Rezension zu:

Gerhard Streminger, David Hume. Sein Leben und sein Werk, Ferdinand Schöningh, Paderborn/MünchenlWien/Zürich 1994, 715 S., ISBN 3-506-78851-5.


Philosophisches Jahrbuch I/1997, Freiburg


Der Hume-Forscher Gerhard Streminger, der in dem vorliegenden Buch das Ergebnis einer zehnjährigen Forschungsarbeit vorstellt, vertritt die Ansicht, daß Ernest Campbell Mossners "The Life of David Hume" die Aufmerksamkeit der philosophischen Fachwelt auf den Menschen David Hume gelenkt habe, beeinträchtigt werde diese verdienstvolle Leistung allerdings durch eine ungenaue Darstellung einiger biographischer Zusammenhänge. Mossner habe "fast völlig die Probleme und Depressionen des jungen Hume" (59) übersehen und damit "ein recht einseitiges Bild" (ebd.) von dem großen schottischen Aufklärer gezeichnet.

Der Autor des vorliegenden Buches sieht es als seine Aufgabe an, die vielschichtigen Zusammenhänge des Lebens und Wirkens Humes zu verdeutlichen. Der geistesgeschichtliche und der allgemeine historische Kontext sind für Streminger wichtig. Im ersten der insgesamt 28 Kapitel beschäftigt sich der Autor eingehend mit dem historischen Hintergrund. Er beginnt mit einem Abriß der Frühgeschichte Schottlands, unterrichtet den Leser über Schottlands Isolation von England im ersten Jahrtausend und wendet sich dann Maria Stuart und John Knox sowie den Kämpfen um die "wahre" Religion zu. 1603 wurden Schottland und England durch eine Personalunion verbunden; 1707 kam die Realunion Englands mit Schottland zustande; seit 1714 (und nicht, wie auf S. 50 zu lesen ist, seit 1702) regierte in Großbritannien das Haus Hannover. Streminger geht auf die Auswirkungen des Verlusts der Eigenstaatlichkeit Schottlands ein und bietet einen Ausblick auf das Schottland des 18. Jahrhunderts. Über das England des 17./18. Jahrhunderts teilt er dem Leser wenig mit.

In den Kapiteln 2 und 3 widmet sich der Autor der Kindheit und der Jugend David Humes. Damals prägte eine unversöhnliche Spielart des Calvinismus das Leben der Menschen in Humes Heimatort Chirnside. Der junge Hume litt unter dem religiösen Fanatismus in seiner Heimat und verspürte früh den Drang, sich von den Dogmen dieses provinziellen Calvinismus zu lösen. Diese Erfahrungen bestimmten Humes Auffassung der Religion. Streminger geht ausführlich auf Humes reichhaltige Lektüre und auf die Frage nach der Einwirkung von Zeitgenossen auf die Gedankenwelt des jungen David ein. In Humes "Letter to a Physician" (1734) entdeckt Streminger den Ansatz zu einer eigenständigen Philosophie. Der Verfasser dieses Briefes sah in dem "Bemühen, den eigenen Charakter nach falschen Tugendidealen zu verformen, die Hauptursache seiner physischen und psychischen Erkrankung" (114) und erklärte, seine Analyse der Symptome und möglichen Ursachen seiner Erkrankung habe anscheinend reinigend gewirkt. Hume gelangte zu der Einsicht: Stoiker und dogmatische Christen lassen den Affekten weniger Raum, als die Affekte im menschlichen Leben einnehmen. Er lernte, sich von den willkürlichen Eingebungen der Einbildungskraft zu befreien; und er nahm sich vor, auf der Grundlage genauer Beobachtung die Kräfte der menschlichen Natur zu untersuchen.

Auf einen Bericht über Humes Ausflug ins Geschäftsleben (Bristol) folgt im 5. Kapitel eine eingehende Schilderung des ersten Frankreichaufenthalts Humes. Der junge Hume hielt sich zunächst in Paris und Reims auf, wo er schnell an französischer Lebensart Gefallen fand, aber das angenehme, gesellige Leben in der Stadt wurde ihm auf die Dauer zu teuer. Von Reims reiste er nach La Flèche (Anjou) weiter. Als er nach drei Jahren wieder nach England zurückkehrte, hatte er die Rohfassung seines "Treatise of Human Nature" fast abgeschlossen.

Mit Kapitel 6 unterbricht Streminger die biographische Darstellung. Die Kapitel 6 bis 8 (insgesamt 108 Seiten) enthalten neben einigen lehrreichen Vorbemerkungen genaue Inhaltsanalysen des dreibändigen "Treatise" und der "Essays Moral und Political". Diese Inhaltsanalysen sollen dem Leser "als erste Orientierung dienen, welche Probleme" in den Schriften "behandelt werden, zu welchen Ergebnissen der Autor kommt und welcher Methode er sich bedient" (152). Auch die Inhaltsanalysen folgender Kapitel hat Streminger in der Absicht verfaßt, dem Leser eine erste Orientierung zu bieten. Streminger stellt von vornherein klar, er könne nicht den ganzen Umfang der Humeschen Gedankenwelt abschreiten. Jedes der Themen und Probleme, die Hume zur Sprache bringe, werde in der umfangreichen Sekundärliteratur erörtert. Das Studium der Sekundärliteratur empfiehlt er dem Leser, der sich eingehend mit Humes Schriften befassen möchte.

In den Kapiteln 9 bis 11 lenkt der Autor des vorliegenden Buches die Aufmerksamkeit des Lesers auf die rasche Aufeinanderfolge von Aktivitäten und Ereignissen, die Humes Leben prägten: Humes Bewerbung um einen Lehrstuhl in Edinburgh und der Einspruch orthodoxer Kreise gegen diese Bewerbung; der Tod der Mutter, die den Entschluß ihres Sohnes, Philosoph und überdies Skeptiker zu werden, nie gebilligt hatte; Humes Tätigkeit als Hauslehrer eines kränklichen und eigensinnigen Marquis; die Teilnahme an einer militärischen Operation; die Rückkehr auf den nunmehr von seinem Bruder geführten Hof der Eltern; die Gesandtschaftsreise an die Höfe in Wien und Turin.

Die Kapitel 12 bis 14 bieten gründliche Inhaltsanalysen der "Enquiry concerning Human Understanding", der "Enquiry concerning the Principles of Morals" und der "Three Essays". Die Grundgedanken der "Political Discourses", der "History of England" und der "Four Dissertations" werden in den Kapiteln 16, 18, 19 und 21 vorgestellt.

In den Kapiteln 15, 17, 20 und 22 schildert Streminger eindrucksvoll Humes Leben in Edinburgh in den Jahren 1751 bis 1763. Humes zweite Bewerbung um eine Professur für Philosophie (Glasgow) war am Einspruch orthodoxer Kreise gescheitert. Darauf nahm der Gelehrte die schlecht bezahlte Stelle eines Bibliothekars des Juristenkollegs in Edinburgh an. In Edinburgh arbeitete Hume an seiner "History of England". Der große Skeptiker zeigte damals ein reges Interesse am Kulturleben seines Landes, er mußte aber immer wieder feststellen, daß ihm viele Türen verschlossen blieben.

Das 23. Kapitel befaßt sich ausführlich mit Humes zweitem Frankreichaufenthalt. Lord Hertford ermöglichte Hume die Übernahme eines Amts in Paris. Der Lord, der in Frankreich das Amt des Botschafters übernahm, übertrug dem schottischen Freidenker den Posten eines Privatsekretärs. Hume hatte sich schon vor seinem Eintreffen in Paris in Kreisen der philosophes einen großen Ruf erworben. Mit der Aufnahme seiner Tätigkeit als Privatsekretär erschloß er sich einen neuen Wirkungskreis. Er fand Zugang zu wichtigen Salons und erfreute sich schon nach kurzer Zeit der Gunst einflußreicher Damen und der Freundschaft bedeutender Vertreter des französischen Geisteslebens. Bei der Beschreibung der für Hume so wertvollen Beziehung zu der attraktiven Comtesse de Boufflers beweist Streminger viel Einfühlungsvermögen.

In der französischen Hauptstadt wurde Hume dank der Fürsprache seines Dienstherrn in das Amt des Botschaftssekretärs berufen. Als Lord Hertford sich bald darauf anschickte, Paris wieder zu verlassen, weil er für das Amt des Vizekönigs in Irland vorgesehen war, übernahm Hume die Aufgaben des "Charge des Affaires d'Angleterre à la Cour de France". Lord Hertford bot Hume die Stelle eines Sekretärs des irischen Vizekönigs in Dublin an; Freunde baten den schottischen Aufklärer, in Paris zu bleiben. Hume entschied sich für die Rückkehr nach England und Schottland. J.-J. Rousseau begleitete ihn auf der Rückreise nach England. Im 24. Kapitel schildert Streminger den Streit zwischen den beiden Denkern. Dabei übt der Autor des vorliegenden Buches eine moderate Kritik an Humes Verhalten, am Ende siegt aber bei Streminger die Sympathie für Hume über jedes weitere Argument.

Die Kapitel 25 bis 27 unterrichten den Leser über Humes Tätigkeit als Unterstaatssekretär im Außenministerium in London und über den eher ruhigen als arbeitsamen Lebensabend des Philosophen und Historikers in Edinburgh. In feiner und einfühlsamer Weise schildert Streminger Humes letzte Aktivitäten und Gespräche.

Der Autor des vorliegenden Buches stellt Hume zum einen als Integrationsfigur und als Freund einiger Aufklärer vor, zum anderen zeigt er aber auch, daß Hume sich mit seiner Analyse und Kritik der Religion den Angriffen der meisten Gelehrten aussetzte. Schottlands orthodoxe Kreise bezichtigten Hume, dem Skeptizismus und dem Atheismus zu huldigen; etliche philosophes meinten, der Atheismus komme in Humes Schriften nicht deutlich genug zum Ausdruck. Streminger ist davon überzeugt, daß die Frage nach der "wahren" Religion in Humes Leben eine wichtige Rolle spielte; darum nimmt die Religionskritik in diesem Buch einen großen Raum ein. Im letzten Kapitel bietet Streminger eine eingehende Inhaltsanalyse der "Dialogues concerning Natural Religion" sowie der Essays "Of Suicide" und "Of the Immortality of the Soul".

Das vorliegende Buch besticht durch eine klare Darstellung der biographischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge sowie durch eine fast überwältigende Zuneigung des Autors zu dem großen schottischen Aufklärer. Streminger beweist eine gründliche Kenntnis der Texte und der Sekundärliteratur. In seiner detailgenauen Darstellung stützt er sich auch auf neu aufgefundenes Quellenmaterial, das er im Anhang des Buches vorstellt. Souverän führt er in Humes Gedankenwelt ein. Eine eingehende Erörterung epistemologischer, moral- und religionsphilosophischer Fragen hatte sich Streminger nicht zum Ziel gesetzt.

Im Anhang findet der Leser ein Siglenverzeichnis, eine chronologische Übersicht über Humes Schriften, zwei "neue" Briefe und eine "neu" aufgefundene Rezension Humes in der deutschen Übersetzung und in der französischen Originalfassung. Ein weiterführendes Literaturverzeichnis, ein Personenregister und Bildnachweise beschließen dieses Buch, das der Verlag mit 16 Farbtafeln und 39 Schwarz-Weiß-Abbildungen ausgestattet hat.

Der Gesamteindruck des vorliegenden Buches wird ein wenig dadurch beeinträchtigt, daß einige Teile der Darstellung zu ausführlich ausgefallen sind. Beanstanden mag mancher Leser auch, daß der Autor in seinem Bemühen, zu zeigen, welche Rolle die Religion in Humes Leben und Denken spielte, gelegentlich zu sehr "ideologiekritisch" verfährt. Gleichwohl ist Stremingers Hume-Biographie ein wichtiges Buch für jeden, der eine verläßliche Beschreibung des Lebenswegs Humes und eine gute Einführung in die Gedankenwelt dieses großen schottischen Aufklärers sucht.

Wolfgang Farr (Maintal)