Rezension

GERHARD STREMINGER: Gottes Güte und die Übel der Welt. 442 S., Verlag J.C.B. Mohr, Tübingen 1992; ISBN 3-16-145889-3

In: Orientierung, Ausgabe 23/24 (1994) Jg. 58, S. 267-268

Hiob unser Zeitgenosse

Georg Langenhorsts Arbeit «Hiob unser Zeitgenosse»(1) ist gegenwärtig die wohl umfassendste kritische Darstellung der literarischen Hiob-Rezeptionen und Hiob-Auseinandersetzungen von jüdischen christlichen und nichtreligiösen Dichtern und Schriftstellern in Europa und Nordamerika im 20. Jahrhundert. Sie informiert in diesem Zusammenhang auch über wichtige theologische und philosophische Arbeiten über die Hiob- und Theodizeefrage sowie allgemein über Antwortversuche auf Widerfahrnisse von Leiden am Ende des Jahrhunderts. Bei allen Unterschieden zwischen den Arbeiten der Dichter und Schrittsteller sowie denen der Philosophen und Theologen gibt es viele Gemeinsamkeiten:

Die Dichter und Schriftsteller müssen, wenn sie angesichts der grauenhaften Erfahrungen des 20. Jahrhunderts über die verschiedenen Widerfahrnisse von Leiden nicht schweigen können, in der Regel in einer von dem Hiobbuch der Bibel verschiedenen Form sprechen: z.B. in Hiob-Gedichten, -Romanen, -Tragödien, -Komödien und -Satiren sowie Hiob-Essays. Dabei stimmen sie oft mit zentralen Aussagen des Hiobbuches überein, etwa mit diesen: Der unschuldig leidende Hiob muß, wenn er ohne Selbst- und Fremdbetrug und ohne «Trug für Gott» (Hiob) über und zu Gott sprechen will, das bekannte religiöse Erklärungsmodell für Leiden, das Tun-Ergehens-Modell seiner theologischen Freunde, verlassen. Er kann, wenn er aufrichtig sprechen will, in seiner von ihm nicht verschuldeten Leidenssituation über und zu Gott nicht sprechen im Sinne eines religiösen Tauschgeschäfts, das auch in Texten des Alten und Neuen Testaments und für religiöse Menschen, nicht nur für Juden und Christen, sowie bei Theologen bis heute zu den Antwortmöglichkeiten auf Fragen nach dem Leiden gehört: Wenn sich der Mensch recht verhält, wird Gott schon in diesem Leben für sein Wohlergehen sorgen. Wenn es ihm schlecht geht, müssen er oder seine Eltern gesündigt haben. Gott bestätigt Hiob, daß er, und nicht seine Freunde, über und zu Gott «recht geredet» hat. Hiob sucht fragend, klagend, anklagend die Erfahrung der rettenden Nähe Gottes in einer Welt, als ob es Gott nicht gäbe, und er erfährt diese am Ende. Er steigt nicht aus Gott aus, obwohl Gott ihm in seinen «Gottesreden» keine Antwort auf seine bohrenden Fragen nach Grund, Zweck und Notwendigkeit des Leidens in der von Gott geschaffenen Welt gibt.

Das Buch Hiob unterscheidet sich damit radikal von den verschiedenen von Leibniz bis heute entwickelten und diskutierten neuzeitlichen Theodizeespekulationen der Naturwissenschaftler, Dichter, Philosophen und Theologen, in denen sich die menschliche Vernunft in verschiedenen Formen «anmaßt» (Kant), Gott wegen der Widerfahrnisse des Leidens in der Welt vor dem «Gerichtshof der Vernunft» rechtfertigen zu können. Ein Ergebnis der neueren Hiob-Darstellungen und der neueren Theodizeediskussionen kann man so formulieren: Seitdem Menschen, in der Geschichte sehr spät und sehr voraussetzungsreich, den einen weltunabhängigen Gott als Weltschöpfer zu denken versuchen, gibt es für viele Menschen die heute sogenannt allgemeine, die Grenzen der Menschen übersteigende und nicht beantwortbare Theodizeefrage, über die Menschen dennoch nicht schweigen können. Diese unterscheidet sich radikal von den modernen Theodizeespekulationen vor dem Gerichtshof der menschlichen Vernunft in den bisherigen modernen Aufklärungskonzepten, die über sich und ihre Grundannahmen über Gott, Welt und die Größe und das Elend des Menschen selbst nicht aufgeklärt waren.

Die literarischen Hiob-Darstellungen, die Georg Langenhorst vorstellt und analysiert, sowie viele gegenwärtige philosophisch-theologische Sprechversuche über Widerfahrnisse von Leiden(2) gehen in der Regel von zwei Voraussetzungen aus: Wenn Juden und Christen im Sinne der chassidischen Geschichte des «furchtbaren <Vielleicht>» und der Pascalschen «Wette» in einer Welt, als ob es Gott nicht gäbe, auf Gott setzen, sind die Gemeinsamkeiten ihrer Sprechversuche größer als ihre Unterschiede. Wenn religiöse und nichtreligiöse Menschen über die grauenhaften Leiden, über Tod, Untergang und atavistische Schlächtereien nicht schweigen können, sprengen sie den Denkrahmen der seit Leibniz entwickelten Theodizeespekulationen.

Können heutige Theologen «mehr» sagen als Hiob?

Angesichts dieser Diskussionen überraschen die «Entwürfe» einiger christlicher Theologen, von denen Georg Langenhorst mit einigen kritischen Rückfragen berichtet.(3) Aufgrund bestimmter Erlösungs- und Rechtfertigungsvorstellungen über Jesu Tod und Auferstehung glauben diese Theologen, über Leiden, Tod und Untergang «mehr» als Hiob und die neuzeitlichen Theodizeespekulationen sagen zu können beziehungsweise zu wissen, etwa dies: «Der protestantische Exeget Franz Hesse» (4) erklärt, daß «die <Hiobfrage für den Christen prinzipiell nicht mehr aktuell sein kann>, weil das Hiobbuch angesichts der paulinischen Rechtfertigungsbotschaft für Christen überholt sei und <in der Art, wie es seine Fragen stellt und zu beantworten versucht, keine Wegweisung für rechten christlichen Glauben gehen> könne.» (5) Für Karl Barth(6) gilt: «Allein der christlich-nachösterliche Blick auf das Hiobbuch erschließt dessen Sinntiefe adäquat.» Man kann das Hiobbuch nicht angemessen verstehen, «<ohne der – freilich fernen, blassen, fragmentarischen, auch fremdartigen, aber deutlichen – Umrisse gewahr zu werden, in denen sich die Gestalt Jesu Christi... in ihm abzeichnet>» (S. 443). Gottes «wahrhaftiger Zeuge ist aber niemand anders als Jesus Christus selbst, so daß man <bei aller gebotenen Zurückhaltung> im Sinne einer Analogie von Hiob als <von einem Typus Jesu Christi, einem Zeugen des wahrhaftigen Zeugen> (S. 448) reden dürfe.»(7) Für Hans Küng (8) ist der Ausgangspunkt christlichen Denkens: «<Wo die Hiob-Erzählung endet, da fängt das Evangelium Jesu Christi an>; <Was in der Hiob-Erzählung nur am Ende als Möglichkeit aufscheint, ... das wird durch Christi Leiden und neues Leben Wirklichkeit> (S. 52). Wo für Hiob letztendlich Gottes Unbegreiflichkeit stand, vermittelt Christus über diese hinausgehend die <Gnade>, die den Menschen ein voraussetzungsloses und vertrauensvolles Sicheinfügen in Gottes Willen ermöglicht und darüber hinaus alle, auch die gottfernen Menschen, rechtfertigt.» Trotz der wachsenden differenzierten Kritik bei neueren philosophisch-theologischen Diskussionen zu neuzeitlichen Theodizeen und zur allgemeinen Theodizeefrage spricht Küng schlicht von der «<eigentlichen, einzig wahren Theodizee>(S.54)». Diese ist «eine göttliche Theodizee: <die Rechtfertigung Gottes selbst in der Rechtfertigung des gottfernen Menschen>» (S. 55).(9)

Hierzu nur einige kurze Fragen: Sind diese Spekulationen über die schon vollbrachte Erlösung in dieser «einzig wahren Theodizee» nicht sehr weit entfernt von den wirklich Leidenden und den Fragen und Klagen der Menschen, auch derjenigen, die in einer Welt, «in der Erlösung nicht vorweggenommen werden kann» (G. Scholem), die Erfahrung der Nähe des rettenden Gottes suchen? Sind diese Spekulationen nicht weiter von den leidenden Menschen entfernt als viele Darstellungen und Antwortversuche der Dichter und Schriftsteller des 20. Jahrhunderts? Gehören zum jüdisch-christlichen Denken nicht von Anfang an das Bilderverbot und die negative Theologie sowie der Satz des Paulus: «Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht?» (Röm 8,24)

Georg Langenhorsts Fazit seiner gelungenen Analysen, die über Werke von Dichtern und Schriftstellern des 20. Jahrhunderts informieren, die selbst Kennern schwer zugänglich sind, die nachdenklich machen und herausfordern, ist: Auch im 20. Jahrhundert müssen Menschen nicht im Gegensatz zu Hiob aus angeblich moralischen, wissenschaftlichen, philosophischen und anderen Gründen aus Gott ausziehen. Was Bloch und andere, auch Theologen, oft im Anschluß an Bloch, glaubten sagen zu müssen, das war und ist nicht das einzige und vor allem nicht das letzte Wort: z. B. Dorothee Sölle: «Hiob ist stärker als Gott: Hiobs Denken muß zum Atheismus führen, aus moralischen Gründen»(10) oder Gerhard Streminger: Aus der Unlösbarkeit des Theodizeeproblems folgt, daß die «Zuflucht zum traditionellen Glauben eines denkenden Wesens unwürdig»(11) ist. Auch heute können Menschen, wenn sie in einer Welt, als ob es Gott nicht gäbe, über die Widerfahrnisse von Leiden nicht schweigen können, wie Hiob ohne Selbst- und Fremdbetrug sowie ohne «Trug für Gott» (Hiob) auf den rettenden Gott setzen und über ihn und zu ihm zu sprechen versuchen, auch dann, wenn sie ihre Suche nach Erfahrungen der Anwesenheit Gottes in seiner Abwesenheit nicht wie die Gottesreden des Hiobbuches aussprechen und darstellen können.

Willi Oelmüller, Münster/Westf.

Anmerkungen:

(1) G. Langenhorst, Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische Hiob-Rezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung. Matthias-Grünewald-Verlag, Mainz 1994. 448 Seiten, DM 64.–.

(2) Siehe hierzu etwa die Diskussionseinleitungen von R. Spaemann, O. Marquard, G. De Schrijver, W Oelmüller, H. J. Adriaanse, J.B. Metz sowie die ausführlichen autorisierten Protokolle dieser Diskussionen in: W. Oelmüller. Hrsg., Worüber man nicht schweigen kann. Neue Diskussionen zur Theodizeefrage. Sonderausgabe, München 1994; siehe ferner: W. Oelmüller. Philosophische Aufklärung. Ein Orientierungsversuch. München 1994, Kap. 7: Wie sprechen über Widerfahrnisse von Leiden, wenn man darüber nicht schweigen kann? Kap. 8: Wie sprechen über und zu Gott in einer Welt, als ob es Gott nicht gäbe? (S.119-167).

(3) Vor allem S. 351-406.

(4) F. Hesse, Hiob. Zürich 1978, S.20.

(5) Langenhorst, S. 351.

(6) K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik. Bd. 1V/3: Die Lehre von der Versöhnung. Zollikon/Zürich 1959.

(7) Langenhorst, 5.359.

(8) H. Küng, Gott und das Leid. Einsiedeln 1967.

(9) Langenhorst, S.377.

(10) D. Sölle, Leiden. Stuttgart 1973, 5.145 (zit. bei Langenhorst, S.336).

(11) G. Streminger, Gottes Güte und die Übel der Welt. Das Theodizeeproblem. Tübingen 1992, S. 377 (zit. bei Langenhorst, S.344).

58 (1994) ORIENTIERUNG