Rezension zu:

David Hume: "Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral"

Übers. u. hrsg. v. Gerhard Streminger
Reclam Verlag, Stuttgart 1984. 304 S., Bd. Nr. 8231

 

Moral ist wieder aktuell

Untersuchungen von David Hume und Francis Hutcheson

Von Helmut Rath
FAZ vom 20. November 1984

Probleme der Moral bilden derzeit einen Schwerpunkt der philosophischen Forschung. Die Philosophie kommt damit dem Bedürfnis der Gesellschaft nach moralischer Orientierung entgegen. Wie viele andere Lebensbereiche hat auch das Moralsystem durch die industrielle Revolution einen enormen Kontinuitätsbruch erfahren. Zahlreiche Normen, Wertungen und Institutionen, deren Geltung über Generationen unbestritten war, haben heute ihre Verbindlichkeit eingebüßt. Die emotionsgeladene Diskussion um den Paragraphen 218, das Für und Wider in der Frage der Sterbehilfe, Kontroversen um eine gerechte Wirtschaftsordnung, der Streit um den Sinn einer ökologischen Ethik – das sind nur einige Beispiele aus der letzten Zeit, die zeigen, daß der Fundus gemeinsamer moralischer Überzeugungen in der Industriegesellschaft nicht eben groß ist.

Es wäre aber verfehlt, diesen Tatbestand bloß kulturpessimistisch zu beklagen. Das öffentliche Eingeständnis der moralischen Diskordanz kann auch ein erfreuliches Anzeichen für die geistige Vitalität der traditionslos gewordenen Gesellschaft sein. Daß Standpunkte der Moral nicht selbstverständlich hingenommen werden, ist durchaus begrüßenswert, und ihre kritische Beurteilung bildet nicht schon per se den Prozeß der Auflösung und Verflüchtigung.

Das ist von – vorzugsweise – konservativen Autoren immer wieder behauptet worden. Ihre Befürchtung, daß die Aufklärung eines Sachverhaltes bereits den Keim seiner Zersetzung einschleppe, haben sie aber nie einleuchtend begründen können. Meist trugen sie eine Menge historischer Beispiele vor, die ihre These belegen sollten, daß das In-Frage-Stellen moralischer Normen einen verderblichen Einfluß auf die Gesellschaft habe und ihrer Integration kraß zuwiderlaufe. Dem ist (neben Gegenbeispielen) entgegenzuhalten, daß sie zwischen einer Sache und deren Mißbrauch, zwischen Kritik und demagogischem Querulantentum nicht hinreichend unterscheiden.

Wer für eine kritische Sichtung moralischer Normen und Institutionen eintritt, sollte den Mißbrauch andererseits nicht zu leicht nehmen. Das gedankliche Experiment auf dem Felde der Moral setzt etwas voraus, das man geistige Verantwortung nennen könnte. Damit ist nicht das Vorhandensein besonders hehrer Gesinnungen und hochtrabender Überzeugungen gefordert. Gemeint sind eher formale Qualitäten: die Bereitschaft zur disziplinierten Argumentation, der Wille zur Rationalität.

Daß es gerade daran mangelt, ist in den öffentlichen Diskussionen immer wieder zu beobachten. Doch ist das Hin und Her unreflektierter Meinungen glücklicherweise nicht das Musterbeispiel eines moralischen Disputes. Wer in dieser Lage um Klarheit seiner sittlichen Überzeugungen bemüht ist, kann dagegen aus der Ethikdiskussion der Gegenwart eine Menge an Anregungen und Hilfen schöpfen.

Ihr wissenschaftlicher Charakter ist dem starken Einfluß zuzuschreiben, den die analytische Philosophie auf sie ausübt. Das entbehrt nicht einer gewissen geistesgeschichtlichen Ironie, denn die Klassiker der analytischen Philosophie sprachen ihrer Wissenschaft gerade jede Kompetenz für die Begründung moralischer Forderungen ab. Da diese mit den Methoden der deduktiven oder empirischen Wissenschaften nicht möglich ist, gab es ihrer Ansicht nach überhaupt keinen Weg, auf rationale Art und Weise moralische Normen zu legitimieren.

Vermutlich gibt es heute nur noch sehr wenige Philosophen, die diese Auffassung vertreten. Die strenge Gleichsetzung von Rationalität und Wissenschaftlichkeit würde in der Tat eine philosophische Normenbegründung unmöglich machen. Wenn die Ethik heute eines der zentralen Themen der Philosophie bildet, dann deshalb, weil sie einen erweiterten Begriff der Rationalität entwickelt hat. Die Entdeckung, daß auch im außerwissenschaftlichen Alltag rational diskutiert wird, hat die Philosophie veranlaßt, sich wieder mit moralischen Fragen zu beschäftigen. Das hat – nach dem Titel einer wichtigen Edition auf diesem Gebiet – zur "Rehabilitierung der praktischen Vernunft" geführt.

Wie bedeutsam ist aber der Anteil der Vernunft am Aufbau der Moral? Darüber gehen die philosophischen Meinungen natürlich weit auseinander. Die Auffassung, daß sich sozusagen lupenrein moralische Forderungen aus Vernunftgründen herleiten lassen, steht neben solchen Überzeugungen, die der Vernunft nur eine marginale Funktion zuweisen.

Alle diese Auffassungen sind, wie so häufig in der Philosophie, bereits in der Geschichte formuliert worden. Eine sehr realistische Theorie des Verhältnisses von Vernunft und Moral ist vermutlich in der englischen Moralphilosophie des 18. Jahrhunderts aufgestellt worden. Ihre Aktualität für die gegenwärtige Ethik ist unbestreitbar und scheint sogar noch zuzunehmen. Daher ist es zu begrüßen, wenn zwei der wichtigsten Texte dieser Zeit jetzt als leicht erreichbare Reclambändchen vorliegen.

Beide Autoren, Francis Hutcheson und David Hume, gehören zu den Empiristen. Hume ist sicher der wichtigste Vertreter einer auf Erfahrung beruhenden Philosophie, Hutcheson der erste, der den Empirismus konsequent auf Probleme der Ethik anwandte. Humes Ruhm gründet bis heute fast ausschließlich auf seinen Leistungen in der Erkenntnistheorie. Die Edition seiner "Untersuchungen über die Prinzipien der Moral" lenkt nun den Blick auf den noch immer unterschätzten Moralphilosophen. Diese zweite "Untersuchung" enthält wie die erste "Untersuchung über den menschlichen Verstand" eine Um- und Weiterbildung der in seinem Hauptwerk aufgestellten Überzeugungen. Der Herausgeber Gerhard Streminger beleuchtet in seinem aufschlußreichen Vorwort das Verhältnis dieser Schrift zum "Traktat" und vermutet, daß eine stärkere Beachtung der "Untersuchung" das landläufige Urteil über die Moralphilosophie Humes entscheidend revidieren wird.

Humes Intention ging nämlich viel weiter, als es aus dem "Traktat" ersichtlich ist. Hier, in seinem gewaltigen Jugendwerk, steht er noch ganz im Banne der Fragestellung von Thomas Hobbes. Diese zielte auf den Ursprung der Moral, die Hobbes aus dem rationalen Egoismus des Menschen erklärte. Diese These hat Hume bekanntlich entscheidend revidiert. Aber sein Ansatz der Moralphilosophie reicht erheblich weiter. Nicht nur der Ursprung unserer normativen Ansprüche erschien ihm aufklärungsbedürftig, sondern auch die Art ihrer Beurteilung. Sie bilden das Thema der "Untersuchung", die somit mehr als eine bloße Akzentverschiebung der Fragestellung des "Traktates" ist.

Anders als Hume ist Hutcheson für die deutsche Philosophie überhaupt erst zu entdecken oder eigentlich wiederzuentdecken. Dieser Schüler von Shaftesbury war einer der einflußreichsten Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts. Er hat Hume, Smith und den jungen Kant inspiriert und gehört zu den Pionieren des Utilitarismus. Die berühmte Formulierung des Moralprinzips dieser zielgerichteten Nützlichkeitsmoral The greatest happiness of the greatest numbers stammt von ihm. Im übrigen war er, was selten ist, ein philosophischer Spezialist. Seine Leistungen liegen ausschließlich auf dem Gebiet der Moralphilosophie. Sein Verdienst besteht in der Ausarbeitung und Systematisierung der moral-sense Philosophie. Diese Theorie nimmt ein spezifisches jedem Menschen eigentümliches Organ an, das befähigt, Handlungen und Verhaltensweisen als (moralisch) richtig oder falsch zu qualifizieren. Im Sinne eines einfachen Realismus ist das freilich nicht zu verstehen. Neue Untersuchungen haben eher gezeigt, daß Hutcheson als Vorläufer bestimmter moderner Theorien über die Bedeutung moralischer Ausdrücke zu verstehen ist. Der amerikanische Philosoph William K. Frankena erblickt in Hutcheson einen Vertreter des Emotivismus. Nach dieser Theorie sind moralische Wörter Ausdruck von Gefühlen. Moralische Urteile enthalten demnach überhaupt keine Erkenntnisse, sondern sind Appelle, Formen der Beeinflussung und Überredung. Ob die Lehre vom moralischen Sinn so angemessen interpretiert ist, ist natürlich bezweifelt worden, und es wurde der Versuch gemacht, sie im Sinne konkurrierender Theorien zu interpretieren.

Vermutlich wird man Hutscheson nicht endgültig auf eine der Theorien über die Bedeutung der moralischen Sprache festlegen. Das freilich mindert nicht den Reiz, Hutcheson weiter im Lichte der sprachanalytischen Ethik zu studieren. Wenn man unter einem philosophischen Klassiker einen Autor versteht, den zu studieren aus systematischen Gründen unerläßlich ist, dann wird man Hutcheson sicher zu den Klassikern der Moralphilosophie rechnen.

David Hume: "Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral". Übers. u. hrsg. v. Gerhard Streminger: Reclam Verlag, Stuttgart 1984. 304 S., Bd. Nr. 8231.

Francis Hutcheson: "Erläuterungen zum moralischen Sinn". Aus dem Engl. u. hrsg. v. Joachim Buhl. Reclam Verlag, Stuttgart 1984. 136 S., Bd. Nr. 8024.