Rezension zu:

GERHARD STREMINGER.: David Hume. Sein Leben und sein Werk
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 1994, 715 Seiten, mit Farbbildern

Sankt David, ein Heide in der Christenwelt

Gerhard Stremingers große Biographie des schottischen Philosophen David Hume

von Kurt Oesterle
Süddeutsche Zeitung vom 7. Dezember 1994

Wiederholt umkreiste sein schottischer Landsmann James Boswell, der geniale Biograph (The Life of Samuel Johnson, 1791), den Philosophen David Hume. Immer wieder setzte er dazu an, diesen großen Ungläubigen und Streiter der Aufklärung zu porträtieren. Zweifellos spürte Boswell, der mit seinen Zettelkästen, Interviewtechniken und quasiwissenschaftlichen Recherchen die Biographik der Moderne begründete, das Einmalige, Nie-Dagewesene, das dieser Zeitgenosse verkörperte. Er bewunderte, ja fürchtete Hume, den nicht wenige im calvinistisehen Schottland für Luzifer in Philosophengestalt hielten, und tauchte doch immer wieder fasziniert bei ihm auf, im Sommer 1776 sogar an seinem Sterbebett.

Manche haben David Hume einen Boswell gewünscht, also einen Schilderer seines Lebens, der alle Register literarischen Erzählens zu ziehen vermag, der den Wechsel der Formen beherrscht – von der Skizze zum Dialog, vom Tableau zur Szene – und der unerwartete, einprägsame Bilder schafft. Der österreichische Philosophieprofessor Gerhard Streminger liefert nun, ohne solch ‘literarische Ambition’, eine akribische, auf Vollständigkeit zielende Rekonstruktion von Leben und Werk, in der keine Anekdote unterschlagen, kein Zitat unterdrückt, keine noch so sehr ins Nebensächliche führende Fußnote unterlassen wird – zuweilen um den Preis der Formlosigkeit.

Soviel Wagnischarakter

Dennoch ist dies ungestalte Buch staunens- und lesenswert. Streminger präsentiert Hume als einen Ahnherrn moderner Philosophie, der es nie ertragen hat, Denken und Leben zynisch auseinanderfallen zu lassen. Der Vernunft mißtraute Hume, Metaphysik hielt er für einen Ausdruck von Aberglauben, nur Erfahrung, Gewöhnung und Phantasie sah er den menschlichen Verstand regieren. In seiner Analyse des Ichs oder auch der Geschichte nahm er ohne Wehmut Abschied vom traditionellen Substanzdenken. Bei ihm gewann das Einzel- und Gesellschaftsleben soviel Wagnischarakter wie bei keinem anderen Aufklärer. Hume verzichtete auch konsequent darauf, überkommene Heilsvorstellungen säkularisierend auf die Geschichte zu übertragen. Schwindelerregend die Freiheit, die dem Humeschen Subjekt zufällt. Zivilität, Individualität und Moralität heißen die Pflichten, die es um seiner selbst willen zu erfüllen hat.

Stremingers größtes Verdienst ist es, mit seiner Gesamtschau auf Leben und Werk das in Deutschland tradierte Hume-Bild zu korrigieren und zu vervollständigen. Denn wer hierzulande Philosophie studiert hat, lernte den Schotten meist nur als lebendigen Beweis Kantscher Größe kennen. Kant pries Hume als den gefährlichsten Metaphysik-Angreifer aller Zeiten, er selbst trachtete indessen nur danach, der ruhmreichste Verteidiger der Metaphysik zu werden; Hume-sicher wollte er sie machen. Außenseiter Schopenhauer legte sich auf die gewohnt polternde Art ins Zeug: schon eine einzige Buchseite des Schotten wiege samt und sonders die Werke der Hegel, Herbart und Schleiermacher auf. Goethe sagte es höflicher. Er mochte die einheimischen Kathederphilosophen nicht und blickte bewundernd auf Bacon und Locke, Shaftesbury und Hume, weil sie Weltmänner waren und auf großen Reisen und in schwierigen (Staats-)Ämtern Erfahrung gesammelt hatten. So einen hätte Goethe lieber als Nationalphilosophen der Deutschen gesehen. In der (mit Schiller) verfaßten Xenie "David Hume" heißt es: "Rede nicht mit dem Volk; der Kant hat sie alle verwirret; / Mich frag’, ich bin mir selbst auch in der Hölle noch gleich."

Hume gehörte zur ersten Generation, die in Schottland nach dem Verlust der Eigenstaatlichkeit und dem Anschluß an England aufwuchs. Von der Zugehörigkeit zu Großbritannien profitierte das Land, Wirtschaft und Kultur gediehen, und die Hoffnung, Schottlands blutige Geschichte endlich abzuschütteln, war groß. Allerdings auch verfrüht, denn nach wie vor wurde verbissen um die richtige Staatsform und den wahren Glauben gekämpft. In solchem Klima entwickelte sich die höchst originelle schottische Variante der Aufklärung, deren "hot-bed", Brutstätte, Edinburgh war.

Humes Kindheit verläuft unter dem Einfluß des Calvinismus. Schuldangst und extreme Gottesfurcht werden ihm und seinen Altersgefährten eingebleut. Lange regiert die Religion noch seine geheimsten Regungen, doch er macht sich in mühsamer Selbstprüfung frei von ihr. Alltägliche Zerstreuungen warten wenige auf den Studenten. In der calvinistischen Stadt, wo Kunst als sündhafter Luxus gilt, gibt es weder Theater noch Kunstgalerie. Brav beendet "Davie" sein Studium, die folgende Ausbildung zum Rechtsanwalt aber bricht er ab. Gegen den Willen seiner Familie beschließt er, Philosoph zu werden. In seiner Lieblings-Denkform, der Skepsis, übt er sich bis zur Selbstverletzung. "Ich wappnete mich fortwährend mit Reflexionen gegen Tod, Armut, Scham, Schmerz...." Seinen endlosen stoischen Exerzitien gibt Hume schließlich die Schuld, seine Gesundheit ruiniert, sein Lebensgefühl abgestumpft zu haben. Er erkennt, daß die beiden Ethiken, nach denen er bisher gelebt hat, Calvinismus und Stoa, Sackgassen sind. Das spornt ihn an, die Moralphilosophie durch eine realitätsgerechtere, empirische Wissenschaft erneuern zu wollen. Doch seine Krise ist nicht nur eine des Kopfes. Oft leidet der junge Hume unter Depression, Hypochondrie, nervösen Störungen, die man damals als "Gelehrtenkrankheit" zusammenfaßt. Sein Leiden ängstigt ihn jedoch nicht, mutig verläßt er im Alter von 23 Jahren die Heimat, um sich bis zur Genesung "in der Welt hin- und herzuwälzen, von einem Pol zum anderen".

Seine Selbstheilung treibt ihn zuerst nach Bristol, wo er als Kaufmannsgehilfe arbeitet, von dort fährt er nach London, das er nie liebgewinnen sollte, und schließlich bereist er Frankreich, das sein Herzensland wurde. In einem Dorf in Anjou schreibt er den zunächst so verkannten und erst lange nach Humes Tod richtig gewürdigten Treatise of Human Nature, sein ungestümes, schroffes Jugendwerk. Voll Aufbruch ist dieses Buch, voll Selbsterkundungs- und Selbstgestaltungsdrang, voll philosophischer Seeluft.

Theater des Geistes

Berühmt wurde aus dem Treatise vor allem die Kausalanalyse. Wir müssen nur die Blickrichtung ändern: Kausalität ist keine Eigenschaft der objektiven Welt, sondern eine Zutat des Subjekts. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, die Abfolge zweier Ereignisse Ursache und Wirkung zu nennen. Und auch Humes Ich-Analyse machte Furore; Streminger nennt sie zu Recht "einzigartig in der westlichen Welt". Ich, das ist nach Hume ein Bündel von Eindrücken und Wahrnehmungen. Es existiert keine Kraft wie die Seele, die sich auch nur für einen einzigen Augenblick gleichbliebe. Der Geist ähnelt einem Theater mit ständig wechselnden Akteuren. Einheit, Identität bilden wir uns lediglich ein. Das Ich ist nur eine Fiktion. Und da es keine seelische Substanz gibt, macht der Tod uns zu etwas "vollkommen Nichtseiendem".

Nach der systematischen Ochsentour des Treatise findet Hume ein Medium, das seinem Temperament eher zu entsprechen scheint: den philosophisch-politischen Essay. Allzu hoch oben in den Nordwänden der reinen Vernunft zwingt er sich immer wieder herunterzuklettern, um Philosophie nach seinem Geschmack betreiben zu können: als "methodisch geordnete und berichtigte Reflexion über das alltägliche Leben". Mit seinen Essays, Dissertaiions und Discourses trägt er zur Etablierung des liberalen Wertesystems in Großbritannien bei; man kann in ihnen durchaus die Ethik des jungen kapitalistischen Bürgertums sehen.

Sympathie heißt die Hauptkraft von Humes anticalvinistischem Menschenbild. Er rehabilitiert die so verdammten, beargwöhnten Gefühle. Ihnen wohnt eine eigene Würde und Moralität inne, sie bilden die Basis der nun verlangten zivilen Solidarität. Im Menschen, nicht in Gott wurzelt die neue Moral, und die sozialen Tugenden stehen höher als alle übrigen. In der religionspsychologischen Studie The Natural Hlistory of Religion, damals einer der schockierendsten und meistdiskutierten Texte Humes, führt er die Religion als die gefährlichste Widersacherin der Moral vor. Dafür war ihm die lebenslange Feindschaft der Strenggläubigen sicher. Mehrmals vereitelten sie Humes akademische Karriere. Und selbst nach seinem Tod schien ihr Haß noch so lebendig, daß Humes Freunde auf dem Friedhof einige Zeit Wache hielten, weil sie eine Grabschändung fürchteten.

In seiner Kindheit war er der "clod", der Tölpel; während der Kämpfe seiner Entscheidungszeit litt er unter Eßzwang, wurde dick, aber auch robust. Fett und derb empfanden ihn dagegen manche Zeitgenossen, und die ihm eigene Anmut brachte ihm den Spitznamen "the bear" ein. Diderot liebte die rosige Heiterkeit des Schotten und streichelte im Brief seine "Bernhardinerwangen". Im fortgeschrittenen Alter brachen sich Humes "violent passions" nur noch selten Bahn. So griff er nun nicht mehr zum Degen, um Gerechtigkeit zu fordern. Von einer Comtesse als Liebhaber zurückgewiesen, weinte er öffentlich, wurde verlacht, wollte sich in einen Brunnen stürzen. "Le bon David" hieß er im Alter, und die Edinburgher Straße, in der er wohnte, trägt seit seinen Lebzeiten den Namen "St. David Street". Mit seinen Verlegern konnte Hume knallhart verhandeln, besonders um seine History of England. Noch nie hatte ein englischer Schriftsteller soviel Geld verdient wie Hume mit diesem mehrbändigen Geschichtswerk.

Stremingers Fleiß ist bewundernswert. Ärgerlich macht den Leser bei der Lektüre nur, wenn er von Projektionen nicht absehen kann. So verfällt er manchmal in moralisierende Kritik ("Dies mag der Brief eines Edelmannes sein, aber er ist eines Hume unwürdig.") oder traktiert den armen Boswell über Seiten hinweg mit Hohn und Spott, wobei er sich selbst die allerkleinlichsten Hinweise auf Boswells Freude an Trunk und Hurenhaus nicht verkneifen mag. Biographie ist eben doch keine voraussetzungslose Gattung! Einer ihrer Meister, Wolfgang Hildesheimer, empfahl den Biographen gar eine Prise psychoanalytischer Selbstkenntnis.

Im Alter genoß David Hume seine Freundschaften nebst üppigen Tafelfreuden (den "dicksten Keiler in Epikurs Stall" nannte ihn ein Barde). Als er an Krebs erkrankte und im Sterben lag, besuchte ihn noch einmal der Biograph Boswell, der sich vielleicht aufrichtiger, als Streminger glauben mag, dafür interessierte, ob dem großen Skeptiker "der Gedanke der Auslöschung nie irgendein Unbehagen bereitete". Hume schüttelte ruhig den Kopf. Zur Enttäuschung seiner Feinde kehrte er nicht zur Religion zurück. Im Sterben bekräftigte dieser "große Heide inmitten einer christlichen Welt" (so ein älterer Biograph), was er gedacht und gelebt hatte.

KURT OESTERLE