Christlicher Glaube und kritische Vernunft

von Gerhard Streminger (Graz)

Das Spannungsverhältnis von Glaube und Vernunft ist eines der großen Themen der Theologie und Religionsphilosophie. Drei Fixpunkte in dieser nun schon altehrwürdigen Debatte seien genannt: Thomas von Aquin (und die Scholastiker), die sich um einen Ausgleich zwischen dem Glauben und der Vernunft bemüht hatten; Martin Luther (und die Reformatoren), die dem Glauben den Primat zugewiesen hatten; und schließlich David Hume (und die Aufklärer), die die Vernunft gegen den Glauben ins Treffen geführt hatten. Ich werde in meinem Aufsatz zu zeigen versuchen, daß in dieser Debatte um das Verhältnis von Glaube und Vernunft die reformierte Position innerhalb des Christentums immer stärker an Boden gewinnt, aber die Position der Aufklärer am plausibelsten ist.

Zunächst zu den Gründen, weshalb moderne Christen sich so nachhaltig auf den Glauben berufen. Zwei Punkte dürften ausschlaggebend sein:

(1) Alle Versuche, der christlichen Botschaft eine Vernunftbasis zu geben, sind wohl endgültig mißlungen. Dies zeigt sowohl das Scheitern der traditionellen Gottesbeweise als auch die Unlösbarkeit des Theodizeeproblems: Weder der ontologische noch der kosmologische noch der physiko-theologische Gottesbeweis haben sich als haltbar erwiesen; und die Übel der Welt lassen sich mit der Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes nicht in Einklang bringen. Die alten, wahrscheinlich bereits von Epikur geäußerten aporetischen Fragen harren immer noch der Antwort: "Ist Gott willens, aber nicht fähig, Übel zu verhindern? Dann ist er ohnmächtig. Ist er fähig, aber nicht willens? Dann ist er boshaft. Ist er sowohl fähig als auch willens? Woher kommt dann das Übel?"(1) Die Existenz eines göttlichen Wesens, begabt mit Verstand und Wille, das die Menschen liebt und mit ihnen fühlt, das mit Güte und Weisheit die Welt nach Zwecken lenkt, kurzum: das zentrale Dogma der christlichen Botschaft, kann rational offenbar nicht begründet werden. Aber, so heißt es heutzutage, die christliche Heilsbotschaft sei ohnedies keine Vernunftwahrheit, sondern eine Sache des Glaubens: "Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer Himmels und der Erde..." beginnt schließlich auch das zentrale Gebet, das Glaubensbekenntnis der Christen.

(2) Die Berufung auf den religiösen Glauben hat im Christentum eine lange Tradition. So wird an entscheidenden Stellen im NT ganz ausdrücklich an den Glauben appelliert und werden die Armen im Geiste, die nicht sehen und doch glauben, sogar selig gesprochen. Der Glaube, und zwar derjenige an Jesus von Nazareth als den verheißenen Messias und Erlöser der Welt, war eben dasjenige, wodurch Judenchristen sich von den übrigen Juden unterschieden und worin sie gegenüber den Alten zu triumphieren meinten. Die frühen Christen fanden ihre Identität in diesem Glaubensakt. Im Gegensatz zu den traditionellen Juden hielten sie es für wahr, daß Christus am dritten Tag von den Toten auferstanden und gen Himmel gefahren sei, sodaß "wer an ihn glaubt, das ewige Leben haben wird und nicht verloren ist", hingegen "wer nicht an ihn glaubt, verdammt sein wird, weil er nicht an den eingeborenen Sohn ... glaubt".(2) Diese berühmte Verheißung bzw. Verdammung stammt aus dem Evangelium des Johannes, dem angeblichen Lieblingsjünger Jesu.(3)

Christ wurde man also kraft eines bestimmten Glaubens, zu dem man sich öffentlich bekannte. Zwar setzte im Lauf der Zeit insofern ein gewisser Wandel ein, als ein von christlichen Eltern geborenes Kind fast ausnahmslos Christ wurde, doch blieb die Glaubensemphase zentral. Niemand konnte ein vollwertiger Christ werden, der nicht den Glauben an Jesus Christus gelobte: "Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe", heißt es bei Paulus.(4) Auf einem Kirchenkonzil nach dem anderen wurde dann der Inhalt der Glaubensdogmen zunehmend präziser (und zumeist rigider) gefaßt.(5) Freilich: Während Judenchristen glaubten, daß Jesus von Nazareth der verheißene Messias war, blieben die übrigen Juden äußerst skeptisch, heißt es doch im AT: "Verflucht ist, wer am Holze hängt."(6) Überdies wird im AT der Messias als Kampfmessias beschrieben, der, bevor er sein Volk mit Gott versöhnt, erst einmal die fremden Mächte aus dem Lande vertreibt. Sogar bei Paulus findet sich noch diese Vorstellung, nun allerdings in die Zukunft projiziert: Das Ende der Welt naht, "wenn er das Reich dem Gott und Vater übergibt, wenn er alle Herrschaft und alle Gewalt und Macht weggetan hat. Denn er muß herrschen, bis er alle Feinde unter seine Füße gelegt hat."(7) Die nicht selten von einem antisemitisch gefärbten Triumphgefühl begleiteten Worte: "einen König haben sie erwartet und im Stall wurde ER geboren", plaudern ebenfalls die Wahrheit aus, daß der Messias der Christen kaum der verheißene Messias gewesen sein kann.

Weil trotz aller eschatologischen Erwartungen die Juden überzeugt waren, daß die biblische Verkündigung des Messias auf den Zimmermannsohn aus Nazareth nicht zutrifft, warfen sie den Judenchristen Verlogenheit vor; und diese warfen den traditionell Glaubenden Verstocktheit vor - unsäglicher Beginn einer endlosen Geschichte der Ressentiments und des Hasses, die schließlich darin kuliminierte, daß vor einigen Jahrzehnten Bewohner christlicher Länder tagtäglich mehr Juden umbrachten, als in den Jahrhunderten der Christenverfolgungen Christen insgesamt getötet worden waren.

Ich fasse die bisherigen Ausführungen kurz zusammen: Das Mißlingen der traditionellen Gottesbeweise und die Unlösbarkeit des Theodizeeproblems, aber auch die lange, biblische Tradition der Berufung auf den Glauben sind wohl die entscheidenden Ursachen für die moderne Glaubensemphase. Aber wird damit auch verständlich, weshalb moderne Christen mit Nachdruck den Glauben betonen, so ist diese Vorgangsweise aus mehreren Gründen sehr problematisch. Ehe auf diese Gründe näher eingegangen wird, noch eine wichtige Begriffsklärung: Unter einem "vernünftigen" Menschen verstehe ich einen solchen, der sich darum bemüht, zu einer bestimmten Frage (oder einem bestimmten Problem) möglichst viele Evidenzen zu suchen - pro und contra; der diese Evidenzen dann miteinander abwägt und sein Verhalten am Besserbegründeten orientiert. Vernünftiges Verhalten schließt also die Suche nach Wahrheit ein, aber sie bedeutet nicht, daß dasjenige, was mir zu einem bestimmten Zeitpunkt als wahr erscheint, auch tatsächlich wahr ist. So können, beispielsweise, vor einigen Jahrzehnten viele ärztliche Diagnosen vernünftig gewesen sein, die sich heute - vor dem Hintergrund neuer Evidenzen - als falsch erwiesen haben. (8)

Nach dieser Begriffsklärung nun zu der meines Erachtens problematischen Hochschätzung des Glaubens, wie sie für moderne Theisten so typisch ist:

1. Die Berufung auf rational nicht begründbare Behauptungen ist für die Erziehung bedenklich.

Aus dem bisherigen folgt, daß "Glauben" bedeutet, etwas, das nicht gewußt wird, für wahr zu halten. "Ich glaube an die Existenz Gottes" heißt also, für wahr zu halten, daß Gott existiert, obwohl es dafür keine überzeugenden rationalen Argumente gibt.

Vor allem Schopenhauer hat aus dieser sonderbaren Situation ein wichtiges Argument gegen die christliche Erziehung entwickelt. Den religiösen Glaubensakt bestimmt er als eine "Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne gute Gründe". Denn gäbe es gute Gründe für die christliche Lehre, dann wüßten wir sie und brauchten sie nicht zu glauben. Der Glaubensakt erfolgt somit im Vertrauen auf eine Autorität. Weil aber ein vertrauender Glaube in der Kindheit am stärksten ist, sind Geistliche aller Religionen darauf bedacht, sich der frühkindlichen Aufmerksamkeit zu versichern. Aber einem Kind ohne vernünftige Gründe, jedoch mit ungewohnter Feierlichkeit und mit der Miene eines bis dahin von ihm noch nie gesehenen Ernstes Dinge vorzutragen, wird auf dieses in vielen Fällen tiefen Eindruck und es häufig unfähig machen, sich künftighin ernstlich und aufrichtig zu fragen: Ist das überhaupt wahr? Daß beim religiösen Glaubensakt das Vertrauen auf eine Autorität tatsächlich die entscheidende Rolle spielt, versucht Schopenhauer durch folgende Beobachtung plausibel zu machen: Wechselt jemand "im reifen Alter seine Religion", so wird er "von den Meisten verachtet", eben weil Menschen zumindest intuitiv wissen, daß die Religion keine Sache "vernünftiger Ueberzeugung, sondern bloß des früh und vor aller Prüfung eingeimpften Glaubens" sei.(9)

Die Konsequenzen einer "Abrichtung zum Glauben oder zur Blindgläubigkeit" wird in vielen Fällen nicht neutral, sondern problematisch sein: Denn Kinder, deren Vertrauen und Leichtgläubigkeit mißbraucht wird, wagen es häufig nicht mehr, ernsthaft und aufrichtig nach der Wahrheit zu fragen; zudem ist die "Gewalt früh eingeprägter religiöser Dogmen" gelegentlich so stark, "daß sie das Gewissen und zuletzt alles Mitleid und alle Menschlichkeit zu ersticken vermag".(10) Denn der Glaube, zumindest in seinen strikteren Versionen, geht gewöhnlich mit einen Appell an den Egoismus des einzelnen einher: Denjenigen, die glauben, wird Seligkeit zumindest im Jenseits versprochen; und denjenigen, die nicht glauben, wird zumindest ein Mangel an "Sinnhaftigkeit im eigenen Leben" vorgeworfen, gelegentlich sogar mit einem Leben in der Hölle gedroht. Aufgrund eines solchen Appells an die Selbstliebe der Menschen kann Religiosität sogar zu einer Gefahr für die Moral werden.(11)

Heute wird Skeptikern, die für die Behauptungen der Theisten rationale Argumente einfordern, nicht selten erwidert, das Dasein Gottes sei zwar keines rationales Beweises fähig, bedürfe desselben aber auch gar nicht: Denn es verstünde sich von selbst, wäre die ausgemachteste Sache von der Welt, Menschen könnten es gar nicht bezweifeln, verfügten wir doch über ein Gottesbewußtsein oder metaphysisches Bedürfnis. Dieser Annahme eines "angeborenen religiösen Wissens" widerspricht allerdings die Beobachtung, daß viele Menschen nicht religiös sind; und andere leben um einiges besser, seitdem sie begonnen haben, sich auf eigene Beine zu stellen und das Höchste Wesen einfach im Himmel belassen.

2. Gerade in fundamentalen Dingen sollte der Glaube der Vernunft untergeordnet werden.

Wenn es, wie Kant immer wieder betont hat, in theologischen Dingen "nicht so viel aufs Vernünfteln als auf die Aufrichtigkeit in Bemerkung des Unvermögens unserer Vernunft ankomme", so mag dies Ausdruck wohlbegründeter Bescheidenheit sein. Wird jedoch anschließend behauptet, die Annahme der Existenz eines guten Gottes sei ohnedies eine Sache des Glaubens, so stellt sich mit allem Nachdruck die Frage, warum es gerade in religiösen Dingen nicht um die Aufrichtigkeit in der Bemerkung unserer Zweifel ankommen sollte. Denn Zweifel schaden im allgemeinen weit weniger als schlecht begründete Überzeugungen. Einen Menschen von einem Irrtum zu befreien bedeutet nämlich auch, ihm etwas zu geben, nämlich die Erkenntnis, daß etwas falsch war. Außerdem ist kein Irrtum unschädlich, sondern jeder wird früher oder später Unheil stiften. Nicht zu Unrecht spricht man auch vom "heilsamen" Zweifel. Der blinde Glaube, nicht aber die befreiende Skepsis, ist ein gewaltsamer Zustand der Seele. Wissen macht frei.(12)

In den Belangen des "täglichen Lebens", wie Wohnungs-, Auto- oder Aktienkauf, verhalten sich viele Menschen bemerkenswert rational. Sie interessieren sich für vorhandene Informationen, überdenken diese und urteilen im Lichte der Evidenzen. Ebenso beim Essen: Immer mehr Menschen überlegen sich, was sie essen, einatmen oder schlucken, und seit alters her schmecken Menschen zuerst, ehe sie verschlingen. Aber in religiösen Dingen sollen Menschen sich geistige Grundsätze ohne Gründe angewöhnen? Wie könnte es moralisch sein, andere zu ermuntern, dies zu tun, also die Vernunft zu begrenzen, um dem religiösen Glauben Platz zu schaffen, wenn es dabei um ungleich gewichtigere Dinge als um den Kauf von Aktien geht? Gerade in so fundamentalen Dingen wie der Frage nach dem Ursprung der Moral, nach dem Willen Gottes, nach der Möglichkeit eines künftigen Gerichts oder einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits werden Menschen ermuntert, "der Hure Vernunft", wie Luther die Ratio verächtlich nannte, zu widerstehen?(13)

Aber wie sollte auf den Ruinen der Vernunft ein befriedigender, die menschliche Neugierde nicht unterdrückender Glaube errichtet werden können? Neugierde bzw. Wißbegierde ist nämlich eines der sichersten Zeichen eines erfüllten Lebens. Aber die allermeisten Gottesgelehrten scheint dies nicht sehr zu bekümmern, sondern ihnen geht es um die Verbreitung einer Botschaft, für deren Gültigkeit wenig spricht; aber diesseitiges Glück der Menschen war immer schon bestenfalls ein Wert, niemals jedoch ein Zielwert geistlichen Handelns. Im Zentrum steht nämlich der Wille Gottes, weshalb in theistischen Ethiken letztlich nicht um der Mitmenschen, sondern um Gottes bzw. um der eigenen Macht willen gehandelt wird.

3. Weil es unendlich viele Möglichkeiten gibt, woran geglaubt werden kann, ist auch für den Glaubenden die Vernunft unverzichtbar.

Entscheidender noch als die beiden bisher vorgebrachten Einwände ist folgender Punkt: Mit der Forderung nach dem Glauben allein als Lebensorientierung ist es mit Bestimmtheit nicht getan. Denn unausweichlich stellt sich die Frage: Woran soll ich glauben? Soll ich glauben, daß Gott allgütig ist, oder soll ich glauben, daß Gott ein Dämon ist? Soll ich glauben, daß es eine Art gefallener Engel gibt, oder soll ich glauben, daß es deren dreißig sind? Soll ich glauben, der Schöpfer von Milliarden Sonnensystemen hat vor zweitausend Jahren am Holzkreuz gehangen, oder soll ich glauben, daß der Gekreuzigte bloß ein Gottesknecht war? Verzehre ich beim Abendmahl nun den Leib Christi oder ist dies alles "symbolhaft" zu verstehen? Hat der heilige Geist das Tun des Franz von Assisi geleitet oder war er gegenwärtig in den Handlungen der päpstlichen Borgia, die ihren Giften einen Teil ihres düsteren Ruhms verdanken? Lautet der rechte Glaube, daß es in Gott drei Personen gibt (etwas, das Juden und Muslime strikt ablehnen), oder sind in Gott fünf Personen vereint, wovon eine Person eine erotische Göttin ist?

Bereits angesichts dieser einander widerstreitenden Möglichkeiten (und es gibt deren unendlich viele(14)), genügt der Appell an den Glauben nicht, vielmehr muß begründet werden, woran geglaubt werden soll. Und dies kann nur die so oft vielgeschmähte Ratio leisten. Gerade moderne Theisten sind meines Erachtens viel zu sehr gewillt, das "Mysterium" an die Stelle der Vernunft zu setzen und vom "Geheimnis des Glaubens" zu sprechen. Denn unerbittlich stellt sich die Frage: Das Geheimnis welchen Glaubes? Bekenntnisse genügen offenbar nicht, Erkenntnisse tun not.

Die nicht selten vorgebrachte Behauptung, daß Menschen die Existenz Gottes und seine unendliche Güte, Macht und Weisheit mit dem Auge des Glaubens entdecken könnten, wird - so mein Eindruck - vor allem in Diskussionen mit Skeptikern gemacht. Sind Theisten hingegen mit den Vertretern anderer Religionen konfrontiert, dann wird zumeist mit großer Selbstverständlichkeit die Überlegenheit der eigenen Position betont - und zwar in einem rationalen Diskurs! Natürlich vertreten Missionare ihren Standpunkt mit Gründen, die zeigen sollen, daß ihr Glaube besser ist als der Aberglaube der Medizinmänner und Schamanen, denn: Jesus is the answer!, wie amerikanische Fundamentalisten so lauthals verkünden. Und schließlich haben sich auch die jeweiligen Religionsgründer mit Vehemenz und mit rationalen Gründen von den anderen Religionen abgegrenzt: Jesus von den Pharisäern, Moses von den Polytheisten, Mohammed von den Juden etc. (15)

Allein schon aufgrund der Tatsache, daß Christen vertrauen, Jesus von Nazareth sei der versprochene Messias, ja Gott selbst; Juden dies für blasphemisch halten und immer noch den Erlöser erwarten; Muslime wiederum glauben, daß Jesus bloß ein Prophet war - allein schon aufgrund dieser Widersprüche müssen Gläubige, seien sie nun Anhänger der einen oder der anderen Religion, sich der Frage stellen, woran geglaubt werden soll. Aber das bedeutet, daß auch Glaubende den Primat der Vernunft gegenüber dem Glauben akzeptieren müssen. Man frage Theologen, weshalb sie nicht mehr an Dämonen oder an Hexen oder an die Jungfrauengeburt glauben, und sie werden Gründe dafür angeben. Fragt man sie aber, weshalb sie an den guten Gott oder die Unsterblichkeit der Seele glauben, dann sprechen sie von einer Glaubenswahrheit. Warum diese doppelte Wahrheit und, sofern sie als solche durchschaut wird, diese Doppelzüngigkeit?(16)

Ist also eine rationale Diskussion der verschiedensten Glaubenswahrheiten auch unter Vertretern verschiedener Religionen unerläßlich, so dürfte es dabei höchst selten "bescheiden" im Sinne Kants zugehen. Obwohl gegenüber Leichtgläubigeren oft so getan wird, als sei alles so einfach und als bedürfe es bloß der "Entscheidung", so ähneln Diskussionen zwischen Gläubigen unterschiedlicher Konfessionen, sofern sie überhaupt bereit sind, miteinander zu reden (und sich nicht wie in Nordirland, Bosnien oder im Nahen Osten die Köpfe einschlagen), üblicherweise einem Prozeß, in dem zahlreiche Zeugen auftreten, wobei ein jeder von anderen der "Lüge" geziehen wird. Es ist deshalb auch kein Zufall, daß in den verschiedensten Religionen Leichtgläubigkeit als verdienstvoll gilt: Die Leichtgläubigen werden selig gesprochen, während Zweifel und kritische Distanz als sündhaft und häretisch gelten. Derartige Gebote wider die Vernunft führen zur Selbstverstärkung von Glaubensüberzeugungen. Eine zunächst schwache Überzeugung wird durch die Hochschätzung von Leichtgläubigkeit verstärkt und mündet schließlich in eine unerschütterliche Glaubensgewißheit. Aber das Interesse, das Menschen haben, eine Sache für existent zu halten, ist nun einmal kein Beweis für die Existenz derselben, und die Stärke des Glaubens ist kein Beweis für die Wahrheit des Geglaubten, sondern nur für die Stärke des Glaubens.

Sowohl der Glaube der Ketzer als auch der ihrer Verfolger war durchaus "lebendig". Aber weder die brennende Liebe der Peiniger noch das Blut der Märtyrer ist von Bedeutung, wenn es darum geht, die Wahrheit zu erweisen. Denn es geht nicht darum, öffentlich zu bekennen, daß man von einer Wahrheit überzeugt ist (wie Märtyrer und ihre Verfolger es tun), sondern es geht darum zu zeigen, daß man gute Gründe hat, so überzeugt zu sein. Das gelegentlich mutige, gelegentlich aufdringliche Zurschaustellen des eigenen Glaubens beweist noch keine Wahrheit. Daß jemand für eine bestimmte Sache in den Tod geht, ist kein Beweis für ihre Wahrheit, sondern viel eher für ihre Zweifelhaftigkeit.(17) Denn gerade für Dinge, die umstritten sind und woran sie in Wirklichkeit selbst zweifeln, setzen Menschen ihr Leben vordringlich aufs Spiel. Blut ist also ein problematischer Zeuge für die Wahrheit.

Zwar sprechen Gläubige oft vom Mut, nämlich vom Mut zur Überzeugung, aber größer als dieser ist wohl der Mut zur Überprüfung der eigenen Überzeugung. "Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-Blicken-können ... Die große Leidenschaft braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht, - sie weiß sich souverain.- Umgekehrt: das Bedürfnis nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein ... ist ein Bedürfnis der Schwäche. Der Mensch des Glaubens ... ist nothwendig ein abhängiger Mensch, - ein Solcher, der sich nicht als Zweck ... ansetzen kann. Der "Gläubige" gehört sich nicht, ... "(18) Die große Leidenschaft des Denkens verbraucht Überzeugungen, aber sie unterwirft sich ihnen nicht. Aber viele Gläubige sind, wie von ihnen selbst gelegentlich mit Frohlocken betont, abhängige Menschen; sie fühlen sich von einem transzendenten Wesen geleitet und geführt, das allerdings aus recht nahelegenden Gründen im Verborgenen bleibt: Wo war - wie auch viele moderne Theologen fragen - der Allgütige in Auschwitz, beispielsweise, und wo treibt es sich, außer in den Fieberphantasien vieler seiner blutrünstigsten Anhänger, an den modernen Kriegsschauplätzen herum?

Der vielleicht durchaus gutgemeinte Rat, man solle doch einfach den Sprung in den Glauben wagen, "wisse doch das Herz mehr als der Kopf", ist wenig überlegt, denn springen läßt sich überallhin, auch in ein Becken ohne Wasser. Der blinde Sprung in den Glauben bedeutet den intellektuellen Selbstmord, zumindest den Sturz in noch viel größere Unwissenheit. Zudem gibt es noch einen fundamentalen Einwand gegen die Praxis, den religiösen Glauben durch den Hinweis auf die Gefühle des Herzens zu rechtfertigen. Denn dieses sagt nun einmal Verschiedenes zu verschiedenen Menschen und Verschiedenes zum gleichen Menschen zu verschiedenen Zeiten. Aus innerer Erfahrung ist keinesfalls auf die Untrüglichkeit des religiösen Glaubens zu schließen, wie ja auch traditionellere Christen sogleich zugeben werden, wenn sie mit den religiösen Erfahrungen von Muslimen oder Sonnenanbetern konfrontiert sind. Aber selbst dann, wenn das Herz der Menschen allen dasselbe sagte, wäre dies immer noch kein Beweis dafür, daß die Herzensgründe von einem Wesen stammen, das außerhalb unserer Phantasie existiert.

4. Weil Vertrauen eine vernünftige Grundlage erfordert, kann der Glaube allein zu keinem Gottvertrauen führen.

Trotz der meines Erachtens völlig einsichtigen Überlegung: Da eine unendliche Anzahl möglicher Glaubensinhalte denkbar ist, muß für die Wahrheit des einen wahren Glaubens rational argumentiert werden, reduzieren die meisten modernen Christen Religiosität auf eine "persönliche Beziehung zu Gott und Jesus Christus". Aber eine solche Redeweise ergibt meines Erachtens so lange keinen Sinn, solange sie sich nicht auf "externe" Tatsachen stützt.

Dieser Punkt läßt sich folgendermaßen verdeutlichen. Jede bewußte Erfahrung handelt von einem Etwas, aber dieses Etwas ist entweder ein Objekt der Phantasie oder ein realer Gegenstand. Existierte Gott allein im Bewußtein des an ihn Glaubenden, so wäre es bereits irreführend, von einer persönlichen Beziehung zu sprechen. Denn eine solche setzt die reale Existenz zumindest zweier Personen voraus. Der - beispielsweise - an Einhörner Denkende steht zu Einhörnern in keiner Beziehung, wie Menschen zueinander in Beziehung stehen. Aber noch irreführender wäre es, wollte man diese angebliche Beziehung in der Weise präzisieren, daß sie "Zuversicht", "Vertrauen" oder "Hingabe" einschließe. Denn einem Produkt der Phantasie, etwa einem mächtigen Einhorn, kann man nicht im Ernst vertrauen, man kann ihm "sein Schicksal nicht überantworten". Der Rat, sich doch einfach vertrauensvoll an Gott zu wenden, ist deshalb so lange sinn- und verantwortungslos, solange nicht gezeigt wird, ob es diesen Gott überhaupt gibt oder ob er nur, wie das mächtige Einhorn, ein Phantasieprodukt ist; und diese Aufgabe kann nicht der Glaube, sondern nur die Vernunft leisten.

Mit anderen Worten: Die meisten Dinge, die im Zusammenhang mit dem Gottesglauben gefordert werden, nämlich Zuversicht oder Vertrauen, ergeben nur dann Sinn, wenn man weiß, daß es einen Gott mit den bekannten Vollkommenheitsattributen gibt. Solange dies nicht der Fall ist, wird mit der Forderung: "Wende dich vertrauensvoll an Gott!", mit menschlichem Vertrauen Mißbrauch getrieben.(19) Denn bei Licht besehen, wird in diesem Fall Vertrauen in ein Wesen gefordert, obwohl so offensichtliche Evidenzen - die Übel der Welt - dagegen sprechen. Denn Vertrauen kann es nur zu jemandem geben, den man sehr gut kennt; ein begründetes Vertrauen in die Güte von Fremden ist unmöglich. Überdies muß dieses Vertrauen auf mehr denn verbalen Äußerungen basieren: So mag ein Fremder kontinuierlich beteuern, gütig und wohlwollend zu sein, aber wenn er nicht konsequent so handelt, also keine Zeichen der Güte setzt, so hätten wir keinen Grund, ihm zu trauen. Jemand, der behauptet, daß er Gott traue, spricht so, als würde er ihn bereits seit langem kennen und immer nur Gutes erfahren haben. Aber wie kann dies sein, wenn der Herr der Geschichte unzählige Greuel in der Geschichte zuläßt?

Der Verdacht drängt sich auf, daß aus der Not eine Tugend gemacht wird: Weil das Theodizeeproblem nicht gelöst werden kann und die traditionellen Gottesbeweise scheitern, appelliert man an ein Gottvertrauen. Aber begründetes Vertrauen zu Gott kann es nur geben, wenn die Gottesbeweise gelingen und das Theodizeeproblem gelöst ist. Solange jene mißlingen und dieses ungelöst bleibt, kann man begründeterweise von keiner Vertrauensbeziehung sprechen.(20) Aber man will offenbar gar keine Logik, man will "Blindheit und Taumel und einen ewigen Gesang über den Wolken, in denen die Vernunft ertrunken ist!"(21) Und man will drohen: "Siehe, Allah tut, was er will", verkündet Mohammed. "Diejenigen, die nicht glauben, werden mit einem Gewand aus Feuer bekleidet werden; man wird kochendes Wasser über ihre Köpfe gießen; ihre Eingeweide und ihre Häute werden der Auflösung ausgesetzt werden, und sie werden mit Eisenkeulen geschlagen werden. Jedesmal, wenn sie danach trachten, aus der Hölle zu entweichen, um ihren Strafen zu entgehen, werden sie aufs neue hineingestoßen werden, und die Dämonen werden ihnen sagen: >Genießt den Schmerz, verbrannt zu werden!<"(22)

Angesichts der Welt, wie sie sich uns darbietet, kann kein Mensch ein begründetes Vertrauen in die Güte Gottes haben, denn das Vertrauen in ein anderes Wesen muß auf einer engen Bekanntschaft basieren, aus der zu ersehen ist, daß dieses Wesen nichts getan oder zugelassen hätte, das zu fundamentalem Mißtrauen Anlaß gäbe. Aber ein Mensch müßte blind und taub sein, um angesichts der Übel der Welt über eine solche Gottesbeziehung verfügen zu können. Nehmen wir zum Beispiel an, einer Ihrer Bekannten hätte immer wieder den Anspruch erhoben, wohlwollend und gütig zu sein, jedoch Hilfe verweigert, als es ihm problemlos möglich war, zu helfen. Könnten Sie einen begründeten Glauben in sein Wohlwollen haben? Natürlich könnten sie sagen: "Ich vertraue ihm, was auch immer kommen mag." Aber damit zeigen Sie meines Erachtens nur ihre Engstirnigkeit, denn sie kennen keinen guten Grund für ihr Verhalten. Der Glaube sagt, daß Gott die allmächtige Liebe ist; aber die Welt offenbart die ziemliche Machtlosigkeit der Liebe und die weitgehende Lieblosigkeit der Mächtigen. Der Glaube sagt, Gott sei gerecht; aber die Welt ist voll von den Schreien jener, die unter Ungerechtigkeiten leiden und ihrer Rechte beraubt sind. Der Glaube sagt, daß Gott der Gott der Lebenden und nicht der Toten sei; aber täglich verhungern etwa 40.000 Kinder.

Schiebt man den Vorhang aus Rhetorik und Drohgebärde ein wenig beiseite, so lautet die theistische Glaubensforderung: Glaube, daß es einen guten Gott gibt, obwohl so viele Evidenzen dagegen sprechen! Im Klartext heißt dies: "Zwinge dich, zu glauben, daß es einen guten Gott gibt, obwohl so vieles dagegen spricht!" Aber eine solche Aufforderung und ein solcher Glaube sind meines Erachtens ein Laster, sie sind Beispiele dafür, daß Menschen unfähig sind, berechtigte Einwände ernst zu nehmen. Der Glaube an den mit den üblichen Vollkommenheitsattributen ausgestatteten Gott ist eine Form der Selbsthypnose: Rede dir trotz gegenteiliger Evidenzen so lange ein, daß es einen solchen Gott gibt, bis du daran glaubst! Aber weil es nicht lobenswert ist, sich in derartige Emotionen hineinzuquälen, ist es auch nicht verwerflich, den Glauben zu kritisieren. Menschen sollten nämlich die verhängnisvolle Neigung, ohne Berücksichtigung vorliegender Evidenzen verschiedenste Dinge für wahr zu halten, nicht noch weiter fördern, sondern bekämpfen und überwinden.

Fassen wir das komplexe Verhältnis von Glauben und Gottvertrauen zusammen: Gerade moderne Theisten betonen, daß es vor allem darauf ankomme, eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott aufzubauen. Natürlich ist der Ausdruck "vertrauensvoll" kein sinnloser Begriff: Angenommen, jemand behauptet, er habe den Mut und die physischen Voraussetzungen, 100 Meter über dem Boden auf einem Seil einen Schubkarren zu schieben. Sie mögen seine Worte für wahr halten, aber wirkliches Vertrauen werden Sie ihm erst dann entgegenbringen, wenn Sie bereit sind, sich in den Schubkarren zu setzen. Um einem Menschen in dieser Weise vertrauen zu können, muß man eine Fülle von Hinweisen haben, daß er auch vertrauenswürdig ist. Aber gerade das Problem der Theodizee zeigt, daß sehr viele Indizien gegen die Existenz eines gütigen Gottes sprechen. Daraus ergibt sich, daß man erst dann, wenn das Theodizeeproblem gelöst ist (und ein Gottesbeweis gelingt), begründetes Vertrauen in ein Höchstes Wesen haben kann.(23) Aber wenn das Theodizeeproblem gelöst ist, dann brauchen wir auch nicht mehr zu glauben, sondern wir wissen, daß Gott vertrauenswürdig ist. Also sowohl im einen Fall (ungenügende Evidenz) als auch im anderen Fall (hinreichende Evidenz) ergibt die Glaubensforderung keinen rechten Sinn. Wir sollten deshalb aufhören, diese gläubige Bewunderung für Dinge, die man nicht begründen kann, auch noch zu kultivieren.

5. Auch Glaubenserfahrungen vermögen das traditionelle Gottesbild nicht zu stützen und hängen überdies von natürlichen Umständen ab.

Aber selbst wenn man es ablehnte, seinen Glauben auf "externe" Fakten zu stützen und allein aus Glaubens-"erfahrungen" auf die Existenz eines gütigen Gottes schließen wollte, ergäben sich zwei weitere fundamentale Schwierigkeiten:

(a) Kein Erlebnis könnte einen Schöpfer der Welt oder die Allmacht oder Allwissenheit oder Allgüte oder Ewigkeit oder auch nur die Einzigkeit Gottes enthüllen. Denn in allen diesen Fällen wird die menschliche Erfahrung völlig überstrapaziert. Um beispielsweise eine Erfahrung davon zu haben, daß das Wesen, das sich mir offenbart, der einzige Gott sei, müßte ich imstande sein, die ganze Welt zu überblicken und dabei keinen weiteren Gott entdecken; und das ist mit Bestimmtheit unmöglich. Und selbst wenn ich von jenem Wesen, das Gegenstand meiner religiösen Erfahrung ist, nur Gutes erführe, könnte ich nicht schließen, daß es immer und überall - und das heißt wohl allgütig -, gütig ist.

Das einzige, was die vielbeschworene religiöse Erfahrung nahelegen könnte, ist die Begegnung mit etwas uns Überlegenem, das aber weder zu existieren noch unendlich groß oder einzigartig zu sein brauchte. Wenn überhaupt, so stützen die verschiedenen religiösen Erfahrungen keinen vollkommenen Gott, sondern einen Polytheismus. Wenn in einer Kirche, in einer Synagoge oder Moschee tausende Menschen eine religiöse Erfahrung machen (was immer das auch sein mag), so wäre es durchaus möglich, daß jeder mit einem anderen Gott kommuniziert; und da der angeblich einzige Gott sich in der äußeren Erfahrung nicht (bzw. nicht mehr) zeigt, gibt es auch keine Möglichkeit, dies zu überprüfen. Aus diesem Grund ist es auch nicht überraschend, daß Berichte über religiöse Erfahrungen einander so sehr widersprechen. Wir sollten nicht vergessen, daß zur Vielzahl religiöser Erfahrungen in unserem gegenwärtigen Kulturbereich auch noch die Manifestationen von Quetzalcoatl, Osiris, Dionysos, Mithras und Poseidon gehören. Aus dieser Tatsache folgt, daß das vielbeschworene metaphysische Bedürfnis sich offenbar mit den absonderlichsten Vorstellungen - natürlich auch mit den verschiedenen, Menschenopfer oder Religionskriege fordernden Göttern - zufriedenstellen läßt.

(b) Offensichtlich enthalten religiöse Erfahrungen in beträchtlichem Umfang Deutungen, die davon abhängen, was der Mensch bereits unabhängig von seiner religiösen Erfahrung weiß. So gibt es im christlichen Abendland bemerkenswerterweise keine Erscheinungen des Schiva, des Ram, des Zeus oder der Gaia; und protestantische (oder gar buddhistische) Länder scheint die katholische Gottesmutter wie der Teufel das Weihwasser zu meiden. Die Behauptung, man habe den himmlischen Christus gesehen, schließt natürlich den Glauben an die Menschwerdung Gottes ein, dem ein rechtgläubiger Jude nicht zustimmen kann. Und zu Recht neigen Skeptiker dazu, die Behauptung eines portugiesischen Bauernmädchens, ihr sei die Mutter Gottes erschienen, auch aus dem Grunde zu bezweifeln, daß nach der Beschreibung des Mädchens Maria ungefähr so, wie sie in portugiesischen Kirchen dargestellt wird, gekleidet war. Alle diese Beobachtungen sprechen dafür, daß Menschen ihre religiösen Erfahrungen in beträchtlichem Umfang vor dem Hintergrund dessen deuten, was sie außerhalb dieser Erfahrungen für wahr halten. Die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit ist also von Erwartungen, die wiederum gesellschaftlich bedingt sind, mitgeprägt. Deshalb werden auch Mißstände in der eigenen Kirche fast nur von Leuten ohne blinden Glauben bemerkt; diejenigen, die genügend Glauben besitzen, vermögen allerdings mit größter Klarheit Mißstände in anderen Kirchen zu schauen.

Aber nicht nur die Deutung des religiösen Erlebnisses, sondern dieses selbst, scheint von der Erziehung abzuhängen. Stehen nämlich Menschen in überhaupt keiner religiösen Tradition, dann bleiben ihnen auch religiöse Erfahrungen praktisch unbekannt. Stellen Sie sich einmal vor, von Kindheit an hätten Sie gehört, es existierte ein ewiges Einhorn, und wohin auch immer Sie gingen, sähen Sie Altäre, errichtet zur Verehrung Seiner grenzenlosen Weisheit. Wäre es tatsächlich überraschend, nähme es wirklich wunder, wenn Sie in einer Konfliktsituation plötzlich das Gefühl hätten, das Einhorn spräche zu ihnen und offenbarte ihnen, was sie zu tun hätten? Der Rückschluß von einer bestimmten Erfahrung auf eine übernatürliche Verursachung ist also voreilig.(24)

Wenn aber die Überlegung richtig ist, daß selbst die Existenz religiöser Erfahrungen von äußeren, nachvollziehbaren natürlichen Umständen abhängt, dann wird es diese Erfahrungen mit der Zeit nicht mehr geben, wenn die äußeren Umstände nicht mehr vorhanden sind. Und so ist es denn auch: Seit der Aufklärung und dem damit einhergehenden Fortschritt von Wissenschaft und Technik sind Wunder im Schwinden begriffen. Seit der Erfindung des Blitzableiters durch Benjamin Franklin, beispielsweise, äußert der Allmächtige seinen Unmut nur noch selten darin, daß er ein Haus (oder ganze Städte) mittels Blitzschlag in Flammen setzt.(25) Zwar vertrauen auch heute noch viele Menschen, daß der Inhalt ihrer religiösen Erfahrung sich auf etwas Göttliches bezieht, aber inzwischen sind selbst viele Theologen in dieser Hinsicht skeptisch geworden. Denn sie räumen ein, daß die religiösen Erfahrungen, die Gott zugeschrieben werden, sich nur unwesentlich von denjenigen unterscheiden, die angeblich von Satan stammen. Es bedarf daher, etwa bei katholischen Seligsprechungen, einer langen Prüfung durch Experten, um herauszufinden, ob Offenbarungen göttlichen oder satanischen Ursprungs waren.(26)

Heutzutage werden aber Begegnungen der satanischen Art von wissenschaftlich Denkenden obendrein mit dem Hinweis auf unbewußte Beweggründe erklärt. Dann aber liegt es nahe, daß auch die "eigentlich religiösen" Erfahrungen einer psychologischen Erklärung zugänglich sind. Sind sie aber einer solchen Erklärung zugänglich, dann bieten religiöse Erfahrungen keine Garantie mehr für einen übernatürlichen Ursprung, vielmehr liegt die Vermutung nahe, daß nicht Gott die Menschen, sondern diese IHN erschaffen haben. Die Gründe für eine derartige Kopfgeburt sind durchaus naheliegend: Da unser Wollen ständig zwischen Furcht und Hoffnung schwankt, schafft unsere Phantasie ein Wesen, von dem alles abhängt und das durch Bitten, Schmeicheleien und Opfer beeinflußt werden kann. Gott ist da, wenn man sich allein fühlt, er kann gepriesen und angefleht werden, er vermittelt ein enthusiastisches Gefühl der Auserwähltheit oder zumindest den Eindruck, eine kleine, aber wichtige Rolle in seinem Heilsplan zu spielen. Er symbolisiert Hoffnung, lauscht den Unterdrückten, verspricht ausgleichende Gerechtigkeit und - manchmal - den Feinden ewige Höllenstrafen; man kann andere bei Gott schlecht machen und IHM für Siege danken, ebenso für Niederlagen, den "längst verdienten Strafen mangelnder Gottesfürchtigkeit".

Das Höchste Wesen vermag also eine ganze Reihe menschlicher Erwartungen zu erfüllen; eben dies spricht dafür, daß der Ursprung des Gottesglaubens auf natürliche Weise, also psychologisch, erklärt werden kann. Der Gottesglaube wurzelt weitgehend in der Not und in der Langeweile der Menschen; ohne Leid wohl keine Religion, gewiß keine Sehnsucht nach einem Wesen, das hinwegnimmt die Leiden der Welt. Auch viele Theologen betonen, daß ohne das Bewußtsein der Bedürftigkeit, der Schwachheit und der Vergänglichkeit die Religion unbekannt wäre. Aber damit plaudern sie wohl die Wahrheit aus, daß die Religiosität der Menschen nicht übernatürlichen, sondern natürlichen Ursprungs ist. Wäre jedoch der Ursprung des Gottesglaubens auf natürliche Weise zu erklären, so wäre er die große Illusion der Menschheit: aus Wunschdenken geboren.

Der Wunsch, Gott möge existieren, damit die Welt sinnvoll ist, beweist somit nicht die Existenz Gottes. Besondere Skepsis ist deshalb auch dann angebracht, wenn jemand behauptet, der Höchste habe zu ihm gesprochen und ihm einen Auftrag erteilt. Denn viele Menschen wünschen, daß andere dasjenige tun, was sie selbst gerne täten, was sie aber allein nicht zu tun wagen. Menschen setzen gerne ein Über-Ich an die Stelle des Ich. Auf diese Weise erhalten beispielsweise manche Muslime den Auftrag, Jerusalem zu erobern, und manche Juden, bezüglich eroberter Gebiete keinesfalls einen Kompromiß einzugehen. Wir sollten deshalb auch nicht Abraham als leuchtendes Beispiel preisen - es sei denn, wir wären willens, mit gleicher Ehrfurcht einen Menschen zu verehren, der bereit ist, einen Mord zu begehen, weil er überzeugt ist, daß Gott von ihm dieses Opfer fordert. Leider wollen viele Menschen lieber Gebärden sehen als Gründe hören.

Ich komme zum Schluß: Aufgrund der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den Gottesbeweisen und dem Theodizeeproblem haben viele Theisten die Konsequenz gezogen, daß es in der Religion "ohnedies nicht auf die Vernunft, sondern auf den Glauben" ankäme. Aber diese Einstellung ist deshalb unplausibel, weil sich unausweichlich die Frage stellt, woran geglaubt werden soll. Welches Credo?

Konfrontiert man moderne Theisten mit dieser Überlegung (oder fühlen sie sich durch skeptische Einwände herausgefordert), dann erwidern sie gelegentlich, daß man zwar nicht beweisen könne, daß der traditionelle Gott existiere, daß allerdings auch Skeptiker nicht begründen könnten, daß es ihn nicht gäbe. Allein aufgrund der Möglichkeit, daß der Glaube wahr sein könnte, fühlen sie sich berechtigt, weiterhin zu glauben. Aber auf der Ebene bloßer Möglichkeiten zu argumentieren bedeutet, daß jede beliebige Behauptung, die keinen Widerspruch enthält, mit gleichem Recht wahr sein kann; und da eine unendliche Zahl möglicher religiöser Entwürfe existiert, ist die Wahrscheinlichkeit irgendeiner Religion, die Eine wahre zu sein, eins zu unendlich, und das heißt: Die Wahrscheinlichkeit ist unendlich klein. Der Schlüssel zu einer verantwortungsvollen Lebensform ist jedoch nicht "Möglichkeit", sondern Wahrscheinlichkeit, und die Wahrscheinlichkeit, daß eine Behauptung wahr ist, hängt von den vorliegenden Evidenzen ab.

Aber trotz gegenteiliger Evidenzen (die Gottesbeweise mißlingen und das Theodizeeproblem ist unlösbar) halten die Anhänger der drei Weltreligionen an ihrem Glauben fest, und sie werden dafür von den jeweiligen Kirchenoberen als "fest im Glauben stehend" belobigt und als Vorbild hingestellt. Im Gegensatz dazu setzt sich ein Wissenschaftler, der seine Thesen auf ungenügende Evidenzen gründet, zumindest der Kritik anderer Wissenschaftler aus. Soll menschliches Zusammenleben nicht im Chaos enden, so müssen wir uns in unserem Handeln am Gegebenen orientieren, und die Frage, ob ein Ding oder eine Situation existiert, hängt eben von empirischen Evidenzen ab. Superman könnte existieren, aber der Mangel an Evidenz macht seine Existenz äußerst unwahrscheinlich, weshalb wir auch auf die bloße Möglichkeit hin, daß er herunterschweben und uns retten könnte, nicht blindlings vor ein fahrendes Auto springen sollten.

Wohl steht geschrieben, daß derjenige, der glaubt, selig wird, aber trifft dies tatsächlich zu? Warum sollte beispielsweise der Glaube an Jesus aus Nazareth selig machen? Hätten wir von Jugend an geglaubt, daß alles Seelenheil von Allah und seinem Propheten stamme, so wären wir wahrscheinlich derselben Segnungen teilhaftig geworden. Dies sei allen denjenigen entgegnet, die sich auf innere Erfahrungen berufen und daraus die Untrüglichkeit ihres Glaubens herleiten. Zwar meinen viele, ohne ihren speziellen Glauben könnten sie nicht leben. Aber als Afrikaner hätten sie wahrscheinlich einen ganz anderen Glauben und als Inder wieder einen anderen und in der Stunde ihres Ablebens hielten sie vielleicht den Schwanz einer Kuh in Händen - ein Punkt, der die These von der "Lebensnotwendigkeit" eines bestimmten Glaubens aufs höchste relativiert.

In vielen Gegenden der Erde ist eine bestimmte Form der Religiosität dominant. Auch dort bekommen Ungläubige zu hören, daß die weite Verbreitung dieser Religion bereits ein hinreichender Beweis für die Wahrheit sei: Wo viel Rauch, da ist auch viel Feuer! Und traditionelle Theisten können immerhin auf die Tatsache verweisen, daß es in der Geschichte der Menschheit viele Milliarden Menschen gegeben hat, die von der Existenz eines einzigen Gottes überzeugt waren. Aber zumindest ebenso viele Menschen haben an die Existenz vieler Götter geglaubt, und viele waren überzeugt, daß die Erde eine Scheibe sei, über der jeden Tag die Sonne auf- und untergeht. Aus der weiten Verbreitung eines bestimmten Glaubens folgt also nicht die Wahrheit des Geglaubten. Außerdem gehört zum moralischen Leben das Streben nach Wahrheit; dann aber müßte ein moralischer Mensch auch bereit sein, die Wahrheit seines je speziellen Glaubens zu hinterfragen und sich in seinem Handeln an demjenigen zu orientieren, wofür die besseren Evidenzen sprechen.(27)

Und meines Erachtens sprechen die besseren Evidenzen eindeutig für den Skeptiker und macht die Glaubensforderung allein keinen Sinn. Denn bei genügender Evidenz wüßte man; und bei ungenügender Evidenz stellt sich unweigerlich die Frage: Woran glauben? Es scheint hier ein klassisches Dilemma vorzuliegen: Zum einen beschränken, ja demütigen Theisten die Vernunft, um nämlich dem Glauben Platz zu schaffen, aber dann wiederum benötigen sie den Verstand, um zu begründen, weshalb sie gerade daran glauben.

Den Abschluß meiner Ausführungen möge jedoch keine derartige philosophische Subtilität, sondern ein internes Argument gegen die Überbetonung des Glaubens im Rahmen des Christentums bilden. Obwohl die Glaubensemphase, wie zitiert, im Neuen Testament an vielen Stellen zentral ist, kann man darin auch eine gewisse Umdeutung der Lehren Jesu sehen. Der Held des Christentums hatte nämlich neben dem Glauben an Gott und an sich selbst den Anhängern vor allem eine Praxis, einen gewissen zwischenmenschlichen Umgang ans Herz gelegt. Aber dieser scheint für Paulus unerfüllbar gewesen zu sein; also behauptete er, daß nicht Werke, sondern allein der Glaube an Jesus Christus selig mache. Damit wurde der Glaube zum Heilmittel all jener, die unfähig sind, beispielsweise die Forderung Jesu: "Was Ihr den Geringsten getan habt, habt Ihr mir getan", in die Tat umzusetzen. Weil nach Paulus "die Erlösung durch Gott" nichts mit Werken zu tun hat, ergibt sich als bemerkenswerte Konsequenz, daß viele Christen wie alle Welt handeln (ja oft, etwa im Vergleich mit Buddhisten, viel Problematischeres tun) - und für die Zeit der Stimmungen (und der Karriere) dann ihr Christentum auspacken. Aber ein solches Verhalten fand bereits im Neuen Testament, nämlich im Jakobusbrief, seinen Kritiker: "Was nützt es, meine Brüder, wenn jemand sagt, er habe Glauben, hat aber keine Werke? Kann etwa der Glaube ihn erretten? Wenn aber ein Bruder oder eine Schwester dürftig gekleidet ist und der täglichen Nahrung entbehrt, aber jemand unter euch spricht zu ihnen: Geht hin in Frieden, wärmt euch und sättigt euch! ihr gebt ihnen aber nicht das für den Leib Notwendige, was nützt es? So ist auch der Glaube, wenn er keine Werke hat, in sich selbst tot."(28)

Anmerkungen

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(1) Zit.n. D.Hume, Dialoge über natürliche Religion. Stuttgart 1981, S. 99.

(2) Jh 12.44f.; Gal 3.11f.; Mk 9.23f. Als der christlichen Gemeinde auch Nichtjuden angehörten, ersetzte der Glaube an Jesus die für Juden obligatorische Beschneidung.

(3) Johannes und Paulus sind die beiden herausragenden Repräsentanten der biblischen Glaubenstheologie, derzufolge Glaube oder Unglaube die Grundalternative im menschlichen Leben darstelle.

(4) Eph 4.5.

(5) Die hl.Kirche reagierte hier sehr geschickt auf die sich verändernden politisch-ökonomischen Bedingungen: Ehe sie zur Staatsreligion geworden war, wurde der Pazifismus gefordert, danach die Bewaffnung. Vgl. K.Deschner, Die Kriminalgeschichte des Christentums. Band I-IV. Reinbek 1986ff.

(6) 5 Mose 21.23 (m.H.; vgl. Sach 13.3). Die unter Christen zur Formel geronnene Behauptung, daß >die Juden ihn verkannt hätten<, spricht wohl nur für die Gesetzestreue der Juden.

(7) 1 Kor 15.24f.

(8) Anthony Collins gab in seinem seinerzeit berühmten Werk >A Discourse of free-thinking, occasion'd by the rise and growth of a sect call'd Free-thinkers< eine glänzende Definition von Free-thinking: "The Use of the Understanding, in endeavouring to find out the Meaning of any Proposition whatsoever, in considering the nature of the Evidence for or against it, and in judging of it according to the seeming Force or Weakness of the Evidence."(London [tatsächlich: The Hague] 1713, S.5).

(9) A.Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Zweiter Teil. Band II. Zürich 1977, S. 364). Wohl nur mit dem Hinweis auf frühkindliche Prägung läßt sich erklären, daß die Wahrheit des protestantischen Dogmas mit seinen Innerlichkeiten vollkommen dem norddeutschen Geistlichen und die Wahrheit des katholischen Dogmas mit seinen Äußerlichkeiten vollkommen dem süddeutschen Geistlichen einleuchtet.

(10) Schopenhauer, a.a.O., S. 362.

(11) "Zu so viel Unheil hat die Religion die Menschen verleitet", klagte bereits Lukrez (Von der Natur der Dinge, Buch 1, Zl. 102). Zur Funktion des Glaubens als Abwehr kritischer Rationalität vgl. H.Albert, Traktat über kritische Vernunft [1968]. Tübingen 1991. (insbes. Kap. V.)

(12) Außerdem: Weshalb sollte das Stellen von Fragen keine gottgewollte Tätigkeit sein?

(13) M.Luther: >Wer... ein Christ sein will, der... steche seiner Vernunft die Augen aus.... <; >Vernunft und die Weisheit unseres Fleisches verdammen die Weisheit von Gottes Wort<; >... aber du mußt allhier [in Glaubensangelegenheiten] die Vernunft fahren lassen und von ihr nichts wissen und sie gar töten, sonst wird man nicht ins Himmelreich kommen<.(Zit.n. W.Kaufmann, Nietzsche. Philosoph - Psychologe - Antichrist. Darmstadt 1988, S. 408). Luther hat die Wahrheit wie eine schöne Frau gefürchtet. Die Vernunft ist für ihn eine Hure, die jedem Herrn zu Diensten ist, wobei er an jene Theologen gedacht haben mag, die dem päpstlichen Herrschaftswillen frei zur Verfügung standen. Die von Luther kritisierte Vernunft ist die rein zweckrationale Vernunft, die nach geeigneten Mitteln für Ziele sucht, die von ihr selbst nicht festgelegt sind.

(14) Bereits die Zahl der Dogmen, Schriften, Apostel, Sekten sowie Irrlehren, die für sich Wahrheit und Unfehlbarkeit beanspruchten, ist Legion.

(15) Es wäre ja auch sehr sonderbar, hätte der Allwissende keine klaren Grundsätze, sondern ein Mysterium geoffenbart.

(16) Zur Verdeutlichung dieses Punktes sei Walter Kaufmann zitiert: "Niemand kommt auf den Gedanken, einem absoluten Verzicht auf Vernunft und Einsicht das Wort zu reden. Wenn es um wichtigste Entscheidungen geht, finden sich aber merkwürdigerweise immer Leute, die diesen Rat in den Wind schlagen: ... >Wähle deine Gäste zum Mittagessen sorgfältig; suchst Du Dir eine Braut, verlasse Dich auf die Tombola.< ... Die Vorstellung, daß man der Vernunft entsagen müsse,... wurzelt in einer reichen christlichen Tradition ... Luther nannte die Vernunft >des Teufels Braut< und eine >schöne Metze< und >Gottes ärgste Feindin<; er sagte: >Auf Erden (ist) unter allen Gefährlichkeiten kein gefährlicher Ding denn eine hochreiche sinnige Vernunft<. Und: Vernunft >muß geblendet sein< und >der Glaube (muß) alle Vernunft, Sinne und Verstand mit Füßen treten.<" Aber diese Geringschätzung der Vernunft hat gerade auch für Gläubige höchst bedenkliche Konsequenzen, denn wenn wir der Vernunft entsagen, "unseren Verstand kasteien und uns unserer Sinne begeben - wie können wir dann noch gewahr werden, ob es Gottes Wort ist, dem wir Gehorsam erweisen?" Vielleicht ist es ein Fehler, "den Gott der Christenheit anzubeten; vielleicht sollten wir lieber Allah oder Schiwa anbeten oder eine australische Gottheit oder irgendein Götzenbild? Wie sollen wir die Wahl treffen, wenn nicht mittels unseres Verstandes und der Vernunft?"(W.Kaufmann, Der Glaube eines Ketzers. München 1965, S. 89f.).

(17) Wofür gehen denn Menschen nicht in den Tod? Natürlich sind Rassisten unerschütterlich in ihrem Glauben ...

(18) F.Nietzsche, Der Antichrist. Sämtliche Werke. Band VI. München 1988, S. 54f.

(19) Vgl. G.W.Leibniz: Gott ist "über alles zu lieben", aber dies ist "nicht möglich ohne Kenntnis der Vollkommenheiten, aus welchen die Liebe, die er verdient, ... entspringt."(Die Theodizee, Hamburg 1968, S. 99)

(20) Im Gegenteil: Wenn Gott tatsächlich die Welt aus dem Nichts geschaffen hat und 5.000 Menschen mit zwei Laib Brot und fünf Fischen ernähren kann, und wenn die Übel der Welt nicht mit der Güte Gottes in Einklang zu bringen sind, dann werden beim Jüngsten Gericht nicht wir angeklagt, sondern wir werden den Allmächtigen wegen gröbster Fahrlässigkeit und milliardenfachen Mordes anklagen.

(21) F.Nietzsche, Morgenröte. Sämtliche Werke. Band III. München 1988, S. 83.

(22) Sure 22.19ff.

(23) Was soll denn Gutes dabei herauskommen, wenn jemand einem Wesen vertraut, das Urheber des Bösen sein könnte?

(24) Baron Holbach spricht von Visionen, "die diejenigen Menschen zu schauen den Vorzug haben, die Gott mit der besonderen Gnade eines übergeschnappten Hirns, hysterischer Einbildungen, schlechter Verdauung und mit der Gabe, unverschämt zu lügen, bedacht hat."(Religionskritische Schriften. Berlin/Weimar 1970,S. 198)

(25) Als der Begriff der natürlichen Kausalität noch nicht erdacht war, verursachte nicht der fehlende Regen oder ein Erdrutsch das plötzliche Versiegen der Quellen, sondern es waren die Tücken unterirdischer Dämonen.

(26) Vgl. B.Russell: "Aber finden Sie nicht, daß genügend Fälle von Menschen berichtet wurden, die glauben, sie hätten in ihrem Herzen Satan sprechen gehört, genau so, wie die Mystiker Gott geltend machen -... Das scheint ein Erlebnis der gleichen Art zu sein wie das Erlebnis Gottes durch den Mystiker, und ich verstehe nicht, wie Sie aus dem, was uns die Mystiker sagen, irgendein Argument für Gott ableiten können, das nicht gleichzeitig ein Argument für Satan ist."(Warum ich kein Christ bin - über Religion, Moral und Humanität. Reinbek 1972, S. 194) Außerdem: Weshalb sollte der Allgütige bloß zu einigen, nicht aber zu anderen sprechen?

(27) Auf das Argument: >Aber Sie halten doch auch Sätze für wahr, ohne sie begründen zu können<, lautet die wahrscheinlich beste Antwort: >Ja, aber diese Sätze glauben Sie auch! Hier geht es jedoch um Sätze, in denen wir uns hinsichtlich des Glaubens unterscheiden!< Und: >Diese grundsätzlichen Sätze, die wir beide glauben, zu bezweifeln ist in sinnvoller Weise nicht möglich, weil das Bezweifelte im Rechtfertigungsversuch als gerechtfertigt vorausgesetzt werden muß. Das ist beim religiösen Glauben nicht der Fall!<

(28) Jak 2.14f. Diese Passage ist wohl der Hauptgrund, weshalb Paulus (und spätere Reformatoren) den Jakobusbrief ablehnten. So hat Luther, "seiner eigenen Bekundung nach, zwar sein Verständnis vom Evangelium durch die Briefe des Paulus gewonnen, und er ging darin so weit, daß er den Jakobusbrief im Namen von Paulus zurückwies. Aber Luther hat von Paulus nicht übernommen, was dieser in der zweiten Hälfte des Ausspruchs sagt: >Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.<(1 Kor 13.23) Im Gegenteil: Luther hat immer gelehrt, daß, >wiewohl die Liebe ... eine schöne ... Tugend ist, so ist doch der Glaube unendlich viel größer und erhabener<, und seine Schriften sind voll von Äußerungen wie dieser: >jene sophistische Lehre von dem Glauben, der ... durch die Liebe sein Wesen erhalten ... hat, [ist] aus dem Teufel, so ... uns verwirrt in türkische und jüdische Irrtümer." (Kaufmann, a.a.O., S. 405f.).