Rezension zu:

Gerhard Streminger,
Der natürliche Lauf der Dinge. Essays zu Adam Smith und David Hume,
Metropolis, Marburg 1995, 256 Seiten.

Wirtschaft und Gesellschaft – 22. Jahrgang (1996), Heft 2

DIE GESELLSCHAFTSTHEORIEN DER SCHOTTISCHEN AUFKLÄRUNG

Die Arbeitshypothese der Aufklärung, nämlich daß die Welt nicht einer göttlichen Ordnung entspreche, in der der Mensch einen wohldefinierten Platz und eine wohldefinierte Bestimmung habe, mußte zunächst große Unsicherheit hervorgerufen haben. Nichts, was früher als wahr gegolten hatte, war mehr zu akzeptieren. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf die wir uns heute ganz selbstverständlich berufen können, gab es noch nicht. Es gab nur den Verdacht, nichts zu wissen. Wenn wir uns heute etwa fragen, wieso denn dieses oder jenes Ereignis, sei es in der Natur oder der Gesellschaft, möglich ist, so können wir immer bestehende wissenschaftliche Theorien verwenden, um Erklärungen zu finden. Es ist zwar nicht so, daß wissenschaftlich gesichertes Wissen, also Wissen, das intersubjektiv nachvollziehbar ist und nach methodischen Regeln gewonnen wurde, eindeutige Resultate liefert – man denke nur an Erklärungen für Arbeitslosigkeit, Krieg, Völkermord – aber sie liefern zumindest einen, oder auch mehrere, Rahmen, innerhalb dessen diese Probleme diskutiert werden können. Dabei werden mit den Lösungen für die Probleme auch die wissenschaftlichen Methoden weiterentwickelt.

Die Wissenschaft gibt Ordnung. Wir wären ohne Wissenschaft nicht in der Lage, einfache Fragen vernünftig zu diskutieren. Daher können wir heute leicht auf teleologisch vorgegebene Ordnungsschemata verzichten. Die wohl wichtigste Frage war, wie denn so etwas wie menschliche Gesellschaft möglich sei; denn wenn die Ordnung, in der Menschen leben, nicht einem göttlichen Plan entspricht, sich also Menschen in der Organisation ihres Lebens sich nicht mehr auf göttliche Ordnung beziehen können, dann kann die Diskrepanz zwischen einer sittlich gerechtfertigten Ordnung und ethischem Handeln einerseits und der bestehenden Ordnung und wirklichem menschlichen Handeln andererseits nicht mehr nur in Kategorien von gutem und bösem Handeln gesehen werden. Positive und normative Gesellschaftstheorie erhalten ein neues Verhältnis.

In keiner Gesellschaftstheorie wurde die Frage so radikal gestellt wie in der der schottischen Aufklärung. Während die Franzosen, insbesondere Rousseau, der Gesellschaft ein begriffliches Primat vor dem die Gesellschaft konstituierenden Individuen einräumten und letztlich auch der organisierten Gesellschaft ein politisches Primat gegenüber den Individuen zubilligte, so fragte die schottische Aufklärung nach den Möglichkeiten einer Gesellschaft, in der die Individuen keine a priori gegebene Ordnung anstreben. Es handelte sich dabei um eine empirisch relevante Frage, nicht um die einer gesellschaftlichen Utopie: sowohl die schottische als auch die englische Gesellschaft waren seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts recht stabile Gesellschaften, die aber aus einer Revolution hervorgegangen waren und sich daher nicht als traditionelle Gesellschaften verstehen konnten.

Der vorliegende Band des Grazer Philosophen Gerhard Streminger behandelt zentrale Aspekte der Gesellschaftstheorien von David Hume und Adam Smith, die wohl die bekanntesten Autoren der schottischen Aufklärung waren. Es handelt sich um eine Sammlung von Aufsätzen, zum großen Teil bereits publiziert, einige allerdings zum ersten Mal hier veröffentlicht. Die drei wichtigsten Aufsätze daraus sind "David Humes Entwurf einer natürlichen Ethik", "Adam Smiths Sprachphilosophie" und "Die unsichtbare Hand des Marktes und die sichtbare Hand des Staates. Zur Sozialphilosophie Adam Smiths". Diese drei Aufsätze bilden gemeinsam zwei Drittel des Buches.

David Hume stellte die Frage der Aufklärung in ihrer ganzen Tragweite: die traditionellen, von der christlichen Philosophie angebotenen Gottesbeweise werden nicht akzeptiert, ebensowenig die Vorstellung einer Theodizee, der zufolge es eine notwendige Entwicklung der Menschheit gäbe. Um aber die Möglichkeit der Existenz und Stabilität menschlicher Gesellschaft zu bestimmen, muß einiges über die Menschen ausgesagt werden. Dies ist notwendig, weil die Ablehnung der von christlicher Philosophie dominierten Philosophie kein Gebiet aussparen konnte. Die Schwierigkeit dieses Unterfangens ergibt sich daraus, daß empirisch orientierte Psychologie oder Soziologie nicht existierte. Den Fundus, aus dem jede Gesellschaftstheorie heute schöpfen kann, gab es noch nicht. Die embarrassment of riches des modernen Theorieangebotes, die die Gefahr der Unverbindlichkeit nach sich zieht, war für Hume kein Problem.

Hume’s Frage war, wie sich Menschen eine Ordnung geben und wie sie sich in einer Ordnung orientieren können. Beides können auch Tiere. Der offensichtlich vorhandene Unterschied zwischen Mensch und Tier wird über die Möglichkeit, aus Erfahrungen zu lernen, begründet. Das von Hume betonte Induktionsprinzip bringt aber eine Schwierigkeit: Es kann selbst nicht mit Erfahrung begründet werden, bedarf also einer letztendlichen Begründung. Da auf göttliche Ordnung nicht zurückgegriffen werden darf, verlegt Hume dieses letzte Fundament der Möglichkeit, aus Erfahrung zu lernen, in die Menschen selbst: es ist ein natürlicher Instinkt. Den gibt es auch bei Tieren, die durchaus aus Erfahrung lernen können, aber zum Unterschied von diesen steht dem Menschen auch die Vernunft zur Verfügung. Die Vernunft ist die kritische Instanz, die alles überprüfen muß. Akzeptieren muß sie nur die Existenz des Ich – nach Descartes keine Selbstverständlichkeit –, die Gleichförmigkeit der Natur und die Existenz einer Außenwelt.

Die Menschen sind also empirische Wesen, gemeinsam mit den Tieren Teil der natürlichen Welt. Sie sind empirischer Wissenschaft zugänglich. Die Empfindungen der Menschen, die ihnen wesentlich sind, sind Gegenstand der Wissenschaft. Für die Theorie der Gesellschaft ist vor allem die Empfindung der Sympathie von Bedeutung – darunter ist zu verstehen, was heute unter dem Begriff der Empathie fällt, nämlich die Fähigkeit mit anderen Menschen, aber auch mit Tieren mitzuempfinden. Diese Sympathie ist die Basis für moralisches Handeln. Das betrifft zunächst die "natürlichen Tugenden", die menschliches Handeln auch ohne spezielle Übereinkunft bestimmen. Sie ermöglichen altruistisches Handeln.

Es hieße aber das Problem moralischen Handelns wegdefinieren, wenn alles menschliche Handeln durch die "natürlichen Tugenden" bestimmt wäre. Nach Hume sind sie nur im Nahbereich der jeweils handelnden Person wirksam, etwa auf Familie oder Freundeskreise bezogen. Handeln, das sich auf einen weiteren Kreis oder auf die gesamte Gesellschaft bezieht, muß sich auf die "künstlichen Tugenden" stützen. Das sind Tugenden, die durch Übereinkunft in Absehung von den eigenen Interessen entstehen. Sie werden ermöglicht durch das langfristige Interesse der Menschen an einer organisierten Gesellschaft. Dieses von langfristigen Interessen geleitete Handeln ist kein moralisches Handeln, auch wenn es die Interessen der anderen berücksichtigt. Mit Kant könnte man sagen, es bezieht sich auf die anderen nur im Hinblick auf einen Zweck. Moralisches Handeln liegt aber nur dann vor, wenn aus einem interesselosen Standpunkt argumentiert wird. Dieser kann nur gewonnen werden in einer kognitiven Distanz zur eigenen Position.

Hume bedient sich offensichtlich einer Überlegung, die auch typisch ist für Theorien gesellschaftlicher Kontrakte. Streminger arbeitet den Bezug zu Hobbes heraus. Interessant wäre es aber auch gewesen, den Bezug zu modernen Gesellschaftstheorien herzustellen, etwa zu Rawls, der das Problem behandelt, wie Gesellschaften bestehen können, in denen unterschiedliche, einander ablehnende Wertsysteme bestehen, und sich dabei einer Konstruktion bedient, die das Absehen von der eigenen Position voraussetzt – nämlich den Schleier der Unwissenheit (über die eigene Position). Im Gegensatz dazu stehen etwa die Kommunitaristen, die es ablehnen, daß so ein abstrakter Bezugspunkt moralischen Urteilens eingenommen werden kann, und den lokalen Bezug ethischen Handelns hervorheben. Der Zusammenhang zwischen der Möglichkeit der Erkenntnis über die eigene Position und moralischem Handeln ist also noch immer Gegenstand politischer Philosophie.

Es ist fraglich, ob der Sprachtheorie von Smith heute noch eine Bedeutung zukommt. Dennoch ist es für eine Darstellung der schottischen Aufklärung unverzichtbar, sich damit auseinanderzusetzen. Sie liefert nämlich ein schönes Beispiel für die Schwierigkeiten der Wissenschaften, die entstanden sind durch die Ablehnung des Bezuges auf göttliche Strukturen. Die Frage, wieso es denn mehrere Sprachen gibt, von denen manche große Ähnlichkeiten miteinander haben, anderen aber nur sehr geringe, ist wohl naheliegend. Die Antwort von Smith ist der Versuch der Rekonstruktion eines vernünftigen Handelns der Sprechenden, die dabei auch die Sprache weiterentwickeln, ohne dies zu planen oder auch nur zu intendieren. Es ist die Nacherzählung einer Geschichte, wie sie hätte verlaufen müssen, hätten Menschen von Anfang an gemäß einer erst später erkennbaren Vernunft gehandelt.

In dem großen Kapitel über die Sozialphilosophie von Smith zeigt sich die Kontinuität in der schottischen Aufklärung. Es ist, als hätte Smith bei Hume einfach anknüpfen können. Manche bereits von Hume behandelte Fragen werden neu diskutiert – etwa die ethischen Fragen und ihr Zusammenhang mit Empfindungen –, andere stehen nicht mehr zur Debatte – etwa die erkenntniskritischen Probleme –, einige Probleme werden von Smith systematisch neu behandelt – der größte Teil der Ökonomie. Streminger konzentriert sich in seiner Darstellung auf das sozialphilosophische Fundament der ökonomischen Theorie, behandelt aber letztere nicht. Es geht, ähnlich wie bei Hume, um die Möglichkeit moralischen Handelns von eigeninteressierten Personen. Wiederum steht der Zusammenhang von Urteilen, die unabhängig von eigenen Interessen sind, und Empfindungen der Menschen im Vordergrund. Ausführlich wird von Streminger das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bei Smith dargestellt. Es wird gezeigt, daß man sich nicht einfach auf Smith berufen kann, wenn man staatliche Eingriffe in die Wirtschaft ablehnt. Smith hatte ein recht differenziertes Verständnis vom Staat und den Möglichkeiten der Politik.

Die Arbeiten geben eine gute Darstellung des jeweils behandelten Themas. Sie sind gut dokumentiert und bieten daher eine gute Einführung in die jeweiligen Probleme. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil die Gesellschaftstheorie beider Autoren auf viele Werke verteilt ist und daher auch bei genauem Lesen der Hauptwerke nicht einfach erschlossen werden kann. Einige kritische Anmerkungen sind aber durchaus angebracht.

(i) Beide Autoren werden jeweils unabhängig voneinander dargestellt. Das ist eine Folge davon, daß dieser Band vor allem bereits abgedruckte Aufsätze beinhaltet. Es entgeht den Lesern dadurch der innere Zusammenhang von Smith und Hume und die Beziehung zu anderen Autoren der schottischen Aufklärung. Es wäre etwa interessant gewesen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der ethischen Theorien von Smith und Hume herauszuarbeiten.

(ii) Auch wenn Streminger in erster Linie die Theorien der beiden Autoren darstellt, verfällt er gelegentlich der Todsünde historischer Theoriedarstellungen – nämlich jemanden als Vorläufer von etwas zu sehen, was man selber schätzt. Smith wird einmal als Vorläufer der sozialen Marktwirtschaft angeführt. Im Einleitungsessay über die Entwicklung der Naturvorstellung werden Hume und Smith in den Wandel des Naturbildes von der zu beherrschenden Natur zum Akzeptieren der wilden Natur, in der Menschen frei leben können, gestellt. Insgesamt tut dies dem Buch aber keinen großen Abbruch.

Peter Rosner