Prof. Dr. Gerhard Streminger

Diesseitiges Glück

Publiziert in: Roland Seim (Hg.), "Mein Milieu meisterte mich nicht." Festschrift für Horst Herrmann. Münster 2005, S. 44-54.


Im gegenwärtigen Diskurs zur religiösen Frage wird von Vertretern der traditionellen Lehre wohl kein Argument häufiger vorgebracht als dieses: »Es gibt ohne Gott keinen Sinn im Leben«.

Das menschliche Leben sei, so die Behauptung, in einen kosmischen Sinnzusammenhang eingebunden, der durch den göttlichen Willen gestiftet werde. Dieser Wille Gottes weise den Menschen eine konkrete Aufgabe zu und dadurch, dass das individuelle Leben seinen Ort im göttlichen Heilsplan einnähme und der Einzelne sein Tun auf diese göttlichen Gebote ausrichte (»DEIN Wille geschehe!«), bekomme das menschliche Dasein erst seinen wahren Sinn. Wer die ihm zugewiesene Rolle im göttlichen Geschehen gut spiele, wer also sein diesseitiges Leben nach dem Heilsplan Gottes gestalte, der dürfe nach dem Tod himmlische Seligkeit erhoffen.–

Was ist nun von diesem berühmten, immer wieder zu hörenden Argument zu halten? Aufgrund der folgenden Einwände erscheint es, zumindest zunächst einmal, als wenig plausibel.

I. Einwand (Gottes Existenz)

Die monotheistische Argumentation setzt unter anderem voraus, dass EIN (und nur ein) Gott existiere. Seit Jahrtausenden wurde diese Behauptung zu begründen versucht, doch alle derartigen Versuche sind misslungen. Für die Richtigkeit dieser Behauptung gibt es wohl keinen besseren Hinweis als diesen: Die allermeisten modernen Theologen haben die Suche nach einem Beweis der Existenz Gottes längst aufgegeben. Sie sprechen nur noch davon, dass man an die Existenz Gottes glauben müsse: »SEIN Sein sei keine Wissenstatsache, sondern eine Glaubenswahrheit!«

Vor dem Hintergrund skeptischer Einwände seit zumindest 250 Jahren opfern moderne Theologen den ehemaligen Wissensanspruch am Altar des Glaubens. Aber sie sind sich selten im Klaren, dass auch dieser fideistischen Position fundamentale Schwierigkeiten eigen sind.

Denn es stellt sich unweigerlich die Frage: Warum sollte gerade der traditionelle Monotheismus für wahr gehalten werden? Warum sollte es nur einen Schöpfer Himmels und der Erde geben und nicht etwa vier oder fünf Göttinnen, wobei einige für das Gute und andere für das Böse verantwortlich sind? Warum sollte dieser eine Gott auch noch barmherzig sein und sollte, so wie die Welt nun einmal beschaffen ist, die Annahme der Existenz eines bösen Dämons nicht ungleich plausibler sein?

Nur die von Jenseitsgläubigen viel geschmähte Vernunft könnte aus der Fülle möglicher Glaubensinhalte eine begründete Antwort zugunsten des klassischen Eingottglaubens geben. Aber hier, nämlich hinsichtlich der Existenz einer erfahrungsunabhängigen Erstursache, schweigt die Vernunft.

Wie wir zumindest seit David Hume und Immanuel Kant wissen, misslingen alle rationalen Versuche einer Rechtfertigung des klassischen Monotheismus. Der menschliche Geist verstrickt sich bei Aussagen über die Existenz von Erstursachen in Absurditäten und Widersprüche und vermag nichts Begründetes über diesen Gegenstand zu erkennen.

Aber Theologen vertreten weiterhin unbeirrt die Meinung, dass über den Ursprung alles Seins mehr als nur Beliebiges ausgesagt werden könne. Während sie hier – unter dem Deckmantel von »Objektivität« – munter ihrem Wunschdenken frönen und Mögliches (bestenfalls!) für wahr halten, kehren sie in Bezug auf empirisch Wahrscheinliches – etwa die Evolution von Körper und Geist – oftmals den tiefsinnigen und gedankenschweren Skeptiker hervor. Aber in Wahrheit sind sie als »Lehrer des Theismus«, als Priester, Pastor, Mullah oder Rabbi, in einer ausweglosen Lage:

Um aus der Menge an möglichen Glaubensinhalten jene herauszufiltern, die am besten begründet ist, müsste die Vernunft bemüht werden. Aber bezüglich der Existenz und Beschaffenheit von Erstursachen schweigt sie. Doch anstatt den Theismus als unbegründbar aufzugeben und den lieben Gott in einer großen Feier unter freien Himmel, mit Trommeln und Tänzen und Gesängen, ein für allemal zu verabschieden, um endlich einer für die Gesellschaft nützlicheren Tätigkeit nachgehen zu können …, also: Anstelle eines solchen Festes bemühen »Gotteskundige« erneut den reinen Glauben für ihre Behauptungen, obwohl dieser nicht imstande ist, eine der vielen Möglichkeiten als wahr auszuzeichnen.

Allein schon ob dieser Willkür sind alle Versuche, den Sinn des Lebens von einem Gott abhängig zu machen, ziemlich problematisch.

2. Einwand (Gottes Güte)

Das theistische Sinnargument setzt nicht nur die Existenz Gottes voraus, sondern nimmt zudem an, dass der göttliche Heilsplan »gut« und »gerecht« sei. Diese Behauptung wird dadurch gestützt, dass der göttliche Planer selbst als gut und gerecht begriffen wird. ER werde, so heißt es, am Jüngsten Tag für alle auf Erden begangenen Taten belohnen und bestrafen, also im Jenseits ausgleichende Gerechtigkeit üben.

Was ist nun von der Behauptung der Güte, der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, kurz: der moralischen Vollkommenheit Gottes zu halten? Bei diesem positiven Gottesbild taucht unweigerlich das Problem der Theodizee auf, also die Frage, wie Gottes Güte verträglich sein sollte mit den Übeln der von IHM geschaffenen Welt. Wie könnte der angebliche Schöpfer Himmels und der Erde, also der mächtige Erschaffer von Milliarden Sonnensystemen, wenn er auch noch gut und gerecht ist, etwa Flutkatastrophen und Vernichtungslager mit Monstern in Menschengestalt zulassen? Denn jedes menschliche Wesen, sofern es nur gerecht oder sogar gütig ist, würde – wenn es die Macht dazu besäße – einem solchen Ausbruch an Zerstörung oder roher Gewalt augenblicklich Einhalt gebieten.

Viele Theologen haben sich bemüht, das angebliche Wohlwollen Gottes in Einklang zu bringen mit den irdischen Leiden. Dieses ernsthafte Bemühen ist durchaus verständlich, denn nur zu einem Wesen, das gut und gerecht ist, kann man eine echte Vertrauensbeziehung aufbauen; nur ein solches Wesen ist der Garant für Moralität; und nur dann, wenn Gott auch gut und gerecht ist, macht die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits Sinn.

Doch auch hier missglückten alle theologischen Versuche der Rechtfertigung der positiven Eigenschaften Gottes. Der bekannteste Lösungsversuch, nämlich alle Übel der Welt – etwa Erdbeben oder Kakerlaken – auf die menschliche Willensfreiheit zurück zu führen, setzt zunächst die Klärung der Frage voraus, ob menschliche Freiheit notwendigerweise ihren gelegentlichen Missbrauch mit einschließt oder nicht. Müssen Menschen, um überhaupt frei – und nicht bloß Automat – zu sein, das Böse gelegentlich wählen oder ist dies nicht nötig?

Wird die Frage bejaht, so stellt sich sogleich die weitere Frage, warum dann die ersten Menschen (und mit ihnen alle anderen kollektiv) bestraft werden. Denn sie hatten doch nur das ihnen von Gott geschenkte überragende Gut der Freiheit genossen. Wird hingegen die Frage verneint, wird also behauptet, dass menschliche Freiheit ihren gelegentlichen Missbrauch nicht notwendigerweise mit einschließt – und in der Theologie wird die Existenz von Wesen behauptet, die in Freiheit stets das Richtige tun, nämlich die guten Engel – ... schließt also menschliche Freiheit ihren gelegentlichen Missbrauch nicht notwendigerweise ein, dann taucht sogleich die weitere Frage auf, warum Menschen ihre Freiheit so oft missbraucht haben und missbrauchen.

Die einzige plausible Antwort darauf ist diese: Offensichtlich sind die Menschen und die Umstände, in denen sie leben, schlecht geschaffen, und die Schuld fällt wiederum auf denjenigen zurück, der die Welt angeblich aus dem Nichts gemacht hat, und das ist Gott.

Denn woher, wenn nicht vom Schöpfer Himmels und der Erde, sollte die behauptete Verderbtheit der Menschennatur stammen? Woher der Wunsch einiger Menschen, so zu sein wie Gott? Und warum wird weiterhin verkündet, dass das Negative im göttlichen Schöpfungsplan ursprünglich gar nicht vorgesehen war, sondern alles Negative erst durch die Verfehlungen der ersten Menschen – der Tod ist der Sünde Sold – in die Welt kam?

Aber falls man der Wissenschaft trauen darf, dann gab es den Tod schon geraume Zeit, ehe »Sünder« existierten und die ersten Menschen das Schlachtfeld betraten; also kann schon deshalb der biblische Schöpfungsbericht nicht richtig sein.

Mit der menschlichen Willensfreiheit lässt sich das Theodizeeproblem also nicht lösen. Ein weiterer, häufiger Lösungsversuch ist der Schluss, dass es zwar im Diesseits keinesfalls gerecht zugehe (den Guten gehe es oft schlecht und den Schlechten oft gut), dass uns dafür aber ein gerechtes Jenseits erwarte: »Dort werde Gott für alles erlittene Leid und Unrecht Gerechtigkeit üben«.

Dieser Schluss erinnert jedoch an Folgendes: Man erhält eine Kiste voll Eier, öffnet diese und sieht, dass die oberste Lage weitgehend verdorben ist. Daraus schließt man dann – wenn man nur gewissenhaft theologische Bücher studiert hat –, dass deshalb, weil die oberste Lage von Eiern verdorben ist, die übrigen vorzüglich sein werden. Viel überzeugender wäre allerdings folgender Schluss: Weil die oberste Lage Eier stinkt, ist die Vermutung, dass die Kiste als Ganze verdorben ist, plausibler als die Vermutung, dass sie es nicht ist.

Wir haben bessere Gründe für die Annahme, dass ein Gott, der sich im Diesseits nicht als gerecht offenbart, es auch anderswo nicht sein wird. Weil Gott im Diesseits nicht gerecht ist, sollte man ihn überhaupt nicht gerecht nennen; und die Vorstellung einer »ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits«, also die Idee künftiger Belohnungen und Bestrafungen für diesseitiges Verhalten, aufgeben. Auch hier befinden sich Theisten in einer ausweglosen Lage: Weil das Diesseits nicht gerecht ist, wird eine ausgleichende Gerechtigkeit, also ein gerechtes Jenseits behauptet. Aber weil das Diesseits nicht gerecht ist, ist die Vorstellung eines gerechten Jenseits wenig plausibel. Warum sollte das Höchste Wesen dort gerecht sein, wenn es hier nicht gerecht ist?

Weil somit weder die Behauptung der Existenz Gottes noch Seine Güte und Barmherzigkeit gerechtfertigt werden können (auch bezüglich der göttlichen Attribute sprechen moderne Theologen nur noch von Glaubenswahrheiten), sollten wir auch den angeblichen göttlichen Heilsplan nicht »gut« und »gerecht« nennen. Es ist deshalb auch sehr problematisch, den eigenen Willen vor dem Hintergrund angeblich göttlicher Forderungen aufzugeben, den eigenen Willen gleichsam »dem Schicksal Gottes zu überantworten«. Denn nicht mehr die Verteidigung Gottes angesichts der Leiden der Welt ist plausibel; die Anklage ist es.

Moralität, die für ein gedeihliches Zusammenleben natürlich unbedingt erforderlich ist, muss anders als mit dem Hinweis auf den göttlichen Willen und göttliche Gebote gerechtfertigt werden. In der »Aufgabe« des eigenen Willens angesichts angeblich göttlicher Forderungen gar den Sinn des Lebens zu sehen, ist somit – vorsichtig formuliert – ein wenig voreilig.

3. Einwand (Seele)

Die theistische Position in der Sinnfrage setzt des weiteren voraus, dass es eine menschliche Seele gibt – also ein Etwas, das unsterblich ist und empfinden kann, da es ja das Objekt künftiger Belohnungen und Bestrafungen sein werde. Die Seele erfahre einmal entweder ewige Seligkeit, also höchst Angenehmes, oder ewige Verdammnis, also höchst Unangenehmes.

Die Hölle ist ein äußerst bedauernswerter Ort, der üblicherweise detaillierter als der Himmel geschildert wurde. Was sich in der Hölle abspielt, hat die religiöse Phantasie ziemlich deutlich gemacht – Heulen und Zähneknirschen –, aber wodurch zeichnet sich der Himmel aus? Es werde, so die spärlichen Angaben, kein Leid mehr geben, auch keinen Tod, keinen Alkohol, und schon gar keinen Geschlechtsverkehr.

Glücklicherweise hat Thomas von Aquin eine konkretere Beschreibung himmlischer Freuden gegeben. Dem »ersten Lehrer der heiligen katholischen Kirche« zufolge werde es zu den Glückseligkeiten der Geretteten gehören, dass sie die Leiden der Verdammten in der Hölle – gleichsam im red light district – beobachten dürfen. Aber aller Heiligkeit zum Trotz: »Freude am Leid anderer« ist die klassische Definition von Sadismus; und für die meisten Menschen, natürlich auch für viele moderne Katholiken, wäre ein solcher Himmel die reine Hölle.

Was ist nun, von diesen plastischen Himmels- und Höllenvorstellungen einmal abgesehen, von der Konzeption einer unsterblichen und empfindenden Seele zu halten? Eher wenig. Auch die Behauptung ihrer Existenz erweist sich als so haltbar wie ein Pudding, den man an die Wand nageln will. Denn alle Erfahrungen sind an einen konkreten Körper gebunden; enden dessen Funktionen, so enden auch alle Erfahrungen. Die behauptete Existenz eines Etwas, das ohne Körper wahrnehmen und empfinden kann, also eine entkörperlichte Seele, ist somit eine ziemlich spekulative Annahme.

Dies ist ein weiterer Grund, weshalb es nicht vernünftig ist, künftige Belohnungen für rechtes Verhalten zu erhoffen und auf ewige Seligkeit zu bauen.

4. Einwand 4 (Moral)

Der theistischen Auffassung vom Lebenssinn zufolge gilt das Verhalten im Diesseits als Mittel zur Erlangung eines bestimmten Zwecks: Wer nämlich seine eigenen Wünsche in einem gottgefälligen Leben hintanstellt, der darf auf künftige Belohnungen hoffen; wer hingegen nicht willens dazu ist, dem drohen schwerste Strafen – sogar ewiges Leid. (Das göttliche Gerechtigkeitsempfinden entspricht hier nicht dem menschlichen, demzufolge die Strafe dem Vergehen angemessen sein sollte, und das heißt: Endliche Vergehen eines endlichen Wesens werden mit endlichen Strafen vergolten.)

Was ist nun von dieser Belohnungs- und Bestrafungsmoral, von dieser speziellen Instrumentalisierung des Diesseits zu halten? Wiederum eher wenig. Abgesehen von den bereits vorgebrachten Bedenken, stellt sich die Frage, ob durch dieses Schielen auf künftige Belohnungen die moralische Dimension unseres Daseins überhaupt erfasst wird.

Jemand, der in Mittel (Diesseits)- und Zweck (Jenseits)- Beziehungen denkt und noch dazu von der Sonderstellung menschlicher Interessen überzeugt ist – Ebenbilder, macht Euch die Erde untertan! –, schafft aus seiner Umgebung bloße Kalkulationsobjekte. Dadurch geht deren Eigenwert verloren. So öffnet sich, um ein Beispiel aus der Ästhetik zu bringen, erst in der zwecklosen Betrachtung der Natur der Raum, wird aus »nützlichen« und »unnützen« Dingen – jenseits ihrer jeweiligen Dienstbarkeit – eine Landschaft.

Strebt man für intellektuelle Leistungen durchaus auch nach Anerkennung, so wird der moralische Wert einer Handlung gerade dadurch zerstört, zumindest wesentlich gemindert, dass man für sein Tun – entweder hier oder im Jenseits – belohnt werden will. Strebt etwa eine Mutter nach einer Gegenleistung für das Gute, das sie ihrem Kind getan hat?

Ein genuin moralischer Diskurs setzt voraus, dass es keinen Gott gibt, vor dessen Forderungen und Verlockungen sich Menschen um jenseitige Belohnungen bemühen. Erst dann – und das war wohl auch Kants Intuition – wird ein genuin moralischer Diskurs möglich.

Angesichts einer jenseitigen Welt der leidlosen Seligkeit, eines ewigen Eiapopeia, ist es nicht unplausibel, sich um das Diesseits nur wenig zu kümmern, diese Welt der Übel vielmehr auszubeuten und Unliebsames oder Fremdes zu unterdrücken: "Tiere und Ungläubige sind von Natur aus dazu da, um gefangen und getötet zu werden", heißt es in der angeblichen Offenbarung Gottes, verkündet vom ersten Stellvertreter Gottes auf Erden, vom Heiligen Vater (2 Petr. 2,12).

Die Lehre vom künftigen, ewigen Leben hat viele daran gehindert, sich ihr diesseitiges Glück überhaupt bewusst zu machen, auf die Verbesserung der Institutionen des Staates, der Gesetze, der Moral und Bildung bedacht zu sein. Das Jenseits hat ihre Aufmerksamkeit und viele Energien in Anspruch genommen. Es gibt meines Wissens im Kalender keinen einzigen Heiligen, dessen gedacht würde, weil er etwas Diesseitiges, etwa die Wirtschaft oder die Rechtsprechung, verbessert hätte.

Wenn Moralität von Anteilnahme, Verständnis und Mitgefühl ihren Ausgang nimmt, so birgt eine theistische Moral die Gefahr in sich, dass dieses Fundament eines moralischen Lebens durch das Interesse am eigenen Seelenheil zerstört werde. Echtes Mitgefühl und echte Anteilnahme werden durch den Glauben, dass die Leidenden ohnedies künftige Freuden genießen werden, von Grund auf zerstört. Moralität verliert sich hier im Eigennutz so, wie sich die Wasser der Flüsse im Wasser des Meeres verlieren.

Dieser Appell an das eigene Seelenheil scheint für alle, oder doch für die allermeisten theistischen Systeme zu gelten. Der biblische Jesus etwa hat seine Anhänger durch den Appell an deren Egoismus, nämlich an das eigene Seelenheil zur Befolgung angeblich göttlicher Gesetze motiviert. Auf die berechtigte Frage: Wozu denn diese Gebote befolgen?, gab der Held des Christentums nur die Antwort: Sei klug, sammle nicht Schätze im Diesseits, wo Motten sie zerfressen, sondern sammle Schätze im Himmel! Bei näherem Hinsehen entpuppt sich also die viel gerühmte christliche Liebesethik als bloße Klugheitsmoral.

Im Gegensatz zur gängigen Meinung ist der Theismus, so verstanden, eher eine Bedrohung denn eine Stütze für die Moral. Wie sollte auch etwas im Grunde so Willkürliches, nämlich die Religion, etwas so Notwendigem, nämlich der Moral, Halt geben können?

Die Alternative

Die theistische Antwort auf die Sinnfrage ähnelt, bei Licht besehen, einem löchrigen Eimer, mit dessen Hilfe das Wasser des Lebens nicht weit getragen werden kann. Zudem gäbe es eine Alternative, der nicht der Nachteil der religiösen Konzeption eigen ist, nämlich das Produkt bloßen Wunschdenkens zu sein.

Als Frage formuliert lautet diese Alternative so: Warum sollten diesseitige Zwecksetzungen zu keinem hinreichend sinnvollen Leben führen können? Denn die Erreichung jedes Ziels ist mit Befriedigungen verschiedenster Art verbunden. Um dabei ein möglichst hohes Maß an Genugtuung zu erlangen, sollten von sich und anderen vernünftige Ziele gefordert werden. »Vernünftig« ist ein Ziel dann, wenn es eine Herausforderung darstellt, also zu seiner Erlangung der Freisetzung einer Vielzahl von Fähigkeiten bedarf, ohne Überforderung.

So wäre es ein unvernünftiges Ziel – und ein dummes Beispiel aus der Welt des Sports obendrein –, aus dem Stand zwei Meter hoch springen zu können; aber es wäre für die allermeisten auch ein ziemlich unvernünftiges Ziel, bloß einen Zentimeter hoch springen zu können. Auf besonnene Weise könnten so dem Leben immer wieder neue, rein diesseitige Ziele gesetzt werden, deren Erlangung Glückgefühle auslösen. Neben dem Wohlergehen aufgrund zwischenmenschlicher Beziehungen wäre die Bekämpfung des Elends auf dem Planeten Erde für die allermeisten unserer Anstrengungen Sinn genug.

Jenseitsgläubige sind zu einer solchen Alternative oft überhaupt nicht oder wenn, dann nur mit Widerwillen bereit. Ganz unverständlich ist, von ihrer Warte aus gesehen, dieses Verhalten nicht, denn »es gehe doch in Wahrheit um wichtigere Dinge«. Während viele Humanisten und Aufklärer die Übel der Welt zu bekämpfen trachten, kreist etwa das Neue Testament letztlich nicht um dieses empirische Leid, sondern um noch viel Schlimmeres, nämlich um ewige Verdammnis – und davor sollen Menschen gerettet werden. Auf das künftige Leben sollen sie vorbereitet und vor ewigem Leid sollen sie bewahrt werden!

Zudem heißt es treffender Weise: Not lehrt beten!, also ist es im ureigensten Interesse derjenigen, die aus dem Beten anderer Nutzen ziehen, daß es den potentiell Betenden nicht ganz schlecht, aber auch nicht allzu gut geht. Deshalb wird zu Beginn der Predigten selten vergessen, an die Not, an das physische und moralische Leid und an den Tod zu erinnern.

Die Tragödie

Aber mit dem Setzen vernünftiger, besonnener Ziele ist noch keine Antwort auf gewolltes Unerreichbares gefunden. Wie könnte man in einem rein am Diesseits orientierten Leben mit dem unentrinnbaren Schicksal – Leid, Krankheit, Tod – fertig werden? Alle unausweichlichen Zweckwidrigkeiten sind nun ohne jede kosmische Bedeutung, und es ist unmöglich geworden, aus ihnen irgendeinen metaphysischen Sinn zu pressen. Das unausweichlich Negative muß vielmehr als Teil der empirischen Wirklichkeit begriffen werden.

Aber diese schmerzlichen narzisstischen Kränkungen sind natürlich alles andere als einfach zu ertragen, und eben davon nimmt die theistische Hypothese ihren Ausgang: »Ohne Leid und Tod keine Metaphysik«, wusste spätestens schon Arthur Schopenhauer.

Aber lässt sich auch der Ursprung des Theismus nachvollziehen, so münden die damit verknüpften Hoffnungen in eine intellektuelle Sackgasse. Gegenüber dem blinden Schicksal muss eine haltbarere Alternative der Bewältigung als der Theismus gefunden werden, und eine solche könnte die klassische (griechische, aber auch elisabethanische) Tragödie sein.

Die tragischen Helden ertragen darin, obwohl das Leid in seiner Größe unverdient ist, einige der furchtbaren Schrecken des Daseins – und werden dadurch für andere zur Erlösergestalt. Denn den allermeisten Beobachtern des tragischen Geschehens wird bewusst, dass das größtmögliche Leid zwar auch sie bedroht, dass sie – die immerhin noch in das Theater kommen und jammern und schaudern können – … dass sie also, verglichen mit dem Leid des tragischen Helden, bis jetzt noch gut davon gekommen sind; und dass sie zwar ohnmächtig, aber nicht alleine sind.

Aristoteles war wahrscheinlich der erste, der die kathartische, »reinigende«, purgierende Wirkung der Tragödie abgehandelt hat. Angesichts des Leids von Ödipus, etwa, sind die persönlichen Alltagssorgen und Alltagsängste zumeist nichts anderes als ein Ausdruck von Hybris, von Selbstüberschätzung und Verblendung.

Insoweit erlöst uns die Tragödie von »psychischer Verstopfung« und macht sie uns weise. Denn wir werden durch sie immer wieder daran erinnert, dass das Schicksal in seinen unergründlichen Kapriolen im Inneren pulsiert, während wir an der Oberfläche glauben, beschwingt unsere großen Pläne schmieden zu können.

Die Alternative zur theistischen Antwort auf die Sinnfrage besteht also darin, dem individuellen Leben immer wieder lösbare Ziele zu setzen und deren Grenzen zu akzeptieren. Wir werden zwar immer auch Fremde auf diesem Planeten sein – Menschen werden ohne ihren Willen geboren und die meisten von ihnen werden gegen ihren Willen sterben, die Geliebten zurück lassend; und so, als wäre nichts geschehen, wird die Erde lautlos ihren Weg fortsetzen. Die Hoffnung auf ein ewiges Leben findet hier, nämlich in der Auseinandersetzung mit den titanischen Abgründen der Natur, ihren Ursprung. Aber will man nicht an willkürlichen Aussagen über die Existenz und Beschaffenheit von Erstursachen ersticken, dann ist eine Alternative vonnöten, und diese findet sich in vernünftigen Zielsetzungen – und in der Kunst.

Bei den Griechen verstand sich der Einzelne viel weniger in Opposition zur Natur, sondern diese wurde grundsätzlich akzeptiert und ein wesentlicher Teil der vorhandenen Energien darauf verwendet, sich ihrem Lauf einzufügen.

Nach christlicher Lehre ist nur der Mensch telos, »Ende und Ziel« der Geschichte. Alles Nicht-Menschliche ist bloßes Mittel zu diesem Zweck. Anders in der kosmozentrischen Antike: Dort erlebten Menschen die Natur noch viel unmittelbarer nicht im Sinne der Dienstbarkeit, sondern im Sinne der Mächtigkeit. Diese »Mächtigkeit« galt es dann zu besänftigen – und zu ertragen.

Eine solche Naturerfahrung ist der Ursprung des Anthropomorphismus, also der »Vermenschlichung« der fremden Mächte, damit diese auf die bei uns Menschen übliche Weise beeinflusst werden können, nämlich durch Schmeicheleien, durch Geschenke und Bitten; und für die Gebildeten war diese Mächtigkeit des Schicksals der Ursprung der tragischen Dichtung.

Erst in einer Welt ohne Gott und Jenseits wird ein reiches Leben im Hier und Jetzt – ohne Schielen auf ein Dort und Danach – möglich. Jenseitsgläubige sind überzeugt, den Mitmenschen etwas zu geben – nämlich die Hoffnung –, aber in Wahrheit betrügen sie sie um den Eigenwert des Daseins. Da für Jenseitsgläubige das diesseitige Leben bloß ein Durchgangsstadium, gleichsam eine Durststrecke ist, nehmen sie sich und anderen die Freude am Hier und Jetzt und das Bemühen um eine immanente Bändigung des Entsetzlichen. Aber vielleicht plaudert gerade der biblische Schöpfungsbericht unbeabsichtigter Weise die Wahrheit aus, dass ein Leben mit dem Höchsten Wesen, das sich in der Nähe umherschleicht, gar nicht paradiesisch ist. Lieber arbeiten und Schmerz ertragen und leiden und einmal für immer sterben müssen, aber frei von einem Gott und selbstbestimmt sein. Dieses Wohlgefühl ist ein weiterer Grund, warum der künftige Himmel, wenn Menschen nur nachdächten, für viele gar nicht so erstrebenswert wäre.

Allen, die das Leben bejahen und sich nicht in die transzendente, »wahre« Welt, in diese Hinterwelt locken lassen, wird die Wiederkehr des Gleichen im Hier und Jetzt zum höchsten Glück. Solche Menschen verstehen sich nicht als Produkte eines fernen Gottes, sondern als Geschöpfe dieser Erde; und sie kümmern sich nicht mehr um die priesterlichen Sirenengesänge von einer ewigen, jenseitigen Seligkeit. Nach Friedrich Nietzsche sind sie alle Heiden, denn sie sagen Ja zum Leben.

Heiden leben mit einem anderen Zeitbewusstsein, in dem sie sich an Künftiges erinnern können. Denn während Jenseitsgläubige in großen Zeiträumen denken – von Ewigkeit zu Ewigkeit, vom Anfang der Welt bis zum Jüngsten Gericht – und während speziell für Christen die Zeit linear ist – Gott stirbt nur einmal! – leben Heiden eingebettet in dem Zyklus der Natur. In einer solchen Welt des ständigen Werdens und Vergehens ist das Negative zu einem Teil des Daseins geworden. Heiden verehren die Natur, wissen um das labile Gleichgewicht der Notwendigkeiten Bescheid und haben üblicherweise davor großen Respekt; Theisten hingegen verehren nicht die Natur, sondern den Schöpfer derselben, nämlich den angeblich ewigen Erschaffer des Seins des Seienden, den Ur-grund des Universums, die Fülle aller denkbaren Möglichkeiten – und mehr.

Während es im Heidentum darum geht, das Negative als Teil der Wirklichkeit zu begreifen, bleibt unklar, wie speziell im Christentum das irdisch Negative letztlich positiv bewältigt werden kann. Denn christlicher Lehre zufolge hatte der liebe Gott das Negative gar nicht geplant. Dieses ist kein Teil des ursprünglichen Schöpfungsplans, sondern das Negative kam erst durch uns Menschen – Durch unsere Schuld, durch unsere Schuld, durch unsere übergroße Schuld! – in die Welt. Im jüdisch-christlichen Weltbild ist das irdisch Negative nicht viel mehr als ein bedauerlicher Betriebsunfall, der leicht vermeidbar gewesen wäre.

Deshalb müssen theistische Missionare allen, die sich im Diesseits wohl fühlen, mit Versprechungen und Drohungen eintrichtern, dass sie eigentlich schwere Sünder wären und dass sie das Leben im Hier und Jetzt nicht genießen dürften, wollten sie zu Gott ins Paradies kommen. Um dies zu erreichen, also die stolz getragenen Häupter zu Fall zu bringen, wurde – wie man etwa im Nibelungenlied unter dem Stichwort »Brunhild, die heidnische Königin von Island« nachlesen kann – zumeist auch Täuschung und Lüge bemüht. Der erhabene Zweck heiligt in solchen Fällen die Mittel, und nach allen Schandtaten gibt es zur Beruhigung ja die Beichte, die Buße, die Reue und die rasche Vergebung. Und das Ergebnis dieser Missionierungen im Namen des Theismus? Die Quellen des Lebens sind für alle, gerade auch für Jenseitsgläubige selbst, fast versiegt.

Auch Dionysos, wohl der Ursprung aller tragischen Heroen, wird wie der Held des Christentums gemartert und getötet. Aber er schwebt nach seinem Tod in keiner Wolke gen Himmel, um die Menschen – zur rechten Hand Gottes sitzend – einmal richten (und sich rächen?) zu können. Dionysos kehrt vielmehr Jahr für Jahr zurück, kehrt jeden Frühling heim auf seine Erde – und Pflanzen und Triebe sprießen. Für Menschen, die sich an dieser Unvergänglichkeit erfreuen können, wird die Wiederkehr des Gleichen tatsächlich zum größten Glück.

Fortsetzung:
Gottes Güte und die Übel der Welt.
Tübingen 1992.

 


© Gerhard Streminger