Rezension


Gerhard Streminger:

David Hume. Sein Leben und sein Werk

Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1994, 715 S.

Rezensiert von Bernd Gräfrath

Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Berlin, Nr. 2/1995

David Humes wenige Monate vor seinem Tode verfaßte Autobiographie "My Own Life" umfaßt nur wenige Seiten. Eine solch bescheidene Selbstdarstellung genügt der Nachwelt nicht, wenn es sich um einen großen Philosophen handelt. Ernest C. Mossners The Life of David Hume (Oxford 1954) schien den definitiven Schlußpunkt dieser biographischen Bemühungen erreicht zu haben. Aber immer wieder taucht neues Material auf, und schon die 2. Auflage von Mossners Buch (1980) mußte erweitert werden. Diese ist indessen nicht mehr erhältlich; und Gerhard Stremingers vergleichsweise kurze Bildmonographie Hume (Reinbek 1986) bildete nur einen unzureichenden Ersatz. Diese Lücke füllt derselbe Autor nun mit seinem Buch David Hume. Sein Leben und sein Werk, das sich nicht nur vom Umfang her mit Mossners Biographie messen kann. Streminger berücksichtigt nicht nur neu aufgetauchtes Quellenmaterial (wobei die neuesten Fundstücke dankenswerterweise im Anhang abgedruckt werden), sondern will auch Mossners Gesamteinschätzung von Humes Charakter revidieren. Darüber hinaus leistet der Autor auch philosophische Arbeit, denn er geht auf alle Werke Humes (also auch die historischen und ökonomischen Schriften) inhaltlich ein. Diese doppelte Herausforderung macht verständlich, warum dem vorliegenden Buch eine über zehnjährige Forschungsarbeit voranging. Beide Teile müssen separat besprochen werden.

Streminger setzt sich selbst von seinem biographischen Vorgänger ab: "So ist Mossners Darstellung häufig ungenau und enthält zudem keinen einzigen originellen philosophischen Gedanken. Vor allem wird ein recht einseitiges Bild von David Hume gezeichnet, denn Mossner übersieht fast völlig die Probleme und Depressionen des jungen Hume." (59, Anm.) Schon in seinem ersten Satz hält Streminger ein anderes Bild entgegen: "David Hume war ein Mensch von heftigen Affekten, ruhigen Gefühlen und einem überaus kühnen Verstand." (13) Allerdings geht auch Mossner auf die "disease of the learned" des jungen Hume ein, und dessen (spätere) heftige Gefühlsausbrüche in der Liebesbeziehung mit der Comtesse de Boufflers werden von ihm ebenfalls nicht vernachlässigt. Aber Streminger behandelt noch ausführlicher als Mossner alle Aspekte des vielfältigen Lebens Humes, der ja nicht nur ein Philosoph war (wobei er nicht einmal die angestrebte Professur erhielt), sondern u. a. auch im diplomatischen Dienst durch Europa reiste. An einer Stelle bedauert Stremringer, daß Hume "keinen Boswell hatte". (604) Das vorliegende Werk kommt in seiner umfassenden und detaillierten Darstellung von Humes Leben diesem Vorbild, nämlich James Boswells Life of Samuel Johnson, allerdings so nahe, wie dies ohne direkten persönlichen Kontakt überhaupt möglich ist. Darüber hinaus vernachlässigt Streminger nicht den allgemeinen historischen Kontext Nicht nur die Beschreibungen, sondern auch die zahlreichen Farbtafeln und Abbildungen vermitteln ein gutes Bild der aufklärerischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, wobei Humes liebste Orte hervorstechen: Edinburgh und Paris.

Stremingers Darstellung der Werke Humes belegt seine Vertrautheit mit dem internationalen Forschungsstand und dürfte für die deutsche Leserschaft noch einige Überraschungen bereithalten. Hierzulande gilt Hume immer noch allzu oft als bloßer pyrrhonischer Skeptiker, dessen philosophische Bedeutung sich darin erschöpft, Kants dogmatischen Schlummer unterbrochen zu haben. Auch wenn Humes Treatise of Human Nature im skeptizistischen Schiffbruch zu enden scheint, ist das doch nur ein Zwischenschritt – und zwar nicht nur im historischen, sondern auch im systematischen Sinne. Schon im Treatise fordert letztlich die menschliche Natur ihr Recht, die den Philosophen in die Gesellschaft seiner Freunde zurückführt: Beim gemeinsamen Essen und Backgammon–Spielen bleibt für skeptizistische Spekulationen kein Raum. In seinen späteren Werken ist die Entwicklung vom "Anatomen" zum "Maler der menschlichen Natur" noch stärker zu bemerken. Es ist daher etwas irreführend, wenn Streminger dies an einer Stelle als "Wandel vom Pyrrhoneer zum Positivisten" (316) bezeichnet. Näherliegender ist – wie Streminger selbst sieht (328) – die Verwandtschaft Humes mit dem späten Wittgenstein, der in Über Gewißheit eine Theorie unbezweifelbarer Sätze entwickelt, die stark an Humes Konzept eines "natürlichen" bzw. instinktiven Glaubens erinnert. Das notorische Problem, wie sich auf diese Weise Humes Programm kohärent durchführen läßt, die Alltagsüberzeugungen zu verteidigen, dem religiösen Glauben aber die Grundlage zu entziehen. kann allerdings auch Streminger nicht lösen.

Noch größere Mißverständnisse als bezüglich seiner theoretischen sind bezüglich Humes praktischer Philosophie verbreitet: Üblicherweise wird er als Stammvater des metaethischen Emotivismus und des ethischen Utilitarismus aufgeführt. Streminger macht dagegen deutlich, wie irreführend es ist, Hume rückblickend als Vorläufer von Ayer und Bentham einzuordnen: Ein adäquates Bild setzt voraus, den eminenten Einfluß von Francis Hutcheson und Thomas Hobbes angemessen zu würdigen. Hutchesons Theorie eines "moralischen Sinns" bildet für Hume den Ausgangspunkt für eine – modern ausgedrückt – Theorie des "Standpunkts der Moral' –, die sowohl die emotiven Voraussetzungen als auch den intersubjektiven Anspruch moralischer Urteilsbildung berücksichtigt. Hobbes' Gesellschaftsvertragstheorie dient Hume ergänzend zur Begründung "künstlicher Tugenden' – (wie etwa Gerechtigkeit), die sich auf vom Menschen geschaffene Institutionen beziehen. In der modernen Spieltheorie gelten Humes Erörterungen zur Ausbildung von Konventionen schon als klassisch: selbst das berühmte "Gefangenendilemma" wird in seinen Grundzügen schon von Hume angesprochen.

Stremingers Buch ist für die Hume–Forscherin ein unentbehrliches biographisches Nachschlagewerk (wobei ein zusätzliches Sachregister oder ein stärker aufgeschlüsseltes Personenregister – wie bei Mossner – hilfreich gewesen waren). für die Philosophiestudentin eine gute Einführung in Humes Gesamtwerk und für das allgemeine Publikum ein lehrreicher Schmöker über die herausragende Figur der Schottischen Aufklärung.

Bernd Gräfrath, Essen