbekannte Menschen einschließt:

»Ihr armen Nackten, wo ihr immer seid,
Die ihr des tück'schen Wetters Schläge duldet,
Wie wohl eu'r schirmlos Haupt, hungernder Leib,
Der Lumpen offne Blöß' euch Schutz verleihn
Vor Stürmen, so wie die? O daran dacht' ich
zu wenig sonst!«

Erstmals wird Lear die Notwendigkeit einer - um einen modernen Ausdruck zu gebrauchen - >Verteilungsgerechtigkeit< bewußt:

»Nimm Arznei, o Pomp!
Gib preis dich, fühl einmal, was Armut fühlt,
Daß du hinschüttest für sie dein Überflüss'ges
Und rettest die Gerechtigkeit des Himmels!«

Aber dieses Mitleid ist immer noch gefiltert, immer noch wird es aus königlicher Distanz empfunden. Es ist kein Mitgefühl, das im Bewußtsein der Gleichheit aller Menschen wurzelt. Dieses Wissen erlangt Lear erst durch den Verlust seines hochmütigen Selbstbildes. Der dafür zu entrichtende Preis ist allerdings extrem hoch: Der König erlebt immer unmittelbarer den Widerspruch zwischen eben jenem Selbstbild und den innersten Wünschen und Bedürfnissen. Ohne die Nähe anderer Menschen vermag sein Geist diesen Konflikt nur kurz zu ertragen und sucht Zuflucht im Wahnsinn. Lear verliert langsam die Herrschaft über die Sprache. Was ehemals Verse waren, sind bloß noch Satzfetzen, die allerdings tiefste Wahrheiten enthalten: »Ist der Mensch nicht mehr als das? Betracht ihn recht! Du bist dem Wurm keine Seide schuldig, dem Tier kein Fell, dem Schaf keine Wolle ... du bist das Ding an sich; der natürliche Mensch ist nichts mehr als solch ein armes, nacktes ... Tier wie du. « Das Wissen um gleiche Mängel aller Menschen umarmt der König mit der Freude eines Verrückten. Enthemmt beginnt er an seinen Kleidern zu zerren.

»Fort, fort, ihr Zutaten! – Kommt, knüpft mich auf.«

Aber in einem Punkt ist Lears Eigensinn immer noch ungebrochen. Er glaubt weiterhin, daß allein ihm, dem König von Gottes Gnaden, das Privileg zukomme, Recht zu sprechen. In einem Wahnsinnsritual stellt er in der Hütte zwei Stühle, die Goneril und Regan repräsentieren, vor sich hin und hält eine Rede, in der er ihre Undankbarkeit verurteilt, ehe die eingebildete Rechtschaffenheit unter dem staunenden Blick dreier kleiner Hunde in Nichts zerrinnt:

»Die kleinen Hunde, seht,
Die guten Tiere, alle belln mich an.«

Welches Privileg sollte jemand noch besitzen, den selbst die Hunde wie einen räudigen Bettler behandeln? Lear sieht, wer er in Wahrheit ist: ein >armes, nacktes Tier< unter vielen, dem die letzten Erinnerungen, die ihm noch von seiner Rolle als König geblieben waren, entschwinden. Der ehemals erste Richter im Land vertauscht den Platz und erkennt die zynische Doppelmoral, die sich oftmals hinter dem Vorhang angeblich gerechter Urteile verbirgt:

»Horch – unter uns – den Platz gewechselt und die Hand gedreht: wer ist Richter, wer Dieb?
...
Du schuft'ger Büttel, weg die blut'ge Hand!
Was geißelst du die Hure?
Peitsch dich selbst; Dich lüstet heiß, mit ihr zu tun, wofür
Dein Arm sie stäupt. Der Wuchrer hängt den Gauner;
Zerlumptes Kleid bringt kleinen Fehl ans Licht,
Talar und Pelz birgt alles. Hüll in Gold deine Sünde,
Der starke Speer des Rechts bricht harmlos ab; –
in Lumpen – des Pygmäen Halm durchbohrt sie.«

Nicht nur Lear war gefangen in der Welt des Scheins, sondern auch andere plappern von Gerechtigkeit und rächen sich doch nur an Untergeordneten, indem sie an ihnen verurteilen, was sie in Wirklichkeit selbst gerne täten. Und damit nicht genug: Das ganze Gerede von Sünde und Schuld, die ganze jüdisch-christliche Sündenlehre tut der Realität Gewalt an.

»Kein Mensch ist sündig; keiner, sag ich, keiner. «

Um den Prozeß des Verlustes und der Demaskierung eines richtenden Königs zu vollenden, beginnt Lear an seinen Stiefeln zu zerren, und er ersucht den blinden Gloucester, ihm dabei zu helfen. Dieser hatte einen ähnlich leidvollen Weg wie sein König zu gehen. Auch Gloucester hatte die Macht, die ihm sein sozialer Status gewährte, blind gemacht. Die Machenschaften Edmunds, der sich des Besitzes bemächtigte, vermochte er nicht zu durchschauen, aber dafür verstieß er den unschuldigen Edgar; und aufgebläht vom Glauben an die eigene Wichtigkeit, bedauerte er nicht ihn, der in die Heide flüchten mußte, sondern sich selbst:

»Gegen seinen Vater, der ihn so ganz, so zärtlich liebt. «

Aber hatte auch Gloucester den wahren Charakter seiner Kinder nicht durchschaut, so war er dem König gegenüber loyal geblieben. Er wurde deshalb von den neuen Herren geblendet und mußte ebenfalls Zuflucht in der Heide suchen. Auch Gloucester wurde erst dort empfänglich für menschliches Leid:

»So ist's recht, ihr Götter!
Laßt stets den üpp'gen, wollust trunknen Mann,
Der eurer Satzung trotzt, der nicht sehen will,
Weil er nicht fühlt, schnell eure Macht empfinden.
Verteilung tilgte dann das Obermaß
Und jeder hätte genug.«

In der Heide begegnet Gloucester seinem Sohn Edgar, der sich als wahnsinniger Bettler verkleidet hat, aber er erkennt ihn nicht wieder. Seine Hilflosigkeit hatte sich zur blinden Verzweiflung gesteigert:

»Was Fliegen sind
Den müß'gen Knaben, das sind wir den Göttern;
Sie töten uns zum Spaß.«

Gloucester sehnt sich nach dem Tod und will sich von den Klippen stürzen, aber Edgar täuscht ihn und gibt bloß vor, ihn zum Abgrund zu führen:

»Kommt, Herr, hier ist der Ort. Steht still! wie graunvoll
Und schwindelnd ist's, so tief hinabzuschaun!
Die Krähn und Dohlen, die in halber Höhe flattern,
Sehn kaum wie Käfer aus – halbwegs hinab
Hängt einer, Fenchel sammelnd, schrecklich Handwerk!
Mich dünkt, er scheint nicht größer als sein Kopf.
So spiel ich nur mit dem Verzweifelnden,
um ihn zu heilen ... «

Gloucester springt ... und fällt zur Erde. Edgar gelingt es, seinen Vater zu überzeugen, daß er tatsächlich gesprungen und von den Göttern gerettet worden sei. Diese Täuschung erlöste Gloucester von den Todeswünschen. Die Phantasie vermochte den Schatz des Lebens zu rauben, als das Leben selbst dem Raub sich preisgab.

»Ich will hinfort

Und Edgar:

»Dulden muß der Mensch

Während Lear seine Verkleidungen von sich reißen mußte, um endlich um seine Natur und um das Leben zu wissen, vermochte Edgar erst durch Verkleidung, indem er in die Rolle eines anderen schlüpfte, seine wahren Möglichkeiten zu realisieren: Am Hofe bescheiden, gutmütig und ohne jedes Mißtrauen, wurde sein Charakter im Heideland gleichsam zur Persönlichkeit geformt. Seinem Vater rettete er das Leben und wegen seiner Weisheit nannte ihn Lear: »mein Philosoph«.

Die Hoffnung, alles könnte doch noch ein relativ gutes Ende nehmen, wird jedoch enttäuscht. Die Tragödie um den König Englands ist noch nicht zu Ende. Durch Spione informiert, landet Cordelia mit einem französischen Heer in Dover, um den Vater zu befreien. Aus Scham über sein ehemaliges Verhalten versteckt er sich jedoch und irrt, mit Blumen bekränzt, in der Heide umher. Das französische Heer wird geschlagen, Lear wird gefunden und mit Cordelia ins Gefängnis geworfen. Edmund gibt den Befehl, sie zu töten, und ohne Widerrede ist ein Offizier bereit dazu:

»Ich kann den Karr'n nicht ziehn noch Hafer essen

Emotionslos, so als wäre es bloß ein Stück schmutzige Arbeit, wird Frankreichs Königin ermordet. Aber wenigstens dieses Vergehen bleibt nicht ungesühnt: In einem letzten Akt physischer Anstrengung tötet Lear den Soldaten, dann stirbt er, Cordelias Gesicht nach letzten Lebenszeichen absuchend.

Lears Eitelkeit und Unwissenheit hatten eine Tragödie ausgelöst, aber am Ende ahnte er, was rechtens und was unrecht ist. Der Preis, den er dafür bezahlen mußte, war jedoch die eigene Zerstörung und die Zerstörung anderer. Denn auch die Sieger konnten sich ihres Triumphes nicht lange erfreuen: Goneril tötet, weil sie wie Regan um Edmund buhlt, aus Eifersucht ihre Schwester, Edgar fordert Edmund zum Duell und tötet ihn, Goneril richtet sich, wahrscheinlich aus Gram über Edmunds Tod, selbst.

Eines der zehn Gebote lautet >Ehret Vater und Mutter, auf dass …<. Zu Shakespeares Zeit konnte man erwarten, daß ein Stück, das von einer Eltern-Kind Beziehung handelt, auf die Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern pocht. Aber Shakespeare war unbequem: Er zeigte, welch schicksalhafte Konsequenzen sich daraus ergeben, wenn es Eltern an Einsicht und Respekt gegenüber ihren Kindern mangelt. Und die Moral von der Geschichte, in der der unselige Kreis menschlichen Leids so weit ausgeschritten wurde?

»Laßt uns, der trüben Zeit gehorchend, klagen,
Nicht, was sich ziemt, nur was wir fühlen, sagen.«

 

Wuthering Heights

Es war in der Heide, wo jener englische König, dessen Name an liar, >Lügner<, aber verkehrt gelesen, an real, >wirklich<, erinnert, sehend wurde - und an seinem Leid zerbrach. Auch Emily Brontës Wuthering Heights handelt vom Moor- und Heideland; auch in diesem Werk geht es um zwei Familien und spielt die Handlung an zwei Orten.

Mr. und Mrs. Earnshaw leben in Wuthering Heights, einem Bauernhaus in einer kleinen Senke im Heideland Yorkshires. Einige Meilen von einem größeren Ort entfernt, ist es ungeschützt den häufigen Stürmen ausgesetzt. Aber es wird von keinen Ausgestoßenen, sondern seit mehr als 300 Jahren von einer alten, allerdings verarmten Familie bewohnt. Die jetzige Generation der Earnshaws hat zwei Kinder, einen Sohn, Hindley, und eine Tochter namens Catherine. Mit ihnen lebt noch ein Waisenkind, das Mr. Earnshaw während eines Aufenthalts in Liverpool in den Straßen gesehen und nach Hause mitgebracht hatte.

Catherine entwickelte zu Heathcliff, so wurde das Kind genannt, alsbald eine enge Freundschaft, aber Hindley, der nun die Zuneigung seines Vaters teilen mußte, ist maßlos eifersüchtig auf den Eindringling. Bald nach seiner Liverpoolreise stirbt Mr. Earnshaw, und Hindley, etwa sieben Jahre älter als Heathcliff, beginnt, diesen zu tyrannisieren. Er und seine Frau degradieren ihn zum Diener, sie verhindern, daß er lesen und schreiben lernt, und sie demütigen ihn: So mußte Heathcliff fröstelnd in der Ecke stehen, während sie aßen und tranken und sich am Feuer erwärmten.

In ihrer Revolte gegen diese grausame Behandlung entdecken Catherine und Heathcliff ein tiefes und leidenschaftliches Bedürfnis füreinander. Er, der aus der untersten sozialen Schicht stammt, wendet sich immer stärker dem lebhaften, geistreichen, furchtlosen Mädchen zu, das ihm als einzige menschliche Wärme und Zuneigung geben kann. Catherine ihrerseits fühlt, daß sie, um ihre volle Menschlichkeit zu verwirklichen, sich zu ihren Gefühlen bekennen muß, und das heißt: Heathcliff in seiner Rebellion gegen die Tyrannei ihres Bruders und ihrer Schwägerin zur Seite zu stehen. Erlebten sie sich als völlig machtlos, dann schmiedeten die beiden, um ihre Schmerzen zu betäuben, gemeinsam Rachepläne.

Aus dieser Solidarität heraus erhält ihre Beziehung eine besondere Qualität. Beide wissen, daß ein Verrat dieser Beziehung einen Verrat alles dessen bedeutete, was in ihrem Leben am wertvollsten ist. Aber die Ereignisse nehmen einen unerwarteten Lauf. Catherine verbringt, nachdem sie von einem der dortigen Wachhunde gebissen worden war, einige Wochen in Thrushcross Grange, einem ansehnlichen Besitz, etwa vier Meilen von Wuthering Heights entfernt. Thrushcross Grange, das Haus, in dem die Lintons mit ihren Dienern und den beiden Kindern, Edgar und Isabella, leben, verkörpert die bequemere, die >zivilisiertere< Seite des Lebens.

Thrushcross Grange ist nicht wie Wuthering Heights von Heideland, sondern von einem Park mit einer hohen Mauer umgeben. Die Ausstattung des Hauses ist prunkvoll, das Leben verläuft ungleich ruhiger ab als oben, in den stürmischen Höhen. Catherine läßt sich von dieser äußeren Behaglichkeit blenden, und als sie nach vier Wochen nach Wuthering Heights zurückkehrt, ist sie wie verwandelt: »So kam es, daß statt einer unbändigen, hutlosen kleinen Wilden, die ins Haus gesprungen wäre, um uns alle halbtot zu drücken, ein sehr zurückhaltendes Geschöpf von einem schönen schwarzen Pony stieg: braune Ringellocken fielen unter dem Aufschlag eines hohen Federhutes herab, und sie trug einen langen Tuchmantel, den sie mit beiden Händen raffen mußte, um hereinrauschen zu können. «

Die äußere Veränderung geht mit einer inneren einher. Catherine beginnt, Heathcliffs Mangel an Kultur zu verachten: Er kann keine Konversation führen und da er den ganzen Tag arbeiten muß, liest er auch keine Bücher mehr, er bürstet sich nicht das Haar und ist oft schmutzig und mürrisch! Edgar hingegen ist nicht nur körperlich anziehend, sondern »er wird reich sein, und mir wird es Spaß machen, die vornehmste Frau der Umgebung zu sein, und ich werde stolz darauf sein, einen solchen Mann zu haben«. Aber noch weiß Catherine, daß die Entscheidung, Edgar zu heiraten, falsch wäre: »In meiner Seele und in meinem Herzen bin ich überzeugt, daß ich falsch handle.« Denn »meine ganze Vorstellung vom Leben ist Heathcliff. Wenn alle anderen zugrundegingen und er übrigbliebe, würde ich fortfahren zu sein; und wenn alle anderen blieben und er würde vernichtet, so würde sich das Weltall in etwas vollkommen Fremdes verwandeln, und ich würde nicht mehr dazugehören. Meine Liebe zu Linton ist wie das Laub im Walde: die Zeit wird sie ändern, ich bin mir dessen bewußt, wie der Winter die Bäume verändert. Meine Liebe zu Heathcliff gleicht den ewigen Felsen dort unten; sie ist eine Quelle kaum wahrnehmbarer Freuden, aber sie ist notwendig ... ich bin Heathcliffl Ich habe ihn immer, immer im Sinn, nicht zum Vergnügen, genau so wenig, wie ich mir selbst stets ein Vergnügen bin, sondern als mein eigenes Sein.«

Dennoch gibt Catherine Edgars Drängen nach. Heathcliff zu heiraten, empfindet sie nun »unter ihrer Würde«. Zwar hofft sie, irgendwie beide Männer behalten zu können, aber die Verletzung ihrer eigenen Integrität und Instinkte löst eine Trägödie aus: So wie Lear erlaubte auch Catherine, sich von der Welt des Scheins blenden zu lassen, aber während Lear sich seines Wesens zunächst gar nicht bewußt ist, glaubt Catherine, ihre innersten Bedürfnisse ignorieren zu können. Als Heathcliff erfährt, daß Catherine Edgar heiraten wird, läuft er davon und kehrt erst nach etwa drei Jahren zurück, reich und mit dem Gehabe eines Edelmannes (»der vornehmste Mann des Landes könne es sich zur Ehre anrechnen, sein Freund zu sein«).

Die Rückkehr Heathcliffs löst in Catherine den alten Konflikt von neuem aus. Zwar gibt es zwischen ihnen keine Zärtlichkeiten mehr, aber Heathcliffs Nähe genügt, um Catherine klar zu machen, wie seicht ihr Leben geworden ist. Das anfängliche Eheglück ist längst verflogen. Catherine wird immer schweigsamer, depressiver, einsamer; Edgar flüchtet sich ebenfalls in eine Depression und spielt schon bei kleinsten Unannehmlichkeiten den Kranken.

Nicht mehr Edgar, sondern Ereignisse in der Natur kommunizieren mit Catherines emotionaler Welt. Immer häufiger sucht sie die Heide auf, wo Licht und Schatten, sich bewegend mit den ständig ziehenden Wolken, sie an ihr Leben erinnern, das mit diesen Gegensätzen konfrontiert sein muß, um lebenswert zu sein. Catherine kann sich an den kleinen Tümpeln, den schiefgewehten Kiefern und den dürren Dornbüschen, »die alle ihre Arme nach einer Seite strecken, als wollten sie die Sonne um ein Almosen bitten«, nicht satt sehen. Das Leben in Thrushcross Grange vermag sie indes kaum noch zu ertragen, nur in der Heide ist sie frei von jener Verantwortung, die ihr zur Last geworden war. Eine unkontrollierbare Leidenschaft zieht sie immer wieder hinaus, in das Land jenseits der Mauer, wo der Himmel während der zahlreichen Stürme, wenn graue Wolkenbänke wie riesige Galeonen auf stürmischer See dahingleiten, furchteinflößend und für sie doch voller Pracht ist. Aber wenn Catherine, vom Sturm durchweht, zurückkehrt, bringt sie seine beunruhigende Wirkung mit nach Hause.

Wuthering Heights und Thrushcross Grange symbolisieren für Catherine zwei ganz unterschiedliche Lebensformen: das eine Gebäude, felsenähnlich, karg, in den Höhen erbaut, ist eine Bastion gegen das Wetter, aber gefährlich nahe den wilden Elementen; das andere, in einem kultivierten Tal gelegen und durch einen Park geschützt, gehört Menschen, die Bequemlichkeit höher als alles andere schätzen: Edgar und Isabella sind »verwöhnte Kinder, die sich einbilden, die Welt sei geschaffen, damit sie bequem leben können«. Von Eltern und Dienern verhätschelt und vor Eindringlingen durch Wachhunde geschützt, sind sie von natürlichen Empfindungen, von Trauer und Freude, von Leidenschaft und Aggressivität abgeschnitten. »In deinen Adern fließt Eiswasser«, sagte Catherine einmal zu Edgar, »in meinen kocht es, und der Anblick solcher Kälte macht mich rasend. «

Die Bücher, die in Wuthering Heights gelesen werden, vermögen die Lesenden zu bilden, indem sie sie mit anderen Möglichkeiten vertraut machen; in Thrushcross Grange sind sie bloß ein Mittel, um dem Alltag zu entfliehen. Dort werden keine Schoßtiere gehalten, sondern Tiere in ihren Bedürfnissen respektiert; hier kämpfen Kinder um einen Spielhund und reißen ihn beinahe entzwei. Dort ist das Leben einfach, es gibt keine Verfeinerungen, keinen Luxus, keine der vielgerühmten Errungenschaften der zivilisierten Welt, aber es gibt auch keine falschen Idole und Götzen; hier werden Menschen sich selbst zum Götzen: »Die Sanftmütigen und Großherzigen sind im Grunde selbstgerechter als die Tyrannischen. «

Die Moralität von Wuthering Heights geht davon aus, daß jedes Lebewesen weitgehend in Übereinstimmung mit seiner Natur handeln und seine Möglichkeiten verwirklichen soll; die Moralität der Lintons, weitgehend identisch mit der Moral viktorianischer Christen der damaligen Zeit, besteht darin, in Übereinstimmung mit den Forderungen anderer zu handeln. In Wuthering Heights gibt man sich äußerlich mit dem Nötigsten zufrieden und strebt innerlich nach dem Erhabensten, in Thrushcross Grange weiß man wenig von diesen inneren Werten – und giert nach Prunk und Gehabe.

Während Edgar das Drama, das sich in Catherine abspielte, kaum wahrzunehmen vermag, kann Catherine die Spannungen nicht mehr ertragen und wird langsam verrückt. Sie sind einander völlig fremd geworden: Was den einen beschäftigt, nimmt in den Gedanken des anderen keinen Raum mehr ein. Als Catherine schon die Kontrolle über sich und ihren Körper verloren hat (und sich tagelang versteckt hält), besteht Edgars erste Reaktion, als sie einander wiedersehen, in der Aufforderung, ihm zu sagen, ob sie nun ihn oder Heathcliff liebe. Das Leben wird Catherine zur Qual. »Ich wünschte, ich wäre wieder ein Mädchen, halb wild und verwegen und frei, das über Kränkungen lacht und nicht den Verstand darüber verliert. Warum bin ich so verändert? Warum braust mein Blut beim geringsten Wort in höllischem Aufruhr? Ich bin überzeugt, ich würde wieder ich selbst sein, wenn ich nur einmal in der Heide dort auf den Hügeln sein könnte ... Und wenn sie mich drei Meter tief begraben und noch die Kirche auf mich herunterstürzen, ich werde doch keine Ruhe haben, bis du [gemeint ist Heathcliff) bei mir bist. Niemals! «

Catherine hatte in stürmischen Höhen gelebt, ihr Abstieg ins Tal bedeutet ein Leugnen ihrer psychischen Kräfte und zerstört sie; entwurzelt von der ihr vertrauten Umgebung, ohne jenes Licht und jene Freiheit, die sie in Wuthering Heights erlebt hatte, siecht Catherine langsam dahin. In ihrem Delirium zupft sie einmal Federn aus dem Kopfkissen und glaubt, daß sie sich in der Heide befindet und Federn verschiedener Vögel, die ihr zugeflogen sind, in Händen hält. Einmal entdeckt sie im Spiegel ein Gesicht, aber sie erkennt es nicht als das ihre. Nelly, die Dienerin, versucht, sie zu überzeugen, daß das angsteinflößende Gesicht ihr eigenes ist: »Ich konnte sagen, was ich wollte, es gelang mir nicht, ihr begreiflich zu machen, daß es ihr eigenes war; darum stand ich auf und bedeckte den Spiegel mit einem Tuch. >Es ist immer noch dahinter<, fuhr sie unruhig fort, >und es hat sich bewegt. Wer ist das? Hoffentlich kommt es nicht heraus, wenn du fortgegangen bist. O Nelly, in diesem Zimmer spukt es! Ich habe Angst, allein zu bleiben.«

Während Edgar der Situation ratlos gegenübersteht, ist Heathcliff klar, was in Catherine vor sich geht. Zu Nelly meint er: »Du erzählst, daß ihr Geist gestört sei. Wie, zum Teufel, sollte es anders sein, in ihrer fürchterlichen Vereinsamung? Und diese abgeschmackte, erbärmliche Kreatur [gemeint ist Edgar] pflegt sie aus Pflicht und Menschlichkeit, aus Mitleid und Barmherzigkeit! Gerade so gut könnte er eine Eiche in einen Blumentopf pflanzen und erwarten, daß sie gedeiht, wie er hoffen dürfte, sie mit seiner schalen Fürsorge wieder zu Kräften zu bringen.« Heathcliff hat recht (und auch Shakespeares Cordelia hatte es natürlich gewußt), daß Liebe mehr als Pflicht und Barmherzigkeit ist.

Der Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen den beiden Lebensformen ereignet sich bei Catherines Tod. Catherine liegt im Sterben und Heathcliff taucht aus der Nacht auf. Nach den Maßstäben der Lintons ist er unbarmherzig, denn er konfrontiert sie mit der brutalen Wahrheit: »Du lehrst mich jetzt, wie grausam du gewesen bist, grausam und falsch. Warum hast du mich verschmäht? Warum hast du dein eigenes Herz verraten, Cathy? Ich habe kein Wort des Trostes. Du verdienst dein Schicksal, du hast dich selbst getötet. Wohl magst du mich küssen und weinen und mir Küsse und Tränen entlocken – sie werden dich vernichten – sie werden dich verdammen. Du hast mich geliebt: – wer gab dir dann das Recht, mich zu verlassen? Wer gab es dir – antworte mir! -, um der armseligen Zuneigung willen, die du für Linton fühltest? ... Ich habe dir nicht das Herz gebrochen, du hast es gebrochen, und damit hast du auch meines gebrochen.«

Dies ist vielleicht eine der schroffsten Szenen in der Literatur des 19. Jahrhunderts, aber sie ist auch eine der ergreifendsten; denn Heathcliffs Reaktion ist nicht sadistisch. Er weiß, daß Catherine sterben wird, aber daß es etwas gibt, das ihrem Geist Frieden geben kann: das Akzeptieren ihrer Beziehung zu ihm und damit das Akzeptieren ihrer innersten Wünsche. In Heathcliff, so hatte sie einmal gesagt, ist »mein Wesen ... noch klarer ausgeprägt als in mir selber«. Jede Bequemlichkeit wäre fehl am Platz. Eine solche Schwäche hätte beide gedemütigt, hätte ihre Form der Menschlichkeit verraten und aus ihrem Leben und Sterben eine nutzlose Verschwendung gemacht.

Kurz nach dem Treffen mit Heathcliff bringt Catherine ihre Tochter Cathy zur Welt und stirbt wenige Stunden später in völliger Ruhe. Sie wird, wie sie es gewünscht hatte, nicht in der Kapelle oder gar in der Gruft der Lintons begraben, sondern »an einem grünen Abhang in einem Winkel des Kirchhofs«, wo die Mauer so niedrig ist, daß bald »Heidekraut und Heidelbeerpflanzen vom Moor her« darüber hinwegklettern und ihr Grab in der Torferde verschwindet. Catherine hatte nur in einer möglichst natürlichen Umgebung jene Freiheit finden können, die ihr Wille fordert und die ihrer kaum zu zügelnden Selbstbezogenheit gemäß wäre (»Catherine macht sich wenig Sorgen um andere Dinge, nur um das, was sie selbst anging«). Nur gegenüber einem ähnlichen Wesen, nur in ihrer Liebe zu Heathcliff vermochte sie ihre Selbstbezogenheit aufzugeben, hatte sie Verantwortung nicht als Last empfunden. Aber in dem Augenblick, in dem sie sich von diesem Anker losband, wurden ihre Energien chaotisch.

Ähnlich Heathcliff: In Catherines Worten ist er »ein wilder, unbarmherziger, wölfischer Mensch«, aber in seiner Liebe zu ihr wurden seine destruktiven Energien geläutert, in eine kreative Richtung gelenkt. Heathcliff bedeutet >Heideklippe< oder >Heidefelsen<. Die exponierte Wildheit der unzivilisierten Natur ist der Felsen. Er vermag jenen Ort zu symbolisieren, von dem unsere Leidenschaften ihren Ausgang nehmen. Edgar verkörpert hingegen den >kultivierten< Menschen, der attraktiv ist, solange er sich nicht von seinen tieferen Leidenschaften und Gefühlen losbindet, der aber, falls er dies tut oder seine Energien schwach sind, selbstgerecht und selbstgefällig wird.

Nach Catherines Tod wurde Edgar zum Einsiedler, aber er war »zu fromm, als daß er lange tiefunglücklich sein konnte ... Die Zeit brachte ihm Entsagung und eine Schwermut, süßer als alltägliche Freuden. Er pflegte die Erinnerung an sie mit inbrünstiger, zärtlicher Liebe und dem hoffenden Verlangen nach der besseren Welt, in die sie – daran zweifelte er nicht – eingegangen war. « Ganz anders Heathcliff: Er betet nicht zu Gott, sondern zum Teufel, daß Catherine ihn bis an sein Lebensende verfolgen möge. Völlig fixiert auf diese eine große Leidenschaft, vermag er gegenüber anderen Menschen keine positiven Empfindungen mehr zu entwickeln und begegnet ihnen mit purer Verachtung. Er will in ihnen eine Abscheu vor ihm erzeugen, sein Glück ist das Unglück anderer. Heathcliff wird zum Monster, zu einem Mr Hyde, jede Demutsgebärde, jedes Mitleid anderer steigert nur noch seine Lust an Grausamkeit.

»Ich habe kein Mitleid, ich habe kein Mitleid. Je mehr die Würmer sich krümmen, desto mehr verlangt mich danach, sie zu zertreten. Es ist wie ein moralisches Zahnen: je schlimmer die Schmerzen werden, um so kräftiger beiße ich die Zähne zusammen. « Immer wieder erfindet Heathcliff neue Formen des Schreckens, neue Formen der Erniedrigung. Durch ihre Untreue zu sich selbst hat Catherine einen fürchterlichen Gewittersturm heraufbeschworen, der die Flüsse aus den Ufern treten läßt, deren Wassermassen nun überall Verwüstungen stiften. Aber selbst in seinen schrecklichsten Handlungen empfindet man noch einen Rest an Sympathie, denn Heathcliff bekämpft seine Feinde mit eben jenen Waffen, die sie gegen ihn geschmiedet hatten und die sie auch gegeneinander gebrauchen: mehr Macht durch arrangierte Heirat, mehr Macht durch die Ausbeutung anderer, mehr Macht durch mehr Geld.

So hatte Hindley, der Heathcliff hemmungslos verachtete, ihn erst dann eingeladen, in Wuthering Heights zu wohnen, als ihm zu Ohren gekommen war, daß dieser »reichlich mit Geld versehen war«. Heathcliff spielt, wenn auch ins Maßlose gesteigert, das Spiel seiner Unterdrücker, und er hat es glänzend gelernt. Alsbald kontrolliert er beide Besitzungen und Hindleys Sohn, Hareton, degradiert er zum Diener, zum Analphabeten, und findet besondere Genugtuung daran, daß der von ihm Geknechtete auch noch eine tiefe Zuneigung zu ihm empfindet.

Weil hinter dem, was er seinen Unterdrückern antut, oft noch eine rauhe Gerechtigkeit waltet, sind uns viele seiner Handlungen nicht völlig unzugänglich: Wer Gewalt sät, so heißt es, wird Gewalt ernten! Jene Kräfte, die Heathcliff um einer höheren Freiheit willen in die Rebellion trieben, halten ihn gefangen und bestimmen die Natur seiner Rache. Verglichen mit dem tragischen Schrecken von Heathcliffs Rebellion, erscheint allerdings selbst die beschränkte Welt von Thrushcross Grange als verlockender Hafen. Aber am Höhepunkt geschieht etwas, das dem Sturm ein Ende setzt: Hareton und Cathy, die beide in Wuthering Heights leben, verlieben sich ineinander.

Hareton war es gewesen, der Cathy, als sie Thrushcross Grange erstmals allein verlassen hatte, das Moor gezeigt und sie in die »Geheimnisse der Feengrotte und zwanzig anderer seltsamer Orte« eingeweiht hatte; und sie, die ihn zunächst sehr von oben herab behandelt hatte, bringt ihm die zivilisierte Welt nahe, indem sie ihn Lesen und Schreiben lehrt. Ihre Beziehung bringt Heathcliff zur Besinnung. Erstmals ist er mit Menschen konfrontiert, die in ähnlicher Weise reagieren, wie er und Catherine es getan hatten, nämlich mit Solidarität auf die Unterdrückung anderer.

>Der schreckliche Held bereut zu guter Letzt?< Nicht so Heathcliff. Er bereut gar nichts, sondern nimmt bloß mit Staunen wahr, welche Veränderung in ihm stattfindet: »Mit Hebeln und Hacken hatte ich es unternommen, die beiden Häuser zu zerstören, und habe eine wahre Herkulesarbeit dabei geleistet, und nun, da alles vollendet und die Macht in meinen Händen ist, merke ich, daß mir der Wille fehlt, auch nur einen einzigen Schiefer von ihren Dächern wegzunehmen. Meine alten Feinde haben mich nicht besiegt; jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, mich an ihren Nachkommen zu rächen. Ich könnte es tun, und niemand würde mich daran hindern. Aber was käme dabei heraus? Ich habe keine Lust mehr, zuzuschlagen; es lohnt nicht die Mühe, die Hand aufzuheben. Das klingt, als hätte ich die ganze Zeit nur auf das Ziel hingearbeitet, um jetzt eine schöne Geste des Großmuts zu machen. Das ist ganz und gar falsch; ich habe die Freude an ihrer Vernichtung verloren.«

Zwar ist Heathcliffs Zerstörungslust verflogen, aber die Kraft, sein Leben zu ändern, hat er nicht mehr, übermächtig ist seine Obsession: »Ich kann nicht auf diesen Fußboden sehen, ohne daß ihre Züge auf den Fliesen erscheinen. In jeder Wolke, jedem Baum, in der Luft, die mich nachts umgibt, in jedem Gegenstand, den mein Auge tagsüber wahrnimmt, scheint mir ihr Bild entgegenzustrahlen ... Die ganze Welt ist ein schreckliches Mahnmal dafür, daß sie gelebt hat und daß ich sie verlor!« Heathcliff vermag keine Nahrung mehr aufzunehmen und stirbt.

Obwohl so viele Menschen frühzeitig sterben, gibt es in Wuthering Heights keine Resignation der Art: >letztlich triumphiert ohnedies immer der Tod <. Im Gegenteil: Der Tod von Catherine (und mit Einschränkungen auch derjenige von Heathcliff) wird als eine Form menschlichen Triumphes geschildert, denn trotz ihrer Fehlentscheidungen sterben sie ehrlich zu sich selbst. Ihre Handlungen können nicht ungeschehen gemacht werden, aber sie sterben mit dem Wissen, was sie falsch gemacht hatten und was mit ihnen geschehen ist. Der Mut, sich dies einzugestehen, ist ihr persönlicher Triumph. In ihrer heidnischen Welt gibt es auch keine andere Belohnung als diese: gut zu leben und würdevoll zu sterben, und wenn das erste unmöglich ist, dann zumindest das zweite.

Heathcliff und Catherine sind im ursprünglichsten Sinn des Wortes Heiden. Ihre Liebe und ihre Sehnsüchte richten sich auf keinen Gott und auf kein künftiges Dasein, ihre Liebe gehört dieser Erde und ihre Zuneigung den Wesen, die darauf leben. Catherine träumte einmal, im Himmel zu sein, aber der Himmel war nicht ihre Heimat: »Ich habe mir fast das Herz aus dem Leibe geweint, daß ich wieder zurück auf die Erde käme, und die Engel waren so böse, daß sie mich zuletzt hinauswarfen, mitten in die Heide, an der höchsten Stelle von Wuthering Heights. Und dort erwachte ich, vor Freude schluchzend. « Und Heathcliff? Nachdem seine Rache verflogen war und nachdem er den Totengräber ersucht hatte, ihn neben Catherine zu begraben und die Seitenwände der Särge herauszulösen, sodaß sie im Tod vereint sein konnten, meint auf die Frage, ob beim Begräbnis ein Priester anwesend sein sollte: »Es soll kein Geistlicher dabeisein und kein Segen gesprochen werden.- Ich sage dir: ich bin beinahe in meinem Himmel angelangt, und der anderer Leute hat weder Wert für mich, noch gelüstet es mich nach ihm.«

Wuthering Heights ist kein todessüchtiger Roman, sondern es ist das Leben, das sich behauptet. Die Liebe zwischen Cathy und Hareton besänftigt Heathcliff, der zu einem menschlichen Kuckuck geworden war. Am Ende von King Lear stehen Tod, Vernichtung, Zerstörung, am Ende von Wuthering Heights steht die Zuneigung zweier junger Menschen. Einmal beobachtet ein ehemaliger Pächter, wie Cathy Hareton ein neues Wort lehrt: ».>Gegenteil<, sagte eine Stimme wie eine Silberglocke. >Und das ist das dritte Mal, du kleines Schaf! Noch einmal sage ich es dir nicht. Merke es dir, oder ich zupfe dich an den Haaren!< Also: >Gegenteil<, antwortet eine andere in tiefer, aber weicher Stimmlage. >Und nun küsse mich, weil ich es mir so schön gemerkt habe!< >Nein, erst lies es noch einmal ganz richtig durch ohne einen einzigen Fehler.< Der männliche Sprecher fing an zu lesen; es war ein gutgekleideter junger Mann, der vor einem Tisch saß und ein Buch vor sich aufgeschlagen hatte. Seine hübschen Gesichtszüge glühten vor Freude, und seine Augen wanderten ungeduldig von den bedruckten Seiten zu einer schmalen weißen Hand auf seiner Schulter, die ihn jedesmal durch einen leichten Schlag auf die Wange ermahnte, wenn ihre Eigentümerin solche Zeichen von Unaufmerksamkeit entdeckte. Sie selbst stand hinter ihm; ihre hellen, seidigen Ringellöckchen berührten manchmal seine braunen Haare, wenn sie sich niederbeugte, um seine Studien zu überwachen.«

Emily Brontë erlaubt uns hier einen kurzen Blick in den Garten Eden. Ein Jahr nach der Veröffentlichung ihres einzigen Romans ist sie nach zweimonatiger Krankheit, während der sie sich strikt weigerte, einen Arzt zu konsultieren, knapp dreißigjährig in Haworth, am Rande der Heide, gestorben.