Rezension

Im Unterschied zu anderen Monographien zum Thema handelt es sich bei

GERHARD STREMINGER: Gottes Güte und die Übel der Welt. 442 S., Verlag J.C.B. Mohr, Tübingen 1992; ISBN 3-16-145889-3

nicht um eine historisch ordnende Aufarbeitung, sondern um eine systematische Auseinandersetzung, geordnet nach Argumentationsfiguren. Einer längeren Einleitung folgt eine Kritik der "Brückenannahmen" (50-177), dann eine der "Umgehungsversuche" (178-318), schließlich eine Auseinanderlegung "Glaube und Vernunft" (319-416). S.s. Theodizeekritik läuft hinaus auf Kritik am Gottesbild, auf Religionskritik; die Theodizeekritik ist eigentlich das Mittel, mit dem der Verf. den Theismus, an einem schwachen Punkt ansetzend, aushebeln will zugunsten einer Diesseitslehre, für die der Name des hier vielzitierten Bertrand Russell stehen mag.

Grund- und Ausgangsfrage ist: Kann überhaupt angesichts des Leidens ein gütiger Gott angenommen werden? Können Versuche gelingen, Gott – ohne Zuhilfenahme eines Dualismus – zu rechtfertigen? Gibt es vielleicht ein gerechtfertigtes Leid? Die Antwort lautet, daß Leiden dann gerechtfertigt wäre, wenn ein bestimmtes höheres Gut nicht ohne Leiden erreicht werden könnte (dazu später mehr). Doch die Fülle von ungerechtfertigtem Leid ("Übel") ist etwas anderes. Daß Schmerzen warnen sollten, ist eine Ausrede; es könnte ja schmerzlose Warnungen geben. Der Theist stehe von Anfang an in einer schwierigen Position: Er sehe die Welt wesentlich als leidvoll und müsse doch versuchen, das Leid zu rechtfertigen.

So versucht er es mit "Brückenannahmen", d.h. Annahmen, die als "Brücke" Allmacht und Güte einerseits und Leid andererseits verbinden wollen. Die erste dieser Annahmen ist die einer geordneten Natur, einer Herrschaft der Naturgesetze – aber dann ist der Schöpfergott offenbar indifferent. Auch haftet Ordnung nicht an den Gegenständen, sondern ist Zuschreibung des betrachtenden Subjekts. Die Theisten argumentieren aber auch so: Gott greift nicht ein, er bleibt verborgen; Eingriffe wären eine Einschränkung der menschlichen Freiheit – doch solche Eingriffe würden für viele Menschen erst eine Ermöglichung (es müßte "Ermöglichung" heißen und nicht "Verwirklichung", wie der Verf. 67 schreibt) von Freiheit bringen, die den meisten ja durch exzessive Freiheitsausnutzung von Mächtigeren versperrt bleibt.

Gerade moderne Theologen betonen häufig, wie der Verf. zutreffend bemerkt, das "Vertrauen" zu Gott. Ohne Lösung der Theodizeefrage könne es aber kein Vertrauen geben17 Hier setzt man, wie Leibniz und die von diesem aufgegriffenen Tradition, imgrunde voraus, daß Gott moralisch vollkommen ist. Eben das stehe aber zur Debatte; Leibniz verfange sich mithin in einer petitio principii.

Eine weitere Brückenannahme ist die vom "göttlichen Kunstwerk". Man spricht in diesem Zusammenhang von Leiden als Kontrast, empfiehlt, auf das Ganze zu sehen (so schon Descartes). Eine Gegenfrage dazu ist, was denn die Tränen eines gefolterten Kindes aufwiegen könne. (Es ist das Gegenargument, das Iwan Karamasow bei Dostojewski in der Form des Protestes gegen Gott vorträgt.) Kontrastreichtum bedeutet keine Güte, es handelt sich um Ästhetisierung. Leiden kann ferner auch kein nötiger Gegensatz zum Guten sein – da hätte Langeweile als Gegensalz genügt.

Die Brückenannahme der "sittlichen Weltordnung" besagt: Leiden ist gerechtfertigt, weil es der sittlichen Besserung dient, etwa wenn jemand dem Leidenden hilft. Aber dieser andere leidet eben doch; Hilfe ist zwar Pflicht, jedoch daß sie nötig wird, ist das Problem. – Die Brückenannahme "Der freie Mensch" setzt auf die Willensfreiheit. Daß es sie gibt, wird von S. bestritten; es scheint ihm aber Handlungsfreiheit denkbar, die ihren Mißbrauch nicht einschließt (vgl. Anm. 16). Und noch einmal betont der Verf. daß, gerade wenn Freiheit ein hoher Wert sei, sie für alle garantiert sein müßte. Ein toter Tyrann: das heißt Freiheit für viele.

S. nennt eine Reihe anderer Argumente "Umgehungsversuche", weil das Problem hier durch Modifikation der Prämissen umgangen werde. Es geht zunächst um die aus der Antike stammende "Privationslehre"; nach ihr ist das Böse nur Privation, nur Mangel an Gutem. Aber Leid wird nun einmal als real empfunden; zudem ist die Gutheit Gottes oder die Gutheit des Seins hier einfach vorausgesetzt. Außerdem führt diese Lehre in eine Aporie: wäre sie wahr, befänden sieh die vielen Menschen, die Leid als real annehmen, im Irrtum, d.h. in einem wirklichen Übel, und damit wäre die Lehre falsch. Ein weiterer Umgehungsversuch ist "Der leidende Gott". Dieser Versuch hat heute Hochkonjunktur (was die bisher besprochenen Bände bestätigen); S. geht aber weniger auf die modernen Theorien vom leidenden Gott ein als vielmehr auf die Tradition, die Leiden Jesu. Der leidende Gott werde imaginiert, um die Leiden der Welt besser ertragen zu können; jedoch Güte wird damit nicht erwiesen. (Bessere Gegenargumente finden sich in diesem Fall in den Diskussionsbänden, vgl. o). Die im weiteren von S. hier geübte Bibelkritik einschließlich der Kritik der jesuanischen Lehre hat für das Theodizeeproblem weniger Bedeutung.

Umgehungsversuch C steht unter dem Titel "Göttliche und menschliche Güte". Gemeint ist die Vorstellung, daß göttliche Güte etwas anderes ist als menschliche, daß Gottes Wege und Gedanken nicht die unseren sind. Dann aber wäre das Wort Güte sinnlos, dann wäre auch die göttliche Gerechtigkeit unvergleichbar mit der menschlichen, und der angeblich gütige Gott wäre eher als Dämon zu fassen. – Der Umgehungsversuch D verweist auf "Ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits". Doch es ist nicht einzusehen, warum eine Prüfungszeit Vorbedingung späterer Freuden sein soll (so bereits Kant). Gottes Gerechtigkeit müßte auch schon vorgängig gesichert sein, womit die Argumentation wieder in einen Zirkel gerät. Die weiteren Einwände von S. entsprechen im wesentlichen den von anderen Kritikern vorgetragene (vgl. mehrfach o.): Kann Himmelsfreude die Leiden von Anne Frank kompensieren? Und darüber hinaus: Selbst wenn ein Kind zugefügtes Leid vergißt, bleibt die frühere Ungerechtigkeit für immer eine zugefügte Ungerechtigkeit.

Aus dem weitgehend allgemein-religionskritischen Teil 4, "Glaube und Vernunft", seien die sieh auf Theodizee beziehenden Punkte hervorgehoben: Zum unbegreiflichen Gott kann es keine persönliche Beziehung geben. Vertrauen auf Gott setzt dessen Existenz voraus. Selbst wenn alles Leid gerechtfertigt wäre, bei Annahme der Existenz Gottes, folgt daraus nicht Gottes Güte, denn um Güte aussagen zu können, müßte die Lauterkeit aller Intentionen Gottes erwiesen sein; diese sind uns aber unzugänglich. Auch muß der Leidende den Leidensprozeduren in diesem Fall (gerechtfertigtes Leiden) erst zugestimmt haben. Das Vertrauen auf Gottes Güte ist also blind (341). Wie wohl die Vermutung von Gottes Bösartigkeit zu widerlegen sei (285) oder ob nicht eine Satanodizee leichter wäre als eine Theodizee: darauf etwa läuft das Werk hinaus. Doch von solchen Überspitzungen abgesehen, steht der Verf. mit seiner Kritik gar nicht allein, sondern er befindet sieh nicht selten in Gesellschaft so mancher Theologen, die in der Sache selbst ähnlich urteilen, wenngleich ohne polemische Zuspitzung. Daß die Aufforderung zu aktiver Leidminderung, die der dezidierte Atheist Streminger vorträgt (395 u.ö.), sich bei Theologen wie Ammicht-Quinn und Janßen genau so findet, dort aber als praktische Theodizee ausgegeben wird, deutet auf die Verständigungsmöglichkeit im Praktischen hin.

17 Sehr ähnlich auch der Theologe Pröpper im Diskussionsband "Worüber man nicht schweigen kann", S. 187 ff.