VON DER GÜTE GOTTES UND DIE
LEIDEN DER WELT. EIN ÜBERBLICK ÜBER DAS THEODIZEEPROBLEM*
Aus: Aufklärung und Kritik 1/2003, S. 11 ff.
I. Einleitung
Arthur Schopenhauer buchstabierte >Welt<
so: Weh, Elend, Leid, Tod, womit er nicht nur in prägnanter Form seinen
eigenen Pessimismus zusammenfaßte, sondern auch ein prophetisches
Wort sprach. Denn auf das Jahrhundert, in dem er lebte, dürfte sein
dusteres Alphabet noch weniger zugetroffen haben als auf das kommende,
mit den Erfahrungen zweier Weltkriege und den Bedrohungen, die sich wie
ein schwarzes Gewölk über uns zusammenbrauen. Brächte man
Menschen die Leiden vor Augen, die sie erwarten könnten (und die sie
teilweise noch erleiden werden), packte die allermeisten das Grauen. Diese
Welt des Verlangens, des Schmerzes, des Alterns, der Krankheit, des Todes
und der apokalyptischen Ängste soll die Schöpfung eines allmächtigen
und allgütigen Gottes sein? Viele Philosophen haben mit dieser Frage
gerungen, und es gibt wohl keinen Theologen, den dieses Problem nicht ernsthaft
bedrängt hätte, stellt es doch die Gültigkeit aller Argumente,
die für die Existenz eines sittlich vollkommenen Gottes sprechen könnten,
in fundamentaler Weise in Frage.
Das Problem der Güte und Barmherzigkeit
Gottes angesichts der Leiden der Welt kann folgendermaßen präzisiert
werden: Fraglich ist, ob die folgenden vier Behauptungen miteinander verträglich
sind, ob also jemand, der alle vier für wahr hält, sich damit
einem logischen Widerspruch aussetzt oder nicht:
-
Es gibt EINEN Gott, ein personales Höchstes
Wesen, das die Welt erschaffen hat.
-
(Dieser) Gott ist allmächtig, allgütig
und allwissend. ER ist das summum bonum [das höchste Gut].
-
Etwas, das selbst gut ist, würde etwas
anderes, das schlecht oder übel ist, nach Möglichkeit verhindern
oder eliminieren.
-
Es gibt in der Welt Leid.
Die drei großen monotheistischen
Religionen stimmen in den beiden theologischen Behauptungen, also in den
Prämissen I und II, weitgehend überein. So beginnen Muslime ihre
Gespräche mit jenen Worten, mit denen auch jede Sure im Koran beginnt,
nämlich mit der Anrufung des gütigen Gottes: >Im Namen Allahs,
des Erbarmers und Barmherzigen!< Und der große deutsche Philosoph
Leibniz war, gewiß als Ergebnis einer langen Reflexion, zur Meinung
gekommen: "Nichts ist größer als die Weisheit Gottes, nichts
gerechter als seine Urteile, nichts reiner als seine Heiligkeit und nichts
unermeßlicher als seine Güte."
Die allermeisten Vertreter des mosaischen,
des christlichen und des muslimischen Glaubens sind also überzeugt,
daß Gott über bestimmte positive Eigenschaften in vollkommenem
Maße verfügt. Mag es auch um die Wahrheit anderer Teile der
religiösen Lehre großen Streit geben, über folgende Bestimmungen
der Eigenschaften Gottes dürften sich die allermeisten Theisten problemlos
verständigen können:
Allmacht: Macht ist die Fähigkeit,
nach eigenem Gutdünken einen Zustand belassen oder verändern
zu können. Ein Wesen besitzt Macht, wenn es diese Fähigkeit hat,
und ein Wesen besitzt Allmacht (oder: >ist ein allmächtiges Wesen<),
wenn es Macht über alle Zustände, die möglich sind, hat.
>Allmacht< bedeutet zumindest, daß Gott alles das, was keinen
logischen Widerspruch enthält, schaffen oder verändern kann.
ER kann machen, daß es regnet, wenn es ihm beliebt, oder daß
die Erde zu einem Würfel wird, wenn er dies möchte. "Alle Dinge
sind möglich bei Gott", heißt es prägnant im Evangelium
(Mk 10.27).
Allwissenheit: Jemand ist allwissend,
wenn er alles weiß, was wißbar ist, kurz: was geschehen ist,
was geschieht, was geschehen wird und was geschehen könnte. Die Eigenschaft
der Allwissenheit dürfte bereits im Begriff der Allmacht enthalten
sein, denn ein Wesen, dem es an Wissen fehlt, fehlt es auch an Macht. Ist
ein Wesen hingegen allmächtig, so ist es auch allwissend.
Allgüte: Ein Wesen, das gut ist,
will und tut Dinge, die gut sind; und ein Wesen, das vollkommen gut ist,
will und tut immer nur Dinge, die gut sind. Gibt es auch erhebliche Meinungsverschiedenheiten
darüber, was überhaupt gut ist, so dürften die allermeisten
folgender Minimaldefinition, die von David Hume stammt und in seiner Untersuchung
über die Prinzipien der Moral zu finden ist, zustimmen können:
Eine Handlung ist gut, wenn sie dem Wohlwollen entspringt und dem Gemeinwohl
dient. Der Allgütige setzt nur Handlungen dieser Art.
Trotz aller Unterschiede hinsichtlich
anderer Teile der Lehre glauben also die allermeisten Theisten, daß
Jahwe bzw. Gott bzw. Allah aufgrund seiner Weisheit die beste Welt erkannt,
daß er sie aufgrund seiner Güte gewählt und daß er
sie schließlich aufgrund seiner Macht geschaffen hat.
II. Attraktivität und grundsätzliche
Schwierigkeit des traditionellen Gottesbildes
Bei der Lehre, daß es EINEN, mit
den bekannten Vollkommenheitsprädikaten ausgestatteten Gott gibt,
handelt es sich ohne Zweifel um ein durchaus interessantes, ja attraktives
Gottesbild. Denn ein solcher Gott wäre auch Garant für eine künftige
Gerechtigkeit, und die Hoffnung, daß es den Verdammten auf Erden
wenigstens im Jenseits besser ergehen möge, wird kaum jemanden völlig
kalt lassen. Zudem gilt: Wäre der Schöpfer sittlich vollkommen
und allmächtig, so könnte mit gutem Recht geschlossen werden,
daß alle Leiden der Welt gerechtfertigt wären, da hinter allem
Geschehen ein wohlwollender Plan stünde. Existierte also ein mit den
üblichen Vollkommenheitsprädikaten ausgestattetes Schöpferwesen,
so folgte daraus die Sinnhaftigkeit allen Leids, da es keine Wirklichkeit
gäbe, die der göttlichen Souveränität nicht unterworfen
wäre.
Will man also an den Vorstellungen festhalten,
daß es eine künftige ausgleichende Gerechtigkeit gibt und daß
alles Leid gerechtfertigt ist, weil sich dahinter ein weiser Plan verbirgt,
dann muß Gott selbst gütig, gerecht, mächtig, wissend und
wohlwollend sein - also gerade so, wie in den drei monotheistischen Religionen
behauptet.
Aber dieses Gottesbild, so attraktiv es
aufgrund der soeben skizzierten Konsequenzen auch sein mag, wirft zumindest
ein entscheidendes Problem auf: Mit der Wirklichkeit scheint es nicht verträglich
zu sein. Denn Menschen erleben die Welt nicht als eindeutig gut, sondern
als gegensätzlich, als ambivalent, also als eine Quelle des Schmerzes
einerseits und als eine Quelle der Freude andererseits. Mit großer
Deutlichkeit hat Hume auf diesen Umstand aufmerksam gemacht: "In steter
Ungewißheit schweben wir zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit,
Überfluß und Mangel ... Stürme und Unwetter vernichten,
was unter der Sonne gedeiht ... Der Krieg kann für eine Nation günstig
sein, die durch die Mißgunst der Jahreszeiten von einer Hungersnot
heimgesucht wird. Krankheiten und Seuchen können ein Königreich
inmitten des üppigsten Überflusses entvölkern ... Und eine
Nation, die jetzt über ihre Feinde triumphiert, muß sich vielleicht
schon bald deren erfolgreicheren Waffen unterwerfen."
Aufgrund der Attraktivität der Konzeption
eines Wesens, das alle positiven Eigenschaften in höchstem Maße
in sich vereint, haben nun zahllose Theologen und Philosophen versucht,
die entscheidende Schwierigkeit dieses Gottesbildes zu lösen; und
diese ist die Frage nach der Vereinbarkeit der angeblichen Eigenschaften
Gottes mit den faktisch vorhandenen Leiden der Welt. Zurecht sind Theisten
nicht gewillt, die Tragweite des soeben angesprochenen Problems dadurch
herabzumindern, daß sie Gottes Eigenschaften einfach einschränken.
Denn jede Einschränkung verringert die Attraktivität des Gottesbildes.
Und sollte die Vereinbarkeit der postulierten Güte und Weisheit Gottes
mit den Leiden der Welt tatsächlich gezeigt werden können, so
wäre das Gottesbild, wie es den Prämissen I (>Es gibt EINEN Gott,
ein personales Höchstes Wesen, das die Welt erschaffen hat.<) und
II (>Dieser Gott ist allmächtig, allgütig und allwissend.<)
zugrundeliegt, ohne Zweifel sogar äußerst attraktiv.
Alle Versuche nun, die Güte Gottes
angesichts der Leiden in einer von IHM abhängigen Welt zu rechtfertigen,
heißen seit Leibniz Theodizeen [von gr. theos, >Gott<, und gr.
dike, >Gerechtigkeit<]. Der Ausdruck >Theodizee< wurde von Leibniz
erstmals 1697 in einem Brief an die Königin Sophie Charlotte von Preußen
verwendet. Eine Theodizee ist also, um dies nochmals zu wiederholen,
>die Rechtfertigung der Güte Gottes angesichts des Leids in einer
von IHM abhängigen Welt<, oder in den Worten Kants: „die Vertheidigung
der höchsten Weisheit des Welturhebers gegen die Anklage, welche die
Vernunft aus dem Zweckwidrigen in der Welt gegen jene erhebt." Diese Anklage
erfolge nach Kant völlig zurecht, da der Mensch "als ein vernünftiges
Wesen berechtigt ist, alle Behauptungen, alle Lehre, welche ihm Achtung
auferlegt, zu prüfen, ehe er sich ihr unterwirft, damit diese Achtung
aufrichtig und nicht erheuchelt sei."
Sobald man an die Existenz Gottes glaubt
und diesem Glauben ein Gottesbild wie etwa das christliche zugrundelegt,
wird eine >Rechtfertigung Gottes< in der Tat unausweichlich: Denn wie
verträgt sich etwa die Lehre von der Allursächlichkeit Gottes
- „von ihm und durch ihn und für ihn sind alle Dinge"(Röm 11.36)
- mit der Existenz von Leid? Wie kann ER, der sowohl allmächtig als
auch allwissend als auch allgütig ist, sinnloses Leid geschaffen haben
oder auch nur zulassen?
Trotz gewisser Unterschiede im Detail
behaupten die meisten Gläubigen, daß eine Theodizee gelingt,
daß also gezeigt werden könne, daß die oben angeführten
Prämissen I-IV miteinander verträglich sind. Der Einfachheit
halber seien sie >Theisten< genannt, während jene, die die Vereinbarkeit
der Prämissen I-IV leugnen, >Skeptiker< heißen mögen.
Diese, also die Skeptiker, meinen, daß Theisten, wollen sie sich
keinem Widerspruch aussetzen, zumindest eine der vier Behauptungen preisgeben
müssen. Die skeptische Position hatte bereits Epikur treffend zum
Ausdruck gebracht: Ist Gott "willens, aber nicht fähig, Übel
zu verhindern? Dann ist er ohnmächtig. Ist er fähig, aber nicht
willens? Dann ist er boshaft. Ist er sowohl fähig als auch willens?
Woher kommt dann das Übel?"
Im 18.Jahrhundert, manchmal auch >Jahrhundert
der Theodizeen< genannt, nahm unter Skeptikern dieses Problem in folgender
Gestalt beinahe den Rang eines Gegenbeweises zu den klassischen Gottesbeweisen
ein:
-
Wenn der christliche Gott existiert, so weiß
er aufgrund seiner Allwissenheit um die Existenz von Übeln.
-
Aufgrund seiner Allmacht kann er sie verhindern.
-
Aus der Existenz Gottes folgt die Nicht-Existenz
von Übeln und aus der Existenz von Übeln die Nicht-Existenz Gottes.
-
Es gibt Übel. Also existiert der christliche
Gott nicht.
Obwohl der erste Anschein eher für
die skeptische Position spricht, ist nicht ohne weiteres einzusehen, ob
die Prämissen I-IV logisch miteinander verträglich sind oder
nicht. Wäre dem nicht so, dann hätten wohl kaum unzählige
Menschen zumindest seit Hiob mit dieser Frage gerungen. Sollte jedoch das
Scheitern der bisherigen Theodizeen gezeigt werden können, so spräche
dies dafür, daß es einen Gott gibt, der auch negative Eigenschaften
in sich vereint, oder daß es viele, gute und böse Götter
gibt, die um das Schicksal der Menschen ringen - oder daß die Welt
einfach das Produkt des Zufalls oder eines Gottes ist, der sich - nach
getaner Arbeit - erneut behaglich mit sich selbst beschäftigt.
Aber für jede dieser Möglichkeiten
gilt, daß die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits
und die Behauptung der Sinnhaftigkeit allen Leids aufgegeben werden müßte.
Die Meinung, die Kant zu diesem Thema hatte, geht prägnant aus dem
Titel seiner Schrift hervor: Über das Mißlingen aller philosophischen
Versuche in der Theodicee. Aber wenige Jahre später charakterisierte
Hegel seine Philosophie der Geschichte erneut als eine Theodizee, "so daß
das Übel in der Welt begriffen, der denkende Geist mit dem Bösen
versöhnt werden sollte". Nach Hegel ist es "[d]as letzte Ziel und
Interesse der Philosophie ..., den Gedanken, den Begriff mit der Wirklichkeit
zu versöhnen. Die Philosophie ist die wahrhafte Theodizee ..."
III. Gerechtfertigtes und
ungerechtfertigtes Leid
Nachdem die grundsätzliche Attraktivität
des traditionellen Gottesbildes, aber auch die entscheidende Schwierigkeit
desselben aufgezeigt wurde, soll nun die Frage beantwortet werden, wann
Leid gerechtfertigt bzw. ungerechtfertigt ist - wobei gerechtfertigtes
Leid mit der Güte Gottes vereinbar, ungerechtfertigtes Leid mit der
göttlichen Güte unvereinbar ist.
Angenommen, ein Chirurg ist mit der Frage
konfrontiert, ob er an einem Patienten eine Operation vornehmen solle oder
nicht. Wann ist die Operation, also die Erzeugung von Leid, gerechtfertigt?
Antwort: Die Operation ist dann gerechtfertigt, wenn zumindest die beiden
folgenden Bedingungen erfüllt sind:
(a) Die Operation wird - bei bestem Wissen
- zu einem Gut führen, wobei dieses Gut das Leid, das durch die Operation
verursacht wird, bei weitem überwiegt; wenn also die Schmerzen der
Operation in bezug auf die zu erwartenden Freuden (der Gesundheit) gering
sind.
(b) Das Gut kann auf keine andere Weise,
etwa durch harmlose Medikamente, bewirkt werden.
Ein Chirurg ist also gerechtfertigt, eine
Operation vorzunehmen, wenn die Operation mit großer Wahrscheinlichkeit
die Lebensumstände des Patienten wesentlich verbessern wird, und dieses
Ziel auf keine andere, weniger leidvolle Weise erreicht werden kann.
Das Kriterium, das gerechtfertigtes von
ungerechtfertigtem Leid zu unterscheiden erlaubt, lautet somit: Ein bestimmtes
Leid ist dann gerechtfertigt, wenn es zu einem Gut führt, das auf
keine andere Weise erreicht werden kann, wobei das Gut proportional wesentlich
größer ist als das Leid. Diesem Kriterium zufolge ist, um ein
weiteres Beispiel zu nennen, ein Feuerwehrmann berechtigt, jemandem einen
schmerzhaften Stoß zu versetzen, wenn er ihn auf diese Weise vor
einem herabfallenden Balken retten kann.
Nun scheint es in dieser Welt sowohl gerechtfertigtes
als auch ungerechtfertigtes Leid zu geben. Ungerechtfertigt ist Leid dann,
wenn es zu keinem höheren Gut führt oder wenn dieses Gut auf
andere, nämlich schmerzlosere Weise erreicht werden kann. Übel
sei im folgenden jenes Leid genannt, das nicht gerechtfertigt ist (>Leid<
und >Übel< sind also im folgenden keine synonymen Begriffe!). Zwar
erleben die allermeisten Menschen Leid als negativ, aber bei näherer
Betrachtung zeigt sich, daß ihm auch eine positive Funktion zukommen
kann: Dann nämlich, wenn es unerläßlich ist zum Erlangen
eines höheren Gutes. Für viele Formen von Leid scheint dies jedoch
nicht zu gelten. Diese Übel sind die eigentliche Herausforderung für
Theisten, da sie der Annahme eines gütigen und weisen Gottes widersprechen.
"Der ordnungstheoretische Zugang", so
meint der Theologe Hermann Häring, "kann an Alltagserfahrungen anknüpfen
und lebenspraktische Maximen des Alltags aufnehmen ... Es ist geradezu
lebensnotwendig, unser Tun und Erleiden in umfassendere Zusammenhänge
einzuordnen. Ungezählte Erscheinungen des Alltags, die schmerzhaft
oder zerstörend wirken, sind im Rahmen umfassenderer Funktionssysteme
immer schon akzeptiert, weil sie als unausweichlich oder als nützlich
und lebensnotwendig gelten. Auf zahlreiche Beispiele ließe sich verweisen.
Nicht nur die Übergänge zwischen Gift und Medizin sind fließend.
Auch der Schmerz kann vor größerem Schaden behüten. Leid
und Entbehrung führen oft genug zur größeren Reife. Was
zudem den einen niederdrückt, richtet den anderen auf ... Die Frage
nach der Gesamtordnung hilft, den Normalablauf eines in Regelerfahrungen
integrierten und stabil gehaltenen Lebens zu verstehen. Für Grenzerfahrungen
aber und den Zusammenbruch ganzer Regelsysteme, für Tod und Vernichtung
Betroffener, für das Grauen der menschlichen Geschichte bietet sie
nicht das angemessene Instrumentarium, weil dann ihre eigenen Voraussetzungen
in Frage stehen. Auschwitz einer ästhetischen Betrachtungsweise zu
unterziehen, wäre blanker Zynismus."
IV. Lösungsversuche des Theodizeeproblems
Theisten versuchen nun die fundamentale
Erfahrung, daß es in dieser Welt ungerechtfertigtes Leid gibt, in
der Weise zu zerstreuen, daß sie zeigen, daß auch die zunächst
als Übel geltenden Formen von Leid in Wirklichkeit gerechtfertigt
sind, da auch sie zur Verwirklichung eines höheren Gutes dienen.
Konkret lassen sich nun innerhalb der
klassischen Theodizeen zwei Gruppen von Lösungsversuchen unterscheiden:
Entweder wird durch Zusatzannahmen, die im Hinblick auf die zur Diskussion
stehende Vereinbarkeit der Prämissen I-IV so etwas wie eine >Brückenfunktion<
haben, die Vereinbarkeit der vier Thesen zu erweisen gesucht, oder es wird
durch Interpretation bzw. Modifikation der Prämissen II-IV das Problem
zu >umgehen< versucht. Ein Beispiel der zweiten Art ist die Privationslehre,
derzufolge es überhaupt kein Übel, sondern nur einen Mangel an
Gutem gäbe. Ein Beispiel der ersten Art ist die Annahme, daß
die Welt trotz allen Leids insgesamt gesehen eine gute, ja die bestmögliche
sei, da alles Leid im Wege des Kontrastes zur Verwirklichung des Kunstwerks
Erde diene.
BRÜCKENANNAHMEN
Zunächst zu den Brückenannahmen.
Meines Wissens wurden in der Geschichte des Theodizeeproblems folgende
Brückenannahmen (sowie Kombinationen dieser) zur Rechtfertigung von
Leid und damit, in weiterer Folge, zur Rechtfertigung der Güte Gottes
vorgebracht. An dieser Stelle etwas verkürzt dargestellt, lauten sie
so:
Brückenannahme A: Gott schuf die
bestmögliche Welt. Dies läßt sich an der Geordnetheit
des Universums erkennen. Selbst das Höchste Wesen konnte allerdings
einige unliebsame Konsequenzen dieser Geordnetheit (z.B. die gelegentlich
auftretenden Erdbeben und Flutkatastrophen) nicht verhindern. Zwar mögen
uns diese zunächst als ein Übel erscheinen, aber in Wirklichkeit
sind sie gerechtfertigt, da ohne sie auch die Geordnetheit des Universums
unmöglich wäre. Eine geordnete Welt ist in jedem Fall besser
als eine ungeordnete.
Brückenannahme B: Gott schuf die
bestmögliche Welt, was sich an der Schönheit des Universums zeigt.
Schönheit setzt jedoch Kontrastreichtum voraus. Zu den Kontrasten
der Welt gehört auch das Leid. Zwar erscheint uns dieses zunächst
als ein Übel, aber es ist in Wirklichkeit gerechtfertigt, da ohne
Leid auch Gott keine Schönheit schaffen konnte. Ein schönes Universum
ist jedoch in jedem Fall besser als ein häßliches.
Brückenannahme C: Gott schuf die
bestmögliche Welt, was an der Tatsache offenbar wird, daß es
in dieser Welt ethisches Verhalten gibt. Ein solches Haltung setzt jedoch
Leid voraus, das uns zwar zunächst als ein Übel erscheinen mag,
das aber in Wirklichkeit gerechtfertigt ist, da es eine notwendige Voraussetzung
ethischen Verhaltens ist. Eine Welt mit Moralität ist aber in jedem
Fall besser als eine Welt ohne sie.
Brückenannahme D: Gott schuf die
bestmögliche Welt, was sich daran zeigt, daß es menschliche
Freiheit gibt. Eine Welt mit Freiheit ist ungleich besser als eine Welt
ohne sie, allerdings setzt Freiheit voraus, daß sie gelegentlich
(tatsächlich sogar häufig) mißbraucht wird. Dadurch kam
alles Leid in die Welt. Zwar mag uns dieses zunächst als ein Übel
erscheinen, aber da es notwendig ist zur Verwirklichung des überragenden
Gutes der menschlichen Freiheit, ist es gerechtfertigt.
Folgende argumentationslogische Struktur
gilt dabei für alle diese Brückenannahmen:
1. Zunächst wird behauptet, daß
es in dieser Welt eine ausgezeichnete Eigenschaft e gibt (Geordnetheit,
Schönheit, ethisches Verhalten, menschliche Freiheit), kurz: es gibt
in dieser Welt e
2. Sodann wird behauptet, daß es
auch Gott unmöglich sei, eine Welt mit dieser ausgezeichneten Eigenschaft,
aber ohne jedes Leid zu schaffen, kurz: (auch für Gott) unmöglich,
eine Welt mit e und ohne L
3. Schließlich wird behauptet, daß
eine Welt, in der es - trotz des damit notwendig verknüpften Leids
- die Eigenschaft e gibt, wesentlich besser ist als jede Welt, in der es
e nicht gibt, kurz: eine Welt mit e, die ein großes Gut ist, ist
besser als jede Welt ohne e.
Daraus wird nun geschlossen, da (alles)
Leid gerechtfertigt ist, es also keine Übel gibt. Gibt es aber gar
keine Übel, so ist Gottes Güte gerechtfertigt und das Theodizeeproblem
gelöst.
Leibniz hat die Grundidee solcher Brückenannahmen,
ohne den Ausdruck selbst zu gebrauchen, so formuliert: "... im Universum
übertrifft ja nicht nur das Gute das Übel, sondern das Übel
dient auch zur Vermehrung des Guten." Zweifelsohne sind Brückenannahmen
grundsätzlich geeignet, das Theodizeeproblem im Sinne des Theismus
zu lösen. Sie können die von Theisten erhoffte Funktion, nämlich
die anscheinende Unvereinbarkeit der Prämissen I-IV zu >überbrücken<,
allerdings nur dann erfüllen, wenn sie nicht bloß, logisch betrachtet,
zur Lösung geeignet, sondern wenn sie darüber hinaus auch wahr
sind. Brückenannahmen müssen also um ihrer selbst willen, d.h.
unabhängig von ihrer Funktion im Rahmen einer Lösung des Theodizeeproblems,
gültig sein. Sollte jedoch zumindest eine dieser Brückenannahmen
wahr sein, so wäre die Annahme eines allmächtigen und allgütigen
Wesens vereinbar gemacht mit dem Leid der Welt. >Alles, was wir so sehr
beklagen und um dessen Erklärung wir seit Hiobs Tagen ringen, das
Übel nämlich, existiert gar nicht, vielmehr ist alles Leid mit
Gottes Güte vereinbar< - so lautet das von Theisten erhoffte Ergebnis.
A. Die geordnete Natur
Näher ausgeführt, lautet die
Brückenannahme A so: Gott schuf die bestmögliche Welt, was sich
an der Geordnetheit des Universums zeigt. Ein besonders eindrucksvolles
Beispiel für diese Geordnetheit sind die Gravitationskräfte,
denn ohne sie bräche das reine Chaos aus: Kein Regen könnte fallen,
Gegenstände höben plötzlich ab, um vielleicht sogleich wieder
zu Boden zu stürzen. Die Erde, sollte sie sich noch um ihre Achse
drehen, würde aufgrund zentrifugaler Kräfte in ihre Bestandteile
zerrissen. Dort, wo einmal Menschen lebten und fruchtbare Felder bebauten,
gäbe es nur noch einen Nebel planlos dahintreibenden Staubs. Ein Leben,
wie wir es kennen, wäre unmöglich - nicht nur alle Leiden, sondern
auch alle Träume und Freuden der Menschen hätten ein Ende gefunden.
Aber diese Geordnetheit hat einen Preis, den auch Gott bezahlen mußte.
Denn jene Kräfte, die für diese Geordnetheit verantwortlich sind,
zeitigen manchmal, etwa bei Flut- oder Flugzeugkatastrophen, unliebsame
Konsequenzen. Aber dann, wenn Menschen selbst beurteilen sollen, welche
Folgen ihr Tun oder Unterlassen nach sich ziehen, dann müssen die
Naturgesetze als feste Regeln wirken. Nur in einer geordneten Welt können
Menschen eingreifen, können sie Lebenspläne entwickeln und Veränderungen
vornehmen, also Freiheit üben. "Das heißt dann aber auch, daß
es >Opfer des Systems< geben wird ..."
B. Das göttliche Kunstwerk
Im diesem Lösungsversuch wird nicht,
wie im vorangegangenen, aus der Regelmäßigkeit, sondern aus
der Mannigfaltigkeit der Dinge auf die Güte Gottes geschlossen. Von
diesem Lösungsversuch existieren nun zwei Versionen:
a) Leid als notwendiger Kontrast
In der ersten Variante der Brückenannahme
B wird alles Leid mit dem Hinweis gerechtfertigt, daß es im Wege
des Konstrasts einen notwendigen Beitrag zu einem optimalen Gesamtbild
leiste. "Gott würde ja keinen Menschen geschaffen haben und erst recht
keinen Engel", schrieb der heilige Augustinus, "dessen künftige Schlechtigkeit
er vorausgesehen hätte, wüßte er nicht ebenso, wie er sich
ihrer zum Nutzen des Guten bedienen und so das geordnete Weltganze wie
ein herrliches Gedicht gewissermaßen mit allerlei Antithesen ausschmücken
würde. Solche ... Antithesen ... bilden nämlich den ansprechendsten
Schmuck ..." So, wie Gegensätze die Rede verschönern, schafft
also die göttliche Kunst, die sich der Dinge statt der Worte bedient,
durch ähnliche Antithesen die Schönheit des Ganzen. Die
Leiden und Laster der Welt sind die unvermeidlichen Dissonanzen im carmen
universitatis - so könnte die Brückenthese B kurz zusammengefaßt
werden.
Interessanterweise ist ihre logische Struktur
mit derjenigen der Brückenannahme A nicht identisch. Zwar wird in
beiden Fällen behauptet, daß es unmöglich sei, daß
eine bestimmte Eigenschaft (Geordnetheit bzw. Schönheit) ohne Leid
existieren könne; auch wird in gleicher Weise betont, daß man
Leid nicht isoliert betrachten dürfe, sondern in einem Gesamtzusammenhang
sehen müsse. Aber ein fundamentaler Unterschied besteht doch: Während
in der Brückenannahme A alles Leid als eine unerwünschte, wiewohl
unvermeidliche Konsequenz eines bestmöglichen Ganzen behauptet wird,
wird in der Brückenannahme B alles Leid als ein von Gott bewußt
eingesetztes Mittel zur Verwirklichung eines bestimmten Gutes gedeutet.
Während also in der Brückenannahme A hervorgehoben wird, daß
Gott ein bestimmtes Gut schuf, das allerdings einige unerwünschte,
jedoch unvermeidliche Konsequenzen nach sich zieht, wird nun betont, daß
Gott die Leiden der Welt ganz bewußt eingesetzt habe, um nämlich
ein bestimmtes Gut, die Schönheit der Welt, zu verwirklichen. Die
Leiden erfüllen als Mittel zu einem hervorragenden Zweck eine notwendige
Funktion im bestmöglichen Gesamtbild, so die Brückenannahme B.
Dies gilt nach Leibniz auch für die
damals weitverbreitete Glaubensannahme jener Religion, die die Nächstenliebe
predigt, wonach ein Großteil der Menschen sich am Ende der Tage im
ewigen Höllenfeuer wiederfinden werde: "Wir halten fest an der außer
Zweifel stehenden Lehre, die Zahl der ewig Verdammten sei unvergleichlich
viel größer als die der Geretteten", denn diese führten
in bezug auf die Welt als Ganze zu einem weit größeren Gut.
Die Verdammten der Erde haben also die Funktion eines dissonanten Akkords
im Rahmen der gerade dadurch um so eindrucksvoller klingenden göttlichen
Weltsinfonie. Leibniz zufolge ist die Welt eine Sinfonie in Dur, in der
die häufigen Molltöne einen notwendigen Beitrag zur Schönheit
des Ganzen liefern.
b) Leid als notwendiger Gegensatz
Von der Brückenannahme B existiert
nun eine abgeschwächte Version, die im Gegensatz zur stärkeren
nicht nur vor allem von Philosophen, sondern auch von Theisten und Predigern
vertreten wird. Sie lautet so: Gott schuf die bestmögliche Welt. Aber
eine Welt ohne Leid ist schlechter als die tatsächlich von Gott geschaffene,
denn Leid ist ein notwendiger Gegensatz zum Guten. Trotz seiner Allmacht
konnte auch der Herrgott unmögliche Dinge nicht schaffen, <denn
beseitigte er das Schlechte, so beseitigte er auch das Gute<.
Während also in der stärkeren
Version der Brückenannahme B die verschiedenen Leiden als notwendige
Kontraste interpretiert werden, so wird nun hervorgehoben, daß Leid
ein notwendiger Gegensatz zum Guten sei. In der schwächeren Version
wird also nicht betont, daß es einen Reichtum an Leid geben müsse
(>Jedem Gut muß als Kontrast ein Leid gegenübergestellt werden,
damit die Schönheit des Ganzen besonders eindrucksvoll wird<),
sondern es wird nur behauptet, daß Leid unerläßlich sei
zur Bewußtwerdung des Guten.
C. Die sittliche Weltordnung
Während die Brückenannahme A
und die stärkere Version der Brückenannahme B im traditionelleren
Christentum eine untergeordnete Rolle spielen, ist dies für die beiden
folgenden Brückenannahmen nicht der Fall. Präziser formuliert,
lautet der dritte große Lösungsversuch des Theodizeeproblems
so: Gott schuf eine Welt, in der alles Leid eine wichtige Funktion erfüllt.
Es dient nämlich der sittlichen Besserung, also der Ausbildung moralischer
Tugenden wie Solidarität, Mitgefühl, Tapferkeit, Pflichtgefühl.
"Ein weiteres Argument, weshalb Gott es zuläßt, daß Menschen
aufgrund natürlicher Übel leiden, besteht darin, daß nur
so die Realisierung von Werten höherer Ordnung möglich ist, d.h.,
daß verschiedene Übel die logisch notwendige Bedingung für
einige besonders wertvolle Verhaltensweisen darstellen. Wer heiter und
gelassen sein Leben ertragen soll, muß leiden ... Ähnlich, so
wird oft gesagt, sind Übel der verschiedensten Art notwendig, damit
jemand verzeihen, sich als mutig erweisen, sich selbst opfern, Mitleid
üben oder einer Versuchung widerstehen kann."
Neben Dingen wie Freude und Lust, die
im folgenden >Güter erster Stufe< (abgek.: Güter 1) genannt
werden, gibt es also moralische Verhaltensweisen. Diese >Güter zweiter
Stufe< (abgek.: Güter 2) kann es allerdings nur dann geben, wenn
es auch verschiedene Leiden gibt.
Güter 2, z.B.
Mitleid
/
/
Leiden 1, z.B.
Güter 1, z.B.
Schmerzen
Freude
Laut Brückenannahme C ist also alles
Leid gerechtfertigt, weil es einem bestimmten Zweck dient und dieser Zweck
so hochwertig ist, daß dadurch die Negativität des Mittels mehr
als aufgewogen wird. >Natürlich beseitigte Gott alles Leid<, so
behauptet ein Vertreter dieser Brückenannahme, >aber auch ER ist insoweit
eingeschränkt, da Güter zweiter Stufe nicht ohne Leid erster
Stufe geschaffen werden können. Denn die beiden bedingen einander
wie Licht und Finsternis. Es kann nun einmal keine Tugend ohne Laster geben,
das Gute kann ohne das Böse nicht sein. Gerechtigkeit ist die Verneinung
von Ungerechtigkeit, Tugend ist nur durch Überwindung des Bösen
möglich. Gottes Güte steht somit außer Zweifel.< Wenn
Solidarität, Mitgefühl, Tapferkeit und Ausdauer hohe Güter
sind, dann scheint auch die Existenz von Krankheiten, Seuchen, Mißbildungen
und Naturkatastrophen gerechtfertigt zu sein. Da es ohne Leid kein Mitleid
geben kann, war Gott gerechtfertigt, zur Verwirklichung dieser Güter
Leid zu schaffen.
D. Der freie Mensch
Der Hinweis auf menschliche Freiheit ist
wohl der berühmteste aller Lösungsversuche des Theodizeeproblems.
Von ihm existieren ebenfalls zwei Versionen.
In der ersten Variante der Brückenannahme
D [Freiheitskonzeption I] wird behauptet, daß es selbst dem allmächtigen
Gott unmöglich gewesen sei, eine Freiheit zu schaffen, die niemals
mißbraucht wird. Denn nur Menschen, die ihre Freiheit gelegentlich
mißbrauchen, sind keine Automaten, sondern freie Wesen. Aber aufgrund
dieses Mißbrauchs kommen (und kamen) die verschiedensten Leiden in
die Welt. Bei oberflächlicher Betrachtung mögen diese Leiden
uns als ungerechtfertigt erscheinen, aber als notwendiger Preis für
das übergroße Gut der menschlichen Freiheit sind sie gerechtfertigt;
und da auf diese Weise alle Leiden gerechtfertigt werden können, steht
Gottes Güte außer Zweifel.
In der zweiten Variante der Brückenannahme
D [Freiheitskonzeption II] wird allerdings gerade das Gegenteil behauptet:
Es wird nämlich bestritten, daß der gelegentliche Mißbrauch
eine notwendige Bedingung der menschlichen Freiheit sei. Dieser Konzeption
zufolge schuf Gott eine Form von Freiheit, die nicht mißbraucht werden
müsse, aber Menschen haben sie nun einmal mißbraucht, wodurch
alles Leid in die Welt kam (und kommt). Da Gott für die Verfehlungen
anderer nicht verantwortlich gemacht werden kann, steht seine Güte
außer Zweifel. IHN trifft keine Schuld, alle Schuld trifft allein
uns Menschen.
Da die beiden Freiheitskonzeptionen einander
widersprechen (einmal wird behauptet, Freiheit schließe notwendigerweise
ihren gelegentlichen Mißbrauch ein, das andere Mal wird dies bestritten),
können nicht beide zugleich wahr sein. Theisten, die mit Hilfe der
Brückenannahme D das Theodizeeproblem lösen wollen, müssen
sich also entscheiden, welche der beiden Varianten die richtige ist. Zumeist
haben sie sich, wie auch die Verfasser der Bibel - zumindest diejenigen
des Erbsündenberichts - für die Freiheitskonzeption II entschieden.
Doch zunächst zur ersten Version
der Brückenannahme D. Näher ausgeführt, lautet sie so: Gott
schuf die bestmögliche Welt, nämlich eine Welt mit freien Wesen.
Freiheit setzt jedoch ihren gelegentlichen Mißbrauch, also ein gelegentlich
egoistisches oder grausames Verhalten voraus. Als Folge davon kamen und
kommen die Leiden in die Welt, aber da sie notwendig sind zur Verwirklichung
des hohen Gutes der menschlichen Freiheit, sind sie gerechtfertigt. Nur
Wesen ohne einen freien Willen könnten so beschaffen sein, daß
sie stets das Richtige tun. Aber solche Wesen wären keine Menschen,
sondern seelenlose Automaten. Eine Welt, die anstelle von sich frei entscheidenden
Menschen von stets richtig handelnden Automaten bevölkert wäre,
ist jedoch schlechter als diese Welt. Daß Gott die Welt einschließlich
freier Wesen geschaffen hat, die einmal das Gute, dann wieder das Böse
tun, ist Ausdruck seiner überragenden Macht und Güte. Sie ist
auch Ausdruck seines Unwillens, in sklavischer Weise verehrt zu werden.
Diese erste Version der Brückenannahme
D, und darin besteht nicht zuletzt ihre Attraktivität, läßt
sich mit Überlegungen, die für die Brückenannahme C zentral
sind, glänzend kombinieren: Leiden erster Stufe, zum Beispiel körperliche
Schmerzen, werden als logisch notwendige Komponenten eines Gutes zweiter
Stufe, zum Beispiel Mitgefühl, gerechtfertigt. Leiden zweiter Stufe,
zum Beispiel Grausamkeit, werden nun mit dem Hinweis auf Freiheit, nämlich
als unvermeidliche Folge dieses Gutes dritter Stufe gerechtfertigt. Warum
also hat Gott Wesen mit freiem Willen geschaffen, wiewohl dies zu so großem
Leid führt? Antwort: Weil es besser ist, daß Menschen frei handeln
und bisweilen etwas Sündhaftes tun, als daß sie unzurechnungsfähige
Automaten wären, die determiniert stets das Richtige tun. Freiheit
überragt als Gut dritter Stufe alle Leiden erster und zweiter Stufe,
also alle Formen von Schmerz bzw. moralischen Verfehlungen.
Gut 3
/
Freiheit
/
/
/
Leiden 2
Güter 2
z.B. Grausamkeit
z.B. Mitleid
(>notwendiger Preis
der Freiheit<)
/
/
/
Leiden 1
Güter 1
z.B. Schmerzen
z.B. Freude (>notwendig für
Güter 2<)
Zweifellos ist auch die Freiheitskonzeption
I grundsätzlich geeignet, die anscheinende Unvereinbarkeit der Ausgangsprämissen
I-IV zu überbrücken. Aber wirklich erfüllen kann sie diese
Aufgabe nur, wenn sie auch wahr ist. Aber schließt nun menschliche
Willensfreiheit ihren gelegentlichen Mißbrauch notwendigerweise ein
(Freiheitskonzeption I) oder ist dem nicht so (Freiheitskonzeption II)?
Der Vorzug der Freiheitskonzeption I besteht
darin, wie soeben gezeigt, daß durch sie die Leiden zweiter Stufe
zumindest grundsätzlich gerechtfertigt wären: Diese sind ein
notwendiges Mittel zur Verwirklichung von Gut 3, von menschlicher Freiheit.
Aber aus den beiden folgenden Gründen ist nicht sie, sondern die Freiheitskonzeption
II die bestmögliche, also die mit der vollkommenen Güte Gottes
vereinbare Lösung:
1. Wenn es logisch möglich ist, daß
jemand bei einer oder bei mehreren Gelegenheiten freiwillig das Gute tut
(etwa der Versuchung zum Ehebruch widersteht), dann kann es auch nicht
logisch unmöglich sein, daß alle Menschen bei jeder Gelegenheit
freiwillig das Gute tun. Eben diese Möglichkeit setzen die meisten
Theologen in selbstverständlicher Weise voraus, dann nämlich,
wenn sie den Engeln wie auch den Seligen im Himmel keineswegs die Willensfreiheit
absprechen, obwohl sie annehmen, daß diese de facto der Sünde
nicht anheimfallen. Auch für totgeborene Kinder gilt, sofern sie getauft
sind, daß diese in Freiheit das Gute genießen werden, obwohl
sie mit Sicherheit nie Sündhaftes getan haben. Wird ein künftiges
Reich Gottes erhofft, so wird ausdrücklich die Möglichkeit eines
Zustands eingeräumt, in dem von Gott geschaffene Wesen immer freiwillig
das Gute tun. Wenn aber ein solch paradiesischer Zustand Gegenstand einer
vernünftigen Hoffnung sein kann, so ist die Freiheitskonzeption I
unrichtig.
2. Vielleicht sind Theisten, die die erste
Freiheitskonzeption für richtig halten, dennoch versucht, gegen diese
Überlegung folgenden Einwand vorzubringen: Wenn Menschen de facto
nie sündigen, also nicht nur Herr Stoiber zum Zeitpunkt t der Versuchung
zum Ehebruch widersteht, sondern alle Menschen dieser Versuchung widerstehen,
dann kann dies nur darauf beruhen, daß sie von Gott so geschaffen
wurden, daß sie überhaupt nicht sündigen können; sie
sind durch einen göttlichen Schöpfungsakt ein für allemal
am Sündigen gehindert worden, folglich unfrei.
Dieses immer wieder vorgebrachte Argument
ist aber aus folgendem Grund nicht stichhaltig: Gott hätte nämlich
den Menschen zwar mit einem freien Willen, der sich auch für das Böse
entscheiden kann, erschaffen können , jedoch die Randbedingungen des
menschlichen Lebens so arrangieren können, daß de facto niemand
von der Möglichkeit zum Bösen Gebrauch macht. Man könnte
sich leicht eine Welt vorstellen, in der kein Mensch Selbstmord begeht
- ohne daß damit die Möglichkeit zum Selbstmord, die wir alle
beinahe permanent haben, aufgehoben wäre. Es gibt eine ganze Reihe
von Tätigkeiten, die Menschen zu keinem früheren Zeitpunkt gemacht
haben und von denen man doch annehmen kann, daß Menschen die ganze
Zeit über frei waren, diese Tätigkeiten auszuführen, sie
aber aus Gründen des Takts oder aus einem Mangel an Phantasie unterlassen
haben. Das Guiness-Buch der Rekorde ist voll von solch neu erdachten, nicht
immer edlen Handlumgen.
Irgendwann wurde alles zum ersten Mal
getan, aber in den meisten Fällen waren Menschen auch zuvor frei,
sie auszuführen. Und man kann sich unschwer viele Tätigkeiten
vorstellen, die Menschen nie getan haben, obwohl sie frei sind, es zu tun,
zum Beispiel in Bochum eine Pyramide zu errichten oder den dritten Weltkrieg
zu beginnen. Also gibt es einen Unterschied zwischen: >Wesen sind frei,
Böses zu tun, tun es aber nicht, weil sie so programmiert sind<
und >Wesen sind frei, Böses zu tun, tun es aber nicht aufgrund innerer
und äußerer Umstände<.
Aus diesen Überlegungen folgt meines
Erachtens eindeutig, daß eine Freiheit denkbar ist, die ihren gelegentlichen
Mißbrauch nicht notwendigerweise einschließt; und da eine solche
Freiheit besser ist als eine Freiheit, die ihren Mißbrauch, also
unmoralisches Handeln (und damit ungerechtfertigtes Leid), notwendigerweise
einschließt, kann nur die Freiheitskonzeption II mit göttlicher
Güte und Weisheit vereinbar sein. Theisten, die behaupten, Freiheit
schließe nicht bloß die Möglichkeit zu sündhaftem
Handeln, sondern sündhaftes Handeln selbst ein, sind also mit der
Tatsache konfrontiert, daß sehr wohl eine Freiheit denkbar ist, die
keinen Mißbrauch einschließt und damit mit Gottes Güte
ungleich besser verträglich ist. Zudem müssen sie sich folgendem
Einwand stellen: Wenn es notwendig ist, daß Menschen ihre Freiheit
gelegentlich mißbrauchen, wer ist denn dafür verantwortlich,
wenn Menschen es tun? Denn sie tun es ja nicht aus schlechter Absicht,
sondern weil sie es tun müssen, um überhaupt das große
Gut der Freiheit zu verwirklichen, es passiert gleichsam mit ihnen. Aber
warum werden sie dann von ihren Mitmenschen und vom göttlichen Richter
am Ende aller Zeiten für die Leiden (bzw. Übel) zweiter Stufe
bestraft? Und weshalb wurden sie dafür sogar aus dem Paradies vertrieben?
Die Freiheitskonzeption I wirft also eine
ganze Reihe von Problemen auf, weshalb die allermeisten Theisten zurecht
die Freiheitskonzeption II für richtig halten. Der Unterschied
zwischen beiden läßt sich nun deutlich bestimmen: Während
in der Freiheitskonzeption I die Leiden 2 als unvermeidbare Konsequenzen
der Verwirklichung des überragenden Gutes der Freiheit gelten, somit
keine Übel sind, wird in der Freiheitskonzeption II behauptet, daß
die Leiden 2 nicht zum Weltenplan gehören, sondern erst durch unnötige
Verfehlungen der (ersten) Menschen in die Welt gekommen, somit Übel
sind. Da WIR jedoch schuld daran sind, sind sie dennoch mit der Existenz
eines gütigen Gottes durchaus vereinbar.
Mit den vorangegangenen Brückenannahmen
läßt sich die Freiheitskonzeption II wie folgt vergleichen.
In allen Brückenannahmen wird behauptet, daß dieser Weltordnung
der Plan eines moralisch vollkommenen und allmächtigen Wesens zugrundeliege
(Gott hat die bestmögliche Welt geschaffen). In einem zweiten Schritt
wird dies anhand einer bestimmten Eigenschaft der Welt illustriert: an
der Naturordnung (Brückenannahme A), an der Schönheit des Universums
(Brückenannahme B), an der Sittlichkeit des Menschen (Brückenannahme
C) und an der menschlichen Freiheit (Brückenannahme D). In einem dritten
Schritt wird schließlich behauptet, daß gerade das als sinnlos
erscheinende Leid entweder eine unvermeidbare Nebenfolge dieser ausgezeichneten
Eigenschaft ist (dies gilt für die Brückenannahme A sowie für
die erste Version der Brückenannahme D) oder zur Verwirklichung dieser
Eigenschaft notwendig ist (dies gilt für die Brückenannahmen
B und C) oder durch einen, Gott aber nicht anzulastenden Mißbrauch
in die Welt kam (dies gilt für die zweite Version der Brückenannahme
D).
In den bisher besprochenen Brückenannahmen
wurde von theistischer Seite behauptet, daß es in Wirklichkeit gar
keine Übel gibt (>Alles Leid ist sinnvoll, da es zur Verwirklichung
eines größeren Gutes notwendig oder dessen unausweichliche Folge
ist<), aber in der Freiheitskonzeption II wird an der Existenz von sinnlosem
Leid festgehalten. Diese Übel werden jedoch, ohne daß ihnen
eine notwendige Funktion zukäme, als vereinbar mit Gottes Güte
behauptet. In der Freiheitskonzeption II wird also das Leid in einer
anderen, neuen Weise gerechtfertigt:
Bisher (Brückenannahmen A,B,C, Freiheitskonzeption
I): Leid ist gerechtfertigt, weil unerläßlich zur Verwirklichung
eines großen Gut oder dessen unvermeidbare Konsequenz. Da alle Leiden
in dieser Weise gerechtfertigt sind, ist auch Gottes Güte gerechtfertigt.
Nun (Freiheitskonzeption II): Viele Leiden
sind weder unerläßlich zur Verwirklichung eines großen
Gutes noch dessen unvermeidbare Konsequenz. Dennoch ist Gottes Güte
gerechtfertigt, da alle Leiden durch Menschenschuld in die Welt gekommen
sind.
UMGEHUNGSVERSUCHE
Außer durch Brückenannahmen
wurde durch Neuinterpretation der Prämissen I-IV das Theodizeeproblem
zu lösen versucht. Während in den bisher diskutierten Lösungsversuchen
Theisten bemüht waren, die scheinbare Unvereinbarkeit der Prämissen
mittels Zusatzannahmen zu >überbrücken<, wird in den nun folgenden
Lösungsversuchen das Theodizeeproblem durch eine Modifikation der
Prämissen >umgangen<. Ein Beispiel für einen solchen Umgehungsversuch
ist die Behauptung, daß es bereits ein Irrtum sei, überhaupt
von >Übeln< zu sprechen, >gibt es doch in Wirklichkeit nur einen
Mangel an Gutem<. Dabei ist die Grenze zwischen diesen und den vorangegangenen
Lösungsversuchen gelegentlich fließend: So implizieren zumindest
die Brückenannahmen B und C bereits eine gewisse Modifikation der
Prämisse III (>Etwas, das selbst gut ist, würde etwas anderes,
das schlecht oder übel ist, nach Möglichkeit verhindern oder
eliminieren.<), denn ihnen zufolge ging es dem Allmächtigen primär
nicht um die Verhinderung von Leid, sondern um die Verwirklichung höherer
Güter.
Meines Wissens wurden nun in der Geschichte
des Theodizeeproblems folgende Umgehungsversuche vorgebracht, wobei in
allen Fällen eine Prämisse geändert, an den anderen jedoch
festgehalten wird.
Umgehungsversuch A: Die Prämisse
IV ist ungenau formuliert, da es in Wirklichkeit kein substantielles Leid
und somit auch keine Übel, sondern nur einen Mangel an Gutem gibt.
Weil dem so ist, taucht das Theodizeeproblem gar nicht auf (die Privationslehre).
Umgehungsversuch B: Die Prämisse
II bedarf der Modifikation: Ohne Zweifel gibt es Leid und ist Gott allgütig,
allwissend und allmächtig. Aber ER ist vor allem auch der leidende
Gott. Das Höchste Wesen nimmt Anteil an menschlichem Schmerz, indem
er selbst die schwersten Leiden auf sich genommen hat. Da Leid gerade das
ist, was Gott mit seinen Geschöpfen verbindet, kann es kein Übel
sein.
Umgehungsversuch C: Die Prämisse
II muß in der Weise interpretiert werden, daß Gott zwar allgütig
ist, aber seine Güte der unseren nicht entspricht. Natürlich
gibt es vieles, das uns als negativ, als unvereinbar mit Gottes Güte
erscheint, aber wer bist du Mensch, daß du richten willst den Allmächtigen?
Umgehungsversuch D: Die Prämisse
III bedarf der Präzisierung. Gewiß würde etwas, das selbst
gut ist, etwas anderes, das schlecht oder übel ist, nach Möglichkeit
beseitigen oder eliminieren, aber warum bereits im Diesseits? Gott hat
nämlich nicht nur diese Welt, sondern auch eine jenseitige geschaffen,
wo er als Weltenrichter ausgleichende Gerechtigkeit üben, also die
Guten belohnen und die Bösen bestrafen wird. Somit sind die Leiden
der Welt nicht sinnlos, sie sind kein Übel.
A. Die Privationslehre
Große Theologen und Philosophen (Origenes,
Plotin, Augustinus, Thomas, Leibniz) legten einem Teil ihrer Theodizeen
den Privationsbegriff des Negativen zugrunde. Dieser basiert auf der Annahme,
daß alles Seiende in Wirklichkeit gut sei: Omne ens est bonum [Das
ganze Sein ist gut]. Die angeblichen Übel der Welt seien bloß
eine Beraubung, eine Unordnung, eine Störung der Harmonie, eine privatio
boni [Mangel an Gutem]. Da den Übeln der Welt kein wirkliches Sein
zukommt, bedürfen sie eines Trägers: Denn wie eine Krankheit
nicht allein, sondern nur an einem Körper existiert, so haften auch
die Übel am Guten. Da sie also nicht substantiell, sondern bloß
akzidentell sind, sind sie machtlos und können nicht durch sich, sondern
nur durch die Kraft des Guten wirken. Vordergründig mag den Übeln
eine gewisse Realität zukommen, aber in Wirklichkeit ist alles bestens.
"Alles, was ist, ist auch gut, und das Böse, nach dessen Ursprung
ich fragte, ist nichts Wesenhaftes, denn wäre es ein Wesen, wäre
es gut."
Bei dieser Privationslehre handelt es
sich, so lautet zumindest der theistische Anspruch, um eine metaphysische
Sicht der Dinge und nicht bloß um eine Redeweise der folgenden Art:
Jedes Gegensatzpaar, etwa >groß: klein< oder >heiß: kalt<,
kann so umformuliert werden, daß man mittels Negation auf einen der
Ausdrücke verzichtet, also statt kalt >nicht heiß< oder statt
klein >von sehr geringer Größe< sagt; und Tugend gilt dann
als Negation des Lasters und Bewegung als Negation der Ruhe. Auf diese
Weise wäre auch der Ausdruck >Übel< dadurch zu eliminieren,
daß man von einem >großen Mangel an Gutem< spricht. Aber
in der Privationslehre geht es um keinen derartigen Trick, sondern um eine
Analyse der Wirklichkeit, wobei die entscheidende Behauptung die sachliche
Ineinssetzung des Guten mit dem Sein ist: Das Sein ist gut, das Böse
ist ein Nichts, das Übel ist nicht-seiend. Weil laut Privationslehre
das Übel nur eine negative Begleiterscheinung des geschöpflichen
Seins ist, lautet die vierte Prämisse nicht: >Es gibt Leid<, sondern
richtigerweise: Es gibt einen Mangel an Gutem.
B. Der leidende Gott
Beim Umgehungsversuch B geht es um eine
Modifikation bzw. Ergänzung der Prämisse II: Gott ist nicht nur
der gütige Vater und gerechte Richter, sondern er ist auch derjenige,
der aus Mitgefühl seine Geschöpfe in ihrem Leid nicht allein
läßt. ER ist nicht nur das summum bonum, sondern auch der leidende
Gott, der sogar sein Leben für unsere Sünden hingab. So viele
Mühen gibt es in der Welt, aber Gott trägt mit uns ihre Last!
Natürlich ist diese Vorstellung vom >Leiden Gottes aus Liebe< für
das Christentum typisch, während sie im Judentum und im Islam nicht
nur fehlt, sondern häufig sogar als Gotteslästerung empfunden
wird (>Der Allmächtige soll sich vor zweitausend Jahren von römischen
Soldaten auspeitschen haben lassen ...??<). Während also der Umgehungsversuch
B von Juden und Muslimen nicht vertreten wird, sind die Lehren von der
Gottesebenbildlichkeit des Menschen und, vor allem, von der Menschwerdung
Gottes die Kernstücke der christlichen Anthropologie. Weil Gott selbst
das größte Leid auf sich genommen hat, kann es nicht als Übel
bezeichnen werden.
Eine modifizierte Variante des Umgehungsversuches
B lautet so: Gott teilt zwar die Mühen der Welt, aber er schickt auch
Leiden, um nämlich Menschen zu einem besseren, gottgefälligeren
Leben zu erziehen. Leid ist also ein notwendiges Mittel zum individuellen
Du zwischen Gott und seinen Geschöpfen: "Siehe, glücklich ist
der Mensch, den Gott zurückweist! So verwirf denn nicht die Züchtigung
des Allmächtigen! Denn er bereitet Schmerz und verbindet, er zerschlägt
und seine Hände heilen."(Hi 5.17)
Diese Pädagogisierung und Vergöttlichung
des Negativen bildet die Folie für verschiedene theistische Behauptungen:
>Das Leid ist die Hilfe Gottes, um die Seele aus den Händen des Feindes
zu befreien<; >Das Leid beschleunigt den Weg zu Gott<; >Durch das
Leid entzieht Gott der Seele den irdischen Trost und nötigt sie, himmlischen
Trost zu suchen<; >Das Leid ist das sicherste Zeichen, daß Gott
den Menschen liebt<; >Not und Leid wird den Menschen gesandt, damit
sie vor Trägheit und Schlaffheit bewahrt bleiben<. Und: >Leid stärkt
das persönliche Verhältnis zu Gott<, und schließlich
unüberbietbar: Not lehrt beten!
Obwohl solche Vorstellungen im AT wahrscheinlich
häufiger als im NT sind, findet sich beim hl.Paulus eine besonders
eindrucksvolle Stelle: "Darum, damit ich mich nicht überhebe, wurde
mir ein Dorn für das Fleisch gegeben, ein Engel Satans, damit er mich
mit Fäusten schlage ... Um dessentwillen habe ich dreimal den Herrn
angerufen, daß er von mir ablassen möge. Und er hat zu mir gesagt:
Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft kommt in Schwachheit zur
Vollendung ... Deshalb habe ich Wohlgefallen an Mißhandlungen, an
Schwachheiten, an Nöten, an Verfolgungen, an Ängsten um Christi
willen." Und Meister Eckehart meinte, ihm sei >viel lieber<, daß
Gott ihn liebe und er dabei krank sei, >als wenn er gesund am Leibe wäre
und Gott ihn nicht liebte<: "Alles, was der gute Mensch um Gottes willen
leidet, das leidet er in Gott, und Gott ist mit ihm leidend in seinem Leiden.
Ist mein Leid in Gott und leidet Gott mit, wie kann mir dann das Leiden
ein Leid sein, wenn das Leiden das Leid verliert und mein Leid in Gott
und Gott mein Leid ist."
Da solche Ideen von der Lehre, daß
der Allmächtige als konkrete Person am Kreuz gelitten hat, unabhängig
sind, finden sich leidensmystische Gedanken nicht nur im Christentum, sondern
auch in anderen Religionen. Im Gegensatz zur ersten Version dieses Umgehungsversuches
wird von Vertretern der >Leidensmystik< ausdrücklich hervorgehoben,
daß Gott Leid schaffe und bewußt einsetze. Aber dieses diene
nicht, wie in der Brückenannahme C betont wurde, zur Entwicklung von
Mitgefühl mit anderen, sondern zur Entwicklung spezieller individueller
Güter, insbesondere eines gottesfürchtigen Lebens.
C. Göttliche und menschliche Güte
Näher ausgeführt, lautet der
Umgehungsversuch C so: Prämisse II bedarf der Modifikation. Natürlich
ist Gott das summum bonum, aber seine Güte ist nicht die unsere. Und
nicht nur Gottes Güte ist mit menschlichen Kategorien nicht zu begreifen,
sondern auch seine Gedanken und Wege sind nicht die unseren. So kann man
es in der Bibel lesen , und so argumentieren auch große Philosophen:
„Der Gegenstand Gottes hat etwas Unendliches an sich; seine Sorge erstreckt
sich auf das ganze Universum: was wir davon kennen, ist beinah nichts;
und da wollen wir seine Weisheit und Güte an unseren Erfahrungen messen?
Welche Vermessenheit oder besser, welche Absurdität! Den Einwürfen
liegen falsche Voraussetzungen zugrunde; lächerlich ist es, Recht
sprechen zu wollen, wenn man den Tatbestand nicht kennt."
In der Tat erscheinen uns viele Dinge,
die der angeblich allgütige und gerechte Gott geschaffen hat (oder
zuläßt) als negativ: daß er Leiden erster Stufe schafft,
damit andere Menschen Güter zweiter Stufe entwickeln können;
daß er in gänzlich unangemessener Weise Unschuldige, nämlich
künftige Generationen, für die Vergehen ihrer Vorfahren bestraft;
daß er nicht eingreift, wenn Menschen, etwa durch Erdbeben oder Flutkatastrophen,
großes Leid zugefügt wird, aber zugleich jene züchtigt,
die er liebt, kurz: daß es auf Erden eine derartige Fülle an
sinnlosem Leid gibt. Aber, so wird nun behauptet, dies sei eben die menschliche
Sicht der Dinge, und da Gottes Sicht nicht die unsere ist, ist alles das,
was wir bloß als Übel begreifen, in Wirklichkeit gut. >Mag uns
auch vieles als ungerecht und böse und schlecht erscheinen, aber wer
bist du Mensch ...?< Denn SEINE moralischen Kategorien sind nun einmal
nicht die unseren.
D. Ausgleichende Gerechtigkeit im
Jenseits
Immer wieder taucht im Zusammenhang des
Theodizeeproblems die Frage auf, weshalb Gott, falls er allgütig ist,
nicht eingreift, wenn Menschen sich völlig falsch entscheiden, etwa
bei Völker- oder Massenmord. Speziell auf dieses Problem versucht
nun der Umgehungsversuch D eine überzeugende Antwort zu geben. Durch
die Hinzufügung eines Zeitparameters stellt er eine gewisse Modifikation
von Prämisse III dar: Etwas, das selbst gut ist, beseitigt natürlich
das Schlechte, aber nicht notwendigerweise sogleich, sondern erst im Jenseits.
"Die Leiden der Gegenwart bedeuten nichts im Vergleich mit der Herrlichkeit,
die offenbart werden soll", heißt es beim heiligen Paulus (Röm
8.18). Und Hume hat in seinem Dialog über die natürliche Religion
diesen Lösungsversuch Demea in den Mund gelegt: "Haben nicht alle
frommen Geistlichen und Prediger, die sich über ein so fruchtbares
Thema rhetorisch äußerten, haben sie nicht mit Leichtigkeit,
sage ich, für alle Schwierigkeiten, die sich in diesem Zusammenhang
ergeben könnten, eine Lösung gezeigt? Diese Welt ist bloß
ein kleiner Punkt im Vergleich zum Universum, dieses Leben bloß ein
Augenblick im Vergleich zur Ewigkeit. Die gegenwärtigen Übel
werden deshalb in anderen Regionen und in einem künftigen Zeitabschnitt
des Daseins berichtigt."
Das sittliche Gefühl nimmt besonderen
Anstoß an der Ungerechtigkeit des Weltlaufs mit seiner mangelnden
Entsprechung von Verdienst und Schuld. Aber, so heißt es nun, der
Allmächtige läßt zwar die irdische Sonne über Gerechte
und Ungerechte scheinen, einmal wird er jedoch den Spreu vom Weizen trennen!
Mögen auch Menschen die Rolle, die sie im Weltdrama spielen, oft als
bedrückend erleben, so wird es doch eine Erlösung für die
unsterblichen Seelen geben: am Ende aller Zeiten!
V. Die Unlösbarkeit des Theodizeeproblems
Meines Erachtens - und ich habe versucht,
dies in Gottes Güte und die Übel der Welt ausführlich zu
zeigen, vermag kein einziger dieser Lösungsversuche zu überzeugen;
stets verfügen Skeptiker über weitaus bessere Argumente als Theisten.
Sowohl die Brückenannahmen als auch die Umgehungsversuche erweisen
sich, bei genauer Analyse, als löchrige Eimer, die ihren Zweck, nämlich
>das Wasser des Lebens< zu holen, nicht erfüllen können: Die
meisten Lösungsversuche haben überhaupt keinen Boden, manche
haben zwar einen solchen, aber dieser ist irreparabel leck.
Aber gehen wir einmal von dem für
Theisten bestmöglichen Fall aus, daß nämlich ein Lösungsversuch,
möglicherweise sogar alle, gelängen. Dann wäre in der Tat
gezeigt, daß alle Leiden gerechtfertigt wären, es also in der
Welt keine Übel gäbe. Aber damit wäre die Güte Gottes
immer noch nicht gezeigt, und zwar aus den beiden folgenden Gründen:
1. Auch wenn alle Leiden der Welt als notwendig
gerechtfertigt wären, so ist immer noch nicht einzusehen, wie ein
gütiger Gott auf den Gedanken kommen konnte, eine Welt aus dem Nichts
zu erschaffen, in der so viele Leiden notwendig sind. Mit anderen Worten:
Selbst dann, wenn gezeigt werden könnte, daß es in der Welt
keine Übel, also kein ungerechtfertigtes Leid gäbe, so bliebe
immer noch die Frage offen, weshalb der Allgütige eine Welt erschuf,
in der so viele Wesen notwendigerweise leiden müssen.
Die angebliche Heilsgeschichte ist in
vieler Hinsicht eine solche des Unheils. Aber selbst dann, wenn die Ordnung
der Welt und die gelegentlichen Eingriffe Gottes bestmöglich und alle
Leiden unvermeidlich sind, so ist immer noch nicht einzusehen, weshalb
Gott eine Welt erschuf, in der so viele Leiden unvermeidlich sind. Käme
ein gütiges Wesen je auf den Gedanken, eine Welt zu planen, in der,
beispielsweise, gefolterte Kinder notwendig sind, und diesen Plan dann
auch noch in die Tat umzusetzen? "Sage mir offen, ich rufe dich auf, -
antworte: Würdest du, wenn du selbst, nehmen wir an, den ganzen Bau
der Gesetze für das Menschengeschlecht zu errichten hättest,
mit dem Ziel im Auge, zum Schluß alle Menschen glücklich zu
machen, ihnen endlich einmal Ruhe und Frieden zu geben, - doch zur Erreichung
dieses Zieles müßtest du zuvor unbedingt, als unvermeidliche
Vorbedingung zu jenem Zweck, meinethalben nur ein einziges winziges Geschöpfchen
zu Tode quälen, ...- würdest du dann einwilligen, unter dieser
Bedingung der Architekt des Baus zu sein? Antworte mir und lüge nicht!<
>Nein, ich würde nicht einwilligen<, sagte Aljoscha leise."
Selbst dann, wenn alle Leiden der Welt
eine notwendige Funktion haben, ist also immer noch nicht gezeigt, daß
Gott gut ist. Denn es ist nicht einzusehen, weshalb ER eine Welt geschaffen
hat, in der so viel Leid notwendig ist. Aus der Rechtfertigung allen Leids
folgt also nicht die Güte Gottes. Die Rechtfertigung allen Leids ist
zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um die Güte
Gottes zu erweisen.
2. Ziel jeder Theodizee ist die Rechtfertigung
von Leid. Aber unter welchen Bedingungen ist Leid gerechtfertigt? Zur Beantwortung
dieser Frage wurde bislang von menschlichem Handeln und folgender Überlegung
ausgegangen: Ein Chirurg ist dann gerechtfertigt, eine Operation vorzunehmen,
also einem Menschen Leid zuzufügen, wenn die folgenden beiden Bedingungen
gegeben sind:
(a) Die Handlung, also die Operation,
geschieht mit der Absicht, ein Gut zu erwirken, also den Patienten gesund
zu machen, wobei dieses Gut in seiner Qualität das Leid, das durch
die Operation verursacht wird, bei weitem überwiegt, also: kurze Schmerzen
jetzt und lange Freuden dann, und nicht: große Schmerzen jetzt und
geringes künftiges Gut.
(b) Der Handelnde kann - bei bestem Wissen
- das Gut auf keine andere, schmerzlosere Weise bewirken. Der Patient kann
also nicht durch harmlose Medikamente wieder gesund gemacht werden.
Nur wenn diese beiden Bedingungen erfüllt
sind, so wurde bislang argumentiert, ist der Handelnde gerechtfertigt,
Leid zu erzeugen, oder kurz: Leid ist in diesem Fall gerechtfertigt.
Aber zumindest zwei Fragen stellen sich:
Frage 1: Sind die Bedingungen (a) und
(b) tatsächlich hinreichend, um konkretes Leid zu rechtfertigen? Und
Frage 2: Selbst wenn diese Bedingungen
hinreichend sind, um Leid zu rechtfertigen, genügen sie auch, um die
vollkommene Güte, die sittliche Vollkommenheit des Handelnden zu rechtfertigen?
Zur ersten Frage: Sind also die Bedingungen
(a) und (b) hinreichend, um konkretes Leid zu rechtfertigen?
Bemerkenswerterweise sind sie es manchmal,
manchmal jedoch nicht. Hinreichend sind sie dann nicht, wenn es sich -
um beim Beispiel zu bleiben - bei dem Patienten um jemanden handelt, der
im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte ist. In diesem Fall wird der
Arzt, sofern er moralisch korrekt handeln will, das Einverständnis
des Patienten zur Operation einholen müssen. Handelt es sich jedoch
bei den Patienten um Kinder, um Tiere oder um Bewußtlose, also um
Lebewesen, denen man nicht zutrauen kann, daß sie die Situation in
klarer Weise beurteilen können, so spielt diese, also die dritte Bedingung
(Einverständnis des Patienten), keine oder nur eine sehr untergeordnete
Rolle. Allerdings sind die Bedingungen (a) und (b) selbst dann nicht völlig
hinreichend, um Leid zu rechtfertigen, da sich der Arzt um das Einverständnis,
zumindest um die Meinung, der Verantwortlichen, also der Eltern bzw. der
Verwandten des Kindes sowie diejenige der Besitzer des Tieres, kümmern
muß - sofern Zeit dafür bleibt und diese imstande sind, die
Situation klar zu beurteilen. Da jedoch in diesen Fällen die Beurteilenden
dem Patienten nicht so nahe stehen wie dieser sich selbst nahe steht, ist
die dritte Bedingung nicht so fundamental wie im Fall des >im Vollbesitz
seiner Kräfte stehenden Patienten<. Sind schließlich - um
diesen Punkt noch etwas weiterzuspinnen - die zu behandelnden Kinder Vollwaisen
oder die erkrankten Tiere herrenlos, so spielt die dritte Bedingung überhaupt
keine Rolle.
Präziser formuliert lautet diese
so:
(c) Der Handelnde verfügt über
die Zustimmung der Person, der Schmerzen bereitet wird, sofern sie imstande
ist, die Situation klar zu beurteilen. Handelt es sich bei den Patienten
jedoch um Kinder oder Tiere, so muß der Handelnde über die Zustimmung
der Eltern bzw. Verwandten oder der Besitzer verfügen, sofern diese
imstande sind, die Situation klar zu beurteilen.
Sind in einem bestimmten Fall alle drei
Bedingungen erfüllt, so ist der Handelnde mit Sicherheit berechtigt,
ein bestimmtes Leid zu erzeugen. Dieses Leid ist dann gerechtfertigt.
Zur zweiten Frage: Selbst dann, wenn bestimmte
Bedingungen hinreichend sind, um Leid zu rechtfertigen, genügen sie
auch, um die vollkommene Güte des Handelnden zu beweisen? Folgt also
aus gerechtfertigtem Leid die vollkommene Güte desjenigen, der dieses
Leid schafft?
Bemerkenswerterweise lautet darauf die
Antwort, daß dem nicht so ist. Denn aus der Tatsache, daß ein
bestimmtes Leid gerechtfertigt ist, folgt nicht, daß der Handelnde,
der dieses Leid schafft, moralisch tadellos, ethisch vollkommen ist. Es
folgt nur, daß er dies möglicherweise ist, und zwar aus folgendem
Grund:
Auch wenn die Absichten des Handelnden
insofern frei von Tadel sind, da er Leid nur schafft, wenn die Bedingungen
(a), (b) und (c) gegeben sind, so könnten seine Absichten doch in
anderer Hinsicht schlecht sein. Selbst dann, wenn ein Chirurg Leid nur
schafft, wenn die drei Bedingungen gegeben sind, so ist er nur dann von
jedem Tadel frei, wenn die Handlung allein mit der Absicht geschieht, daß
sie das notwendige Mittel zu dem bestimmten Gut ist. Will jedoch der Arzt
beispielsweise auch Machtgefühle empfinden oder seinen Sadismus befriedigen,
wenn er einem Patienten Leid zufügt, so ist sein Tun nicht frei von
Tadel.
Aus der Tatsache, daß ein bestimmtes
Leid gerechtfertigt ist, folgt also nicht, daß der Handelnde, der
das Leid schafft, frei von jedem Tadel ist. Es kann nur gesagt werden,
daß sein Handeln möglicherweise frei von jedem Tadel ist. Also
selbst dann, wenn gezeigt werden könnte, daß alles Leid gerechtfertigt
ist, könnte nur behauptet werden, daß diese Tatsache mit der
Annahme der vollkommenen Güte des Handelnden möglicherweise verträglich
ist. Es könnte aber nicht gezeigt werden, daß der Handelnde
tatsächlich frei von Tadel ist, da wir ja die übrigen Intentionen
das Handelnden nicht kennen.
Um also die vollkommene Güte des
Handelnden zu zeigen, müssen die Bedingungen (b) und (c) sowie folgende,
modifizierte Bedingung (a') gegeben sein:
(a') Die Handlung (in unserem Beispiel:
die Operation) geschieht allein mit der Absicht, ein Gut zu schaffen, also
den Patienten gesund zu machen, wobei das Gut das Leid bei weitem überwiegt.
Nehmen wir nun an, Gott sei der Handelnde.
Auch für ihn müssen, wenn seine Handlungen von uns als gütig
eingesehen werden sollen, dieselben Bedingungen wie für uns Menschen
gelten. Da meines Erachtens keiner der Lösungsversuche des Theodizeeproblems
gelingt, ist ein Großteil des vorhandenen Leids ein Übel, d.h.:
Die Bedingung b bleibt unerfüllt. Denn für viele Formen von Leid
ist nicht einzusehen, welchem höheren Zweck sie dienen sollten, und
für andere Formen von Leid gilt, daß wir uns wesentlich schmerzlosere
Mittel vorstellen können, die denselben Zweck erfüllen.
Aber nehmen wir den für Theisten
günstigsten Fall an, nehmen wir also an, es könnte gezeigt werden,
daß es auf Erden kein einziges Übel gibt. Aber damit wäre
Gottes Güte immer noch nicht gerechtfertigt, und zwar aus den folgenden
zwei Gründen:
1. Gott wäre nur dann vollkommen
gut (Bedingung a'), wenn alle seine Intentionen ausnahmslos lauter wären.
Da uns diese aber unzugänglich sind, können wir auch nicht wissen,
ob diese Bedingung erfüllt ist oder nicht. Selbst dann, wenn Gott
nur Handlungen setzt, die dem Gemeinwohl dienen, so ist immer noch nicht
einzusehen, ob sie allein dem Wohlwollen entspringen. Es wäre möglich,
daß dem so ist, aber da wir es nicht wissen, können wir nicht
in begründeter Weise behaupten, daß Gott vollkommen gut ist.
2. Auch die Bedingung (c) ist nicht erfüllt.
Denn als Gott die Welt erschuf, gab es überhaupt noch keine Wesen,
die ihrer Erschaffung hätten zustimmen können. Dies mag ein spitzfindiges
Argument sein, aber es greift, wenn man an jene Menschen denkt, die bereits
leben und einem höheren Zweck geopfert werden. Angenommen, es wäre
plausibel, daß ein Vulkanausbruch ein notwendiges Mittel zu einem
höheren Zweck ist (um uns beispielsweise an die Schönheit des
Universums zu erinnern). Die davon betroffenen Lebewesen werden jedoch
nicht gefragt, ob sie dies erleiden wollen, ob sie ein notwendiges Opfer
zu einem höheren Zweck sein wollen oder nicht. Nur ein böses
Wesen würde über die Interessen anderer Lebewesen aber derart
rücksichtslos hinwegschreiten.
Aus diesen Überlegungen folgt: Im
Fall göttlichen Handelns ist weder die Bedingung (a') noch die Bedingung
(b) noch die Bedingung (c) erfüllt. Und selbst dann, wenn gezeigt
werden könnte, daß alles Leid gerechtfertigt ist (Bedingung
b), so ist Gottes Güte noch immer nicht gerechtfertigt, da weder die
Bedingung (a') noch die Bedingung (c) erfüllt sind. Somit ist bewiesen,
daß das theodizeische Problem unlösbar ist. Ist aber das Theodizeeproblem
unlösbar, so ist jedes Vertrauen in einen ethisch vollkommenen Gott
blind.
L i t e r a t u r l i s t e
AUGUSTINUS: Bekenntnisse. Stuttgart 1967.
BAYLE, P.: Historisches und Critisches
Wörterbuch, nach der neuesten Auflage von 1740 ins Deutsche übersetzt
von J.C.Gottsched, 4 Bände. Hildesheim/New York 1974-78.
BILLICSICH, F.: Das Problem des Übels
in der Philosophie des Abendlandes.
I. Band. Von Platon bis Thomas
von Aquino. Wien 1955 (2.Aufl.)
-: Das Problem des Übels in der Philosophie
des Abendlandes.
II. Band. Von Eckehart bis
Hegel. Wien/Köln 1952.
-: Das Problem des Übels in der Philosophie
des Abendlandes.
III. Band. Von Schopenhauer
bis zur Gegenwart. Wien 1959.
GEYER, C-F.: Leid und Böses in philosophischen
Deutungen. Freiburg 1983.
HÄRING, H.: Das Problem des Bösen
in der Theologie. Darmstadt 1985.
HEGEL, G.W.F.: Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie. Band III. Frankfurt 1971.
HOERSTER, N. (Hrsg.): Glaube und Vernunft.
Texte zur Religionsphilosophie.
München 1979.
- (Hrsg.): Religionskritik. Stuttgart
1984.
-: Zur Unlösbarkeit des Theodizee-Problems,
in: Theologie und Philosophie 60 (1985), S. 400-409.
HUME, D.:
-: [DR] Dialoge über natürliche
Religion. Stuttgart 1981.
-: [NR] Die Naturgeschichte der Religion
[1757]. Hamburg 1984b.
-: [T] Ein Traktat über die menschliche
Natur [1739/40]. 2 Bände. Hamburg 1973.
-: [UM] Eine Untersuchung über die
Prinzipien der Moral [1751]. Stuttgart 1984a (3. Auflage 2002)
KANT, I.: [MT] Über das Mißlingen
aller philosophischen Versuche in der Theodicee, in: Ders., Band VIII,
S. 253-272.
KOLAKOWSKI, L.: Falls es keinen Gott gibt.
München/Zürich 1982.
LEIBNIZ, G.W.: Die Theodizee [1710]. Hamburg
1968.
MACKIE, J.L.: Das Wunder des Theismus.
Argumente für und gegen die Existenz Gottes [1982]. Stuttgart 1985.
SCHOPENHAUER, A. [ZA]: Zürcher Ausgabe.
Werke in zehn Bänden. Zürich 1977.
- [FW]: Über die Freiheit des menschlichen
Willens [1841], in: ZA Band VI.
- [PPa]: Parerga und Paralipomena [1851].
Erster Teil = ZA Band VII und VIII.
- [PPb]: Parerga und Paralipomena [1851].
Zweiter Teil = ZA Band IX und X.
- [WWVa]: Die Welt als Wille und Vorstellung
[1819]. Erster Teil = ZA Band
I und II.
- [WWVb]: Die Welt als Wille und Vorstellung
[1819]. Zweiter Teil = ZA Band III und IV.
STREMINGER, G.: David Hume. Reinbek 1986
(3. Auflage 2002)
-: Gottes Güte und die Übel
der Welt. Das Theodizeeproblem. Tübingen 1992.
SWINBURNE, R.: The Coherence of Theism.
Oxford 1977.
-: Die Existenz Gottes [1979]. Stuttgart
1987.
|