Prof. Dr. Gerhard Streminger

Eine Kritik der christlichen Ethik*

aus: Aufklärung und Kritik 1/1999 (S. 3 ff.)


Zusammenfassung: Ich habe in diesem Artikel versucht, wichtige Vorzüge und Nachteile der christlichen Ethik zu thematisieren. Wesentliche Vorzüge sind meines Erachtens, daß es eine christliche bzw. Jesuanische Ethik gibt und daß diese einige bedenkenswerte Aussagen enthält, beispielsweise die Jesuanische Identifikation mit den Armen. Als wesentliche Nachteile erscheinen mir: die Art der Jesuanischen Motivierung; die begrenzte Originalität seiner Gebote; die gelegentliche Schroffheit des biblischen Jesus; die nicht unproblematische Ethik der Bergpredigt; der Mangel an einer echten Soziallehre; sowie der Mangel an einer genauen Bestimmung der angeblich so zentralen Tugend der Liebe.

Summary: In this article I have tried to discuss important advantages and disadvantages of the Christian ethics. Essential advantages are the facts that there is a Christian resp. >Jesuanic< ethics and that it contains some remarkable statements such as the identification of Jesus with the poor. As essential disadvantages seem to me: the mode of Jesus’ form of motivation; the limited originality of his commandments; the occasional roughness of the biblical Jesus; the not unproblematic ethics of the sermon on the mountain; the lack of a true social doctrine; and the lack of a precise discription of the assumed central doctrine of love.

((1)) Die folgende Diskussion der Vor- und Nachteile der christlichen Ethik basiert auf einigen Fakten, die von Verteidigern und Kritikern der christlichen Ethik problemlos zu akzeptieren sind. Ungeachtet aller Unterschiede in der Beurteilung gibt es also meines Erachtens einen Kanon an Tatsachen, den Gläubige und Ungläubige teilen können. Die wichtigsten sind:

a. Es existiert eine christliche Ethik, also ein System von Werturteilen, denenzufolge gewisse Handlungen oder Verhaltensweisen als >positiv bzw. gut< angesehen und andere mißbilligt werden. Zudem wird eine Begründung dieser Werturteile versucht. Eine christliche Ethik vermag somit auf die allerorts bedauerte Orientierungslosigkeit eine Antwort anzubieten. Und da die besagte Begründung letztlich auf dem Willen eines göttlichen Wesens bzw. auf einem göttlichen Plan beruht, in dem neben dem Diesseits noch ein Jenseits eine zentrale Rolle spielt, vermag eine christliche Ethik überdies auf die ebenso vielbeschworene Sinnkrise eine Antwort zu geben. Die Frage des Kritikers und Ungläubigen kann somit nicht lauten, ob es eine christliche Ethik gibt, die grundsätzlich verschiedene Aufgaben zu erfüllen vermag – die Frage kann nur lauten, ob dieses ethische System in sich stimmig, gut begründet und gegenüber der Wirklichkeit plausibel ist; und ob nicht weitaus bessere Moralphilosophien erdacht wurden.

b. Jede christliche Ethik muß sich zumindest indirekt auf das Leben und die Gebote Jesu beziehen. Für Gläubige und Theologen, die in der protestantischen Tradition stehen, ist dieser Punkt natürlich eine Selbstverständlichkeit. Katholiken denken hier etwas differenzierter, unterscheiden sie doch neben der >Autorität des Wortes< noch eine >Autorität der Tradition<. Doch auch sie beziehen sich spätestens im Zweifelsfall – allein schon deshalb, weil die Tradition nicht immer so eindeutig und so vorbildlich war – auf das >Wort Gottes<, auf die >von Gott geoffenbarte Schrift<; erst durch diesen Bezug wird ihre jeweilige Botschaft zu einer christlichen. Ein ethisches System, das die Bezeichnung >christlich< verdient, wird letztlich immer von der Jesuanischen Ethik abhängen (müssen). Auch über diesen Punkt gibt es zwischen Gläubigen und Ungläubigen wohl keine ernsthafte Meinungsverschiedenheit.

c. Nun finden sich im Neuen Testament (im folgenden mit >NT< abgekürzt zitiert) ohne Zweifel bedenkenswerte Passagen. Da wird von potentiellen Steinigern einer Ehebrecherin gefordert, sie mögen sich der eigenen Schuld bewußt werden und sich der Verurteilung enthalten. Da wird Menschen aufgetragen, sie sollen sich nicht bei Leblosem aufhalten, sondern die Toten ihre Toten begraben lassen. Da identifiziert sich Jesus mit der Fülle menschlichen Leids: >Was ihr den Geringsten getan habt, habt ihr mir getan.< Eine allfällige Kritik kann somit nicht lauten, ob es bedenkenswerte Aussagen im NT gibt, denn dies ist unbestritten – die Frage kann nur lauten, in welchem Kontext diese Aussagen stehen, wie sie begründet werden, welche Passagen sich außerdem im >Buch der Bücher< finden, ob nicht auch heidnische Ethiken ähnliche oder vielleicht sogar noch eine Vielzahl anderer bemerkenswerter Sentenzen enthalten.

((2)) Ehe nun auf die Jesuanische Ethik näher eingegangen wird, sei hinsichtlich der bisherigen Überlegungen ein interessanter Einwand diskutiert, der von zeitgenössischen Theologen gelegentlich vorgebracht wird. Dieser lautet so: >Es gibt im NT überhaupt keine Ethik. Von einer ‘Ethik’ zu sprechen, ist bereits Ausdruck eines philosophischen Denkens. Aber Jesus hat als Vorbild, als charismatische Persönlichkeit, durch sein Tun gewirkt. Von einer ‘Jesuanischen Ethik’ zu sprechen, ist bereits Kennzeichen eines nicht-religiösen, jedenfalls nicht-christlichen Diskurses.<

((3)) Dieser Einwand ist meines Erachtens in seiner Gesamtheit nicht haltbar, enthält allerdings ein Körnchen Wahrheit. Ehe darauf eingegangen wird, sei ein ähnlicher Einwand gegen die philosophische Betrachtungsweise eines anderen theologischen Problems, und zwar des berühmt-berüchtigten Theodizee-Problems, kurz thematisiert. Von ihm wird nämlich gelegentlich ebenfalls behauptet, daß es >kein biblisches, sondern ein rein philosophisches Problem< sei, daß es also die christliche Botschaft im Kern überhaupt nicht treffe.

((4)) Nun kann man vergangenen und gegenwärtigen Philosophen in der Tat vorwerfen, daß sie den Versuch unternommen haben, das Problem, wie die Güte und Macht Gottes mit den Übeln der Welt verträglich sein könne, zu systematisieren und logisch zu durchdenken: Si deus unde malum? lautet seine von Boethius stammende klassische, wiewohl ungenaue Formulierung (ungenau ist diese Formulierung deshalb, weil nur dann, wenn Gott als gut gedacht wird, das Theodizee-Problem auftaucht; die Formel müßte also Si deus bonus unde malum? lauten).

((5)) Aber man kann Philosophen meines Erachtens nicht vorwerfen, daß sie sich damit gar keines biblischen Themas angenommen hätten. Denn gilt nicht Jahwe bzw. Gott in der Bibel als >Schöpfer Himmels und der Erde<? Wenn ER aber der Schöpfer von Milliarden von Sonnensystemen ist, dann muß es IHM leicht fallen, auf dem – in kosmischen Dimensionen gedacht – winzigen Sandkorn, genannt Erde, die Übel abzuschaffen, wenn er will. Und beim Jüngsten Gericht, am >Ende aller Zeiten<, soll ER ein gerechter Richter, manchen Versionen zufolge sogar ein barmherziger Vater sein. Also ist der biblische Gott mächtig und vereint in sich viele positive Eigenschaften; dann aber stellt sich mit aller Vehemenz die Frage, woher dann die Übel stammen, also das Theodizee-Problem.

((6)) Zudem gilt: Hat nicht Jesus in einer Passage, die im Arius-Streit eine zentrale Rolle spielte, sich dagegen verwahrt, daß man ihn gut nenne, denn >einer ist gut, nämlich Gott im Himmel<? Außerdem gilt, daß Jesus auch dessen Macht betont hat, als er nämlich meinte, daß kein Sperling vom Himmel fällt, wenn Gott dies nicht will. Fällt aber kein Sperling vom Himmel, ohne daß Gott dies will, so fällt natürlich auch keine Atombombe vom Himmel, ohne daß Gott dies will. Also ist ER laut Jesuanischer Lehre nicht nur gut, sondern auch mächtig. Aber dann taucht erneut mit allem Nachdruck das Theodizee-Problem auf. Diese heikle Fragestellung ist also keinem irreligiösen Philosophenkopf entsprungen, sondern in fundamentaler Weise biblischen Ursprungs. (Wer von meinen Ausführungen noch nicht überzeugt ist, möge das Buch Hiob im AT lesen.)

((7)) Doch zurück zur Behauptung, daß es im NT überhaupt keine Ethik gäbe, >sei dies doch eine philosophische Fragestellung und habe Jesus doch gerade durch sein Tun< gewirkt. Nun war der Held des Christentums sicherlich kein großer Philosoph, sondern hat vor allem durch seine Predigten zu interessieren vermocht – und tut dies immer noch. Allerdings finden sich, wie im folgenden ausführlich dargelegt werden soll,

– im NT gleichwohl konkrete Forderungen und Gebote; existiert

– ansatzweise eine Begründung derselben; und gibt es

– einige plastische Versuche, Menschen zu dem von Jesus geforderten Verhalten zu motivieren.

((8)) Es finden sich also im Evangelium alle wesentlichen Bestimmungsstücke einer Ethik. Unterbelichtet bleibt allerdings der zweite Punkt, nämlich die Begründung der Gebote, und hier kommt dem besagten Einwand eine gewisse Berechtigung zu. Denn wird auch aus dem Kontext der Predigten Jesu deutlich, worauf eine christliche Begründung hinauslaufen muß (>Die Gebote sind einzuhalten, weil dies Gottes Wille ist, weil sie einem göttlichen Plan entsprechen<)(1) – wird also auch klar, wie eine christliche Begründung der Ethik auszusehen hätte, so ist dies im Evangelium doch nur angedeutet.

((9)) Eine Ausarbeitung dieses Punktes haben erst christliche Ethiker versucht, und ganze Bibliotheken wurden mit dem Versuch eines Beweises der Existenz oder der Güte Gottes gefüllt (scheint es doch nur dann gut zu sein, die Gebote einer Autorität ohne weitere Begründung zu befolgen, wenn diese selbst gut ist). In diesem Sinn, nämlich hinsichtlich der Begründung der Gebote, gibt es also eine christliche Ethik, die weit über die Jesuanische hinausgeht.

((10)) Aber hat auch Jesus bezüglich der Rechtfertigung seiner Gebote wenig zu sagen, so hat er sich doch sehr darum bemüht, seine Mitmenschen zur Befolgung bestimmter Forderungen zu motivieren.

A. Zur Jesuanischen Motivierung menschlichen Tuns

((11)) Nach diesen einleitenden Bemerkungen nun zur Jesuanischen Ethik selbst, deren ausschließliche Quelle das Evangelium ist. Dieses gilt Christen als letzte religiöse und moralische Autorität, als >Maßstab aller Maßstäbe<, als Offenbarungsurkunde. "Die Bibel ist immer noch das meist verbreitete und übersetzte Buch der Welt: sie wird inklusive unvollständig-auszugsweiser Ausgaben jährlich in ca. 50 Millionen Exemplaren gedruckt und verbreitet."(2)

((12)) Vertieft man sich aber auch nur ein wenig in dieses seit Jahrhunderten ungemein erfolgreiche Buch, so dürfte als erstes der unsystematische Charakter der Jesuanischen Lehren auffallen: Vieles, was gesagt wird, folgt nicht aus dem zuvor Gesagten. Zudem sprach Jesus zumeist in Gleichnissen, wobei einige so vieldeutig sind, daß sogar "viele seiner Anhänger" murren: "Das sind unverständliche Reden, wer mag das verstehen", heißt es bei Johannes.(3)

((13)) Selbst die ersten Jünger, die noch das Privileg eines direkten Kontakts zu Jesus hatten, waren also durch die Reden ihres Meisters eher erregt als erleuchtet, und angesichts des Folgenden wäre Empörung wohl die angemessene Reaktion gewesen: "Und als er allein war, fragten ihn, die um ihn waren, samt den Zwölfen [!] nach den Gleichnissen. Und er sprach zu ihnen: Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben, jenen aber, die draußen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil, ... damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde."(4) Warum wird eigentlich trotz dieses Jesus-Wortes behauptet, der Sohn Gottes sei gekommen, um alle zu erlösen?

((14)) Dabei mag das Erzählen von Gleichnissen durchaus geeignet sein, gewisse Botschaften in eindringlicher Weise zu vermitteln, da sie im Zuhörer zahlreiche Assoziationen auslösen und andere Bereiche als den des reinen Denkens ansprechen. Aber dieser Vorteil wird mit dem Nachteil erkauft, daß der genaue Sinn des Gesagten ziemlich im Dunkeln bleibt. Die Evangelisten dürften ähnlich empfunden haben, jedenfalls könnte das Johannes-Evangelium auch als Erläuterung der Gleichnisse gedacht gewesen sein.

((15)) Aber haben sich auch dutzende Generationen von christlichen Apologeten und Theologen mit der Auslegung der im Grunde wenigen Texte beschäftigt, so ist bis heute fast alles unsicher geblieben. Bislang konnten Christen sich nicht darüber einigen, "was moralisch und was unmoralisch ist. Verschiedener Meinung sind sie nicht nur in Angelegenheiten, von denen nach ihrer Auffassung das Seelenheil abhängt, sondern auch in aktuellen Fragen dieser Welt, vom Pazifismus bis zur Ehescheidung und zur Geschlechtsmoral im allgemeinen, vom richtigen Verhalten einer totalitären Regierung gegenüber bis zur Todesstrafe."(5)

((16)) Diese Meinungsverschiedenheiten sind nicht Ausdruck eines >gottfernen< Zeitalters, sondern prägen die Tradition und reichen tief in die früheste Geschichte des Christentums: Bereits in der Apostelgeschichte wird von Unstimmigkeiten unter den ersten Anhängern berichtet. So soll es beim Konzil in Jerusalem "Zwiespalt" und "viel Zank" gegeben haben(6); und schon wenig später kam es zu regelrechten Verdammungen. So berichtet Paulus, daß er "zwei Ketzer ... dem Satan übergeben habe, damit sie durch seine Züchtigung das Lästern verlernen", und Petrus meinte, daß Irrlehrer "wie unvernünftige Tiere von Natur aus zum Eingefangenwerden und Vernichten geschaffen" seien.(7)Angesichts solcher Intoleranz nimmt es nicht wunder, daß bereits im Jahre 385, und zwar in Trier, die ersten Christen aus Glaubensgründen von anderen Christen getötet wurden.

((17)) Jesus ist für dieses Chaos zumindest mitverantwortlich, denn, wie oben zitiert, hatte er sich aus höchst dubiosen Motiven entschlossen, vieles ganz bewußt im Dunkeln zu lassen. Zudem gilt: Wenn jenen, >die draußen sind<, alles in Gleichnissen zuteil wird, >damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde<, so können die Verfasser der drei synoptischen Evangelien – einmal abgesehen davon, daß sie keine Zeitgenossen waren – kaum zu den Auserwählten gehört haben, redet doch Jesus bei Markus, Matthäus und Lukas vor allem in Gleichnissen.

((18)) Aber trotz der Unsystematik der Bibelberichte lassen sich doch drei Hauptgebote der Jesuanischen Ethik unterscheiden: Liebt Gott!, Glaubt an mich!, und: Liebt einander! Jesus nennt auch zwei Gründe, weshalb diese Gebote befolgt werden sollten: Weil das Ende naht und weil jene, die die Gebote nicht befolgen, "Heulen und Zähneknirschen"(8) erwartet.

(a) Der Irrtum des biblischen Jesus

((19)) Vor allem Albert Schweitzer hat gezeigt, daß der Jesus der synoptischen Evangelien in seiner Botschaft von der Annahme ausging, daß die Welt kurz vor ihrem Ende stehe. So prophezeite Jesus, "daß der Menschensohn kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen Engeln, und alsdann wird er einem jeglichen vergelten nach seinen Werken. Wahrlich, ich sage euch: Es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich."(9)

((20)) Aber die Prognose des künftigen Gottesreiches: die Wiederkehr des Sohnes samt Vater und Engel, die Auferstehung der Toten, das endzeitliche Weltgericht, die Überwindung aller dämonischen Mächte, ist nicht eingetroffen. Trotz der angeblichen Menschwerdung des Erlösers hat sich objektiv wenig geändert.(10)

((21)) Die von Jesus selbst nahegelegte eschatologische Deutung seines Todes und die Erwartung einer allgemeinen endzeitlichen Totenauferstehung klingt stark und deutlich nach, vor allem bei Matthäus: Er berichtet von einer dreistündigen Finsternis beim Tod Jesu, "und siehe, der Vorhang des Tempels zerriß in zwei Stücke, von oben bis unten; und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Grüfte taten sich auf, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt; und sie stiegen nach seiner Auferweckung aus den Grüften und gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen."(11) Diese endzeitliche Totenauferstehung scheint allerdings nur in der überhitzten Phantasie des Evangelisten stattgefunden zu haben, denn ansonsten weiß niemand von diesen wunderbaren Ereignissen zu berichten. Die Tatsache, daß eine überhitzte Phantasie den Blick für das Wahre zu trüben vermag, gilt wohl auch für das Folgende: Nach Jesu Reise zu den Toten und seiner angeblichen Auferstehung von denselben soll er seinen Anhängern verheißen haben: "... und so sie etwas Tödliches trinken, wird΄s ihnen nicht schaden."(12)

((22)) Die Hoffnung, daß Jesus bald wiederkehren werde, teilten allerdings viele: In dem wahrscheinlich ältesten Dokument des NT, dem ersten Brief an die Thessalonicher, versicherte Paulus die Gläubigen, daß sie noch alle am Leben sein werden, wenn der Herr kommt: "So ermuntert nun einander mit diesen Worten."(13) Die Gemeinde in Tessalonich hatte, wie andere Christen auch, die verheißene Rückkehr des Messias sehnsüchtig erwartet. Einige hatten zu arbeiten aufgehört, andere waren schwärmerisch geworden ob des nahen Gottesreiches. Paulus’ erster Brief an sie ist noch relativ ruhig geschrieben, aber der zweite ist schon heftiger. Offenbar war ihm zu Ohren gekommen, daß die Situation weitaus problematischer war, als er zunächst angenommen hatte, weshalb er ihnen "gebot", ihre Aufgaben zu erfüllen und ihre Pflichten zu tun: "Wenn jemand nicht arbeiten will, soll er auch nicht essen."(14) Der Schluß des ersten Briefes legt sogar nahe, daß jene, die die Wiederkehr des Erlösers erwarteten, sich durch moralische Nachlässigkeit auszeichneten; sie dürften der Meinung gewesen sein, wegen der baldigen Wiederkehr des Erlösers sei alles Tun unwichtig geworden.

((23)) Eingetroffen ist das Ende der Welt indes nicht. Aber "wo ist die Verheißung seiner Ankunft? Denn seitdem die Väter entschlafen sind, bleibt alles so von Anfang der Schöpfung an", fragen im 2. Petrus-Brief einige Spötter.(15) Offenbar hatte sich Jesus in diesem Punkt geirrt, weshalb schließlich auch Paulus seine Meinung ändern mußte und eine Entwicklung einleitete, die das Warten auf die Wiederkehr des Herrn immer mehr hinauszuschieben vermochte und schließlich sogar als überflüssig erscheinen ließ. Denn hatte Paulus zunächst gemeint: "Dies aber sage ich, Brüder: Die Zeit ist begrenzt: daß künftig die, die Frauen haben, seien, als hätten sie keine, und die Weinenden, als weinten sie nicht, und die sich Freuenden, als freuten sie sich nicht, ... denn die Gestalt dieser Welt vergeht"(16), so verkündet Paulus nun, daß die große Wende bereits eingetreten sei: "Wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden."(17)

((24)) Jesus wurde im Zeitalter der spätjüdischen Apokalyptik geboren, als viele Israeliten, die römische Herrschaft als Joch empfindend, die Vorstellung vom Ende der irdischen Geschichte durch eine künftige, übernatürliche Neugestaltung der Welt beschäftigte. In bewußtem Gegensatz zur ägyptischen Religion hatte Moses jeden Glauben an ein Leben nach dem Tod abgelehnt. Im alten Israel gibt es kein Interesse an einem jenseitigen Leben. Für Moses ist der Tod das Ende des Individuums, aber das Reich Jesu "ist nicht von dieser Welt"(18). Mit Beginn der Babylonischen Gefangenschaft, aus der die Israeliten von den Persern befreit wurden, begann eine lange Phase des Machtverlusts. Mit diesem Verlust schwand auch das Interesse für diese Welt, und mit diesem Schwund ging eine Zunahme an Spekulation über eine bessere, künftige Welt einher.(19) Deshalb berief sich Jesus direkt fast nur auf späte Teile des AT, auf das Danielbuch und insbesondere auf die erst knapp vor u.Z. entstandenen henochischen Bilderreden. Nicht-apokalyptische Stoffe des AT benützte er hingegen weitgehend auf dem Wege der Umdeutung.(20) An die jüngsten Teile des AT "erinnert nicht nur ein Ausdruck wie >Menschensohn<, sondern die gesamte Einstellung Jesu zum Diesseits und sein Interesse für eine andere Welt: Entgegen der Tradition, die von Amos bis zum zweiten Jesaja reicht, steht das Diesseits nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses, da man glaubt, daß diese Welt bald enden wird; und selbst jetzt, da diese Welt noch besteht, sollen wir weniger an sie denken als an eine andere – ja wir sollen möglichst überhaupt nicht mehr an diese Welt denken, sondern uns durch Tun und Trachten auf die >andere< Welt vorbereiten."(21) Im Gegensatz dazu gibt es in den fünf Büchern Mose keine individuelle Unsterblichkeit – nicht das jenseitige Heil des einzelnen, sondern das diesseitige Schicksal des Volkes Israel ist entscheidend.

((25)) Jesus hat also "das unmittelbar bevorstehende Weltende gepredigt und sich im Zentrum seiner Verkündigung vollständig getäuscht. Dies gilt als die sicherste Erkenntnis der gesamten modernen historisch-kritischen christlichen Theologie."(22) Die Tatsache, daß Jesus sich irrte, wird allerdings bis heute von den meisten Christen verdrängt, obwohl bereits Schweitzer deutlich gemacht hatte: "Unser Christentum beruht auf Trug, insoweit das Nichteintreffen der eschatologischen Erwartungen darin nicht eingestanden ist."(23)

((26)) Das Urteil von Karlheinz Deschner und Horst Herrmann, daß Jesus sich >völlig getäuscht< habe, ist allerdings etwas ungenau. Denn richtiger wäre wohl die Formulierung, daß der biblische Jesus sich geirrt hat. Was der historische Jesus nämlich wirklich gesagt hat, wissen wir nicht; zugänglich sind uns nur die Berichte seiner Anhänger. Diese mögen Jesu Worte wahrheitsgetreu wiedergeben, es könnte allerdings auch ganz anders sein. Sollten die Anhänger getreulich berichten, dann hat Jesus sich bezüglich des nahen Weltendes geirrt. Aber den Berichten treuer Anhänger, beispielsweise jener Stalins über Stalin oder J. F. Kennedys über Kennedy, begegnen wir zurecht mit großer Skepsis. Also könnte sich der biblische Jesus geirrt haben, der historische jedoch nicht. Der historische Jesus unterlag vielleicht gar keinem Irrtum; vielleicht ist er auch gar nicht auferstanden; ja vielleicht hat er gar nicht gelebt.

(b) Die Höllendrohungen des biblischen Jesus

((27)) Weil Jesus(24) ganz in der Naherwartung des Weltendes lebte, glaubten auch die Urchristen, daß das Ende der Welt mit seinem Tod unmittelbar in Zusammenhang stehe. Da aber keine übernatürlichen Zustände anbrachen, Jesus samt Vater und Engeln nicht zurückkehrte, die Toten nicht auferstanden, das endzeitliche Weltgericht nicht eintrat und die dämonischen Mächte nicht überwunden wurden, ist damit auch der objektive Beweis für die Auferstehung Jesu ausgeblieben.

((28)) Aber noch ungleich problematischer als dieser Irrtum ist das zweite Argument, das Jesus vorbrachte, um Menschen zu motivieren, seine Gebote zu befolgen. Denn jemand, der die Hölle akzeptierte und an die diesbezüglichen Ängste der Menschen appellierte, war kaum sensibel für eine >Lauterkeit des Motivierens<, die in einem ruhigen Appell an Einsicht und Vernunft besteht. Weil die Aufklärung in diesem Punkt einigermaßen erfolgreich war und weil jeder von uns Menschen kennt, die ein moralisches Leben führen, ohne an eine Hölle zu glauben, werden jene Passagen im NT, die von ewigen Strafen handeln, von liberaler Denkenden gewöhnlich übersehen.(25) Aber warum werden derartige Passagen verdrängt, wenn man zugleich behauptet, Jesus sei der von Gott Gesandte oder gar Gott selbst? Wenn Jesus derjenige war, an dem der Allwissende sein Wohlgefallen hatte, dann kann er sich nicht so häufig geirrt haben (schon gar nicht dann, wenn es darum geht, Menschen zur Befolgung göttlicher Gebote zu motivieren)! Außerdem steht geschrieben: "Das ganze Wort, das ich euch gebiete [!], sollt ihr bewahren."(26)

((29)) Und Jesus spricht von der Hölle nicht einmal, sondern etwa zwanzigmal. Er droht mit ewiger Verdammnis, mit Höllenfeuer, >wo der Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt<, er droht mit Feueröfen [!], wo es >Heulen und Zähneknirschen< geben wird(27); und auch die Bergpredigt ist von Höllendrohungen nicht frei.(28) Jemand, der in Aussicht stellte, daß endliche Vergehen mit ewig währenden Qualen bestraft werden, war wohl nicht >der vorbildlichste Morallehrer aller Zeiten<, vielmehr ein sehr ungerecht empfindendes Wesen. Denn es gibt nur wenige, die es für gerecht halten, daß für endliche Vergehen unendliche Strafen ausgesprochen werden. Und wohl nur mit Kopfschütteln und Aversion werden die meisten die Jesuanische Einteilung der Menschen in Böcke und Schafe lesen können. Diese erfolgt nämlich danach, ob sie seine Anhänger geblieben sind oder nicht: "Wenn jemand nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorret, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen."(29)

((30)) Häufig wird von christlicher Seite behauptet, das NT sei ungleich >harmloser< als das AT, da Gott sich im NT als liebender offenbare, nachdem er sich zuvor auch als eifersüchtiger und rachsüchtiger Gott gezeigt habe. Wahr ist allerdings wohl das Gegenteil: Im AT ist Jahwe derjenige, der auch Leid und Tod schickt, aber im NT, in dem der überweltlich vorgestellte Gott des AT zum Mensch gewordenen Gott wird, ist ER derjenige, der auch ewiges Leid schickt. Psychischer und physischer Terror sind also im NT ganz andere! Da der Jahwe des AT nur mit dem Tod, der Gott des NT jedoch mit dem ewigen Tod strafte, ist der grollende Jahwe relativ harmlos im Vergleich zum lieben Vater des NT. Diese Tatsache dürfte einer der Gründe gewesen sein, weshalb viele Juden zur christlichen Sekte auf Distanz blieben und sich auch durch Höllendrohungen nicht sehr beeindrucken ließen. Denn der Gott Mose schickte zwar den Tod, niemals jedoch die ewige Hölle.(30) Angesichts der Tatsache, daß viele Juden gegenüber der Botschaft des Helden des Christentums skeptisch blieben – wofür ihnen dann in der Geschichte Verstocktheit vorgeworfen und ihnen die Rechnung präsentiert wurde –, sollte zumindest nicht vergessen werden, daß der angeblich so vorbildliche und angeblich so charismatische Jesus einen Teil seiner Zuhörerschaft keineswegs überzeugen konnte.

((31)) Die in diesem Zusammenhang von Apologeten immer wieder vorgebrachte Behauptung, die Jesuanischen Höllendrohungen seien aus der Zeit heraus zu verstehen, ist wenig plausibel, da eben in großen Teilen des AT Jenseitsvorstellungen keine ausgezeichnete Rolle spielen und auch Zeitgenossen Jesu, nämlich die Sadduzäer, an kein Leben nach dem Tod glaubten.(31) Und selbst dann, wenn Höllenvorstellungen so verbreitet gewesen sein sollten, weshalb klärt Jesus die Menschheit nicht darüber auf, daß sie in diesem Punkt irrt und keinerlei Höllenqualen zu befürchten hat? Anstatt mit der Hölle zu drohen, hätte er Menschen die Angst davor genommen – und Jesus hätte es gewiß getan, wenn er ein Gott der Liebe gewesen wäre. Bedenkt man jedoch seine Höllendrohungen, dann war er kein Gott der Liebe, sondern ein ziemlich gewissenloser Mensch, der die Ängste seiner Mitmenschen noch schürte, um auf sich und seine Botschaft aufmerksam zu machen.

((32)) Die evangelische Form der Motivierung ist ein wenig zivilisierter Appell an den Egoismus des einzelnen. Zwar gebietet Jesus ein bestimmtes Verhalten gegenüber anderen, aber das Motiv dafür ist nicht deren Wohlergehen, sondern letztlich das eigene Seelenheil (>auf daß es dir wohl ergehe<, heißt es schon im AT): "Freut euch, daß eure Namen in den Himmeln angeschrieben sind"(32) und: Hütet euch vor der Hölle! Das Gebot >Liebet einander!< entpuppt sich also bei näherer Betrachtung als: >Liebt Euch!<

((33)) Deutlich wird dies in der vielgepriesenen Bergpredigt. Auch dort geht es letztlich nicht um das Schicksal anderer, sondern um das eigene Seelenheil. Worauf es wirklich ankommt, wird deutlich gesagt: Sammelt nicht Schätze auf Erden, wo Diebe nachgraben und sie stehlen, sondern sammelt Schätze im Himmel! Jede Seligsprechung verkündet eine Belohnung. Am Schluß werden jene, die die Gebote befolgen, >klug<, und jene, die es nicht tun, >töricht< genannt. Selbst in der Bergpredigt geht es also nicht um menschliche Gemeinschaft oder gar um das Wohl der Menschheit als einem Wert an sich, sondern um die eigene Besserstellung: Sei klug, vermeide die Hölle, sammle himmlische Schätze! "Wahrlich, ich sage euch, wenn ihr es einem dieser Geringsten nicht getan habt, habt ihr es auch mir nicht getan." – so weit einer der berühmtesten Sätze des Evangeliums. Weniger berühmt ist freilich der darauf folgende: "Und diese werden hingehen in die ewige Pein, die Gerechten aber in das ewige Leben."(33)

((34)) Die Liebe eines Christen macht sich also bestens bezahlt. Aber eine solch jenseitsorientierte Selbstsucht erweitert zwischenmenschliches Verstehen nicht, sondern untergräbt und zerstört es. Ist man überzeugt, daß die gute Handlung durch himmlische Schätze belohnt wird, während irdische Schätze durch Motten und Rost zerfressen werden, dann wird eine Sorge um diese Welt höchst überflüssig, ja ein Hindernis. Die Ethik Jesu ist insoweit eine Ethik egoistischer Klugheit, aber das heißt auch, daß das NT die Idee einer >guten Tat, die ihren Wert in sich trägt<, nicht kennt. Mag man für intellektuelle Leistungen durchaus Anerkennung erstreben, so büßt jede moralische Tat durch die Absicht, daraus einen subjektiven Vorteil zu ziehen, an Wert ein. Tugend verzichtet gerade auf billige Vorteile: "Ihr liebt eure Tugend, wie die Mutter ihr Kind; aber wann hörte man, daß eine Mutter bezahlt sein wollte für ihre Liebe?"(34)

B. Der Inhalt der Jesuanischen Gebote

((35)) Aber sehen wir einmal von der Motivierung ab, die Jesus zur Befolgung seiner Gebote vorbrachte. Sind nicht diese von besonderer Überzeugungskraft?

((36)) Aber schon das erste Gebot: Liebt Gott über alles! will nicht so recht einleuchten. Denn weshalb sollten wir den Gott Jesu über alles lieben, der beispielsweise bereit ist, unendliche Strafen für endliche Vergehen auszusprechen und der, wenn man an das Schicksal des Sohnes denkt, überdies physisches Leid tolerierte, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, obwohl Alternativen möglich gewesen wären: Der angeblich Allgütige hätte nämlich seinen Ebenbildern für die Vergehen der ersten Menschen einfach verzeihen können(35); und er hätte es wohl getan (und keine Kollektivschuld geübt), wenn er tatsächlich barmherzig gewesen wäre.(36) Aber das Drama um Jesus offenbart kein derartiges Wesen, weshalb der Betroffene an einer Stelle durchaus folgerichtig die Warnung aussprechen konnte, daß wir den Allmächtigen vor allem fürchten sollen: "Ich will euch zeigen, wen ihr fürchten sollt: den, der Leib und Seele in der Hölle verderben kann."(37)

((37)) Aber wie können wir denjenigen, den wir fürchten sollen (Gottesfurcht!), zugleich als gütig und barmherzig erleben? Und wie kann man lieben, was man fürchtet? Furcht ist eine der Liebe entgegengesetzte Empfindung. Ein Sohn, der seinen Vater fürchtet, den dessen Launen ängstigen, der also Grund hat, sich vor seinem Zorn zu hüten, wird ihn niemals aufrichtig lieben. Die Liebe eines Christen zu seinem Gott scheint somit nicht wahrhaftig, sondern heuchlerisch zu sein. Wenn der Gottesfürchtige glaubt, den Allmächtigen zu lieben, dann ist seine Liebe eine vorgetäuschte Huldigung ähnlich jener, die man unmenschlichen Despoten erweist, die von ihren Untertanen äußere Zeichen der Anhänglichkeit fordern (ein Wesen, das von anderen Zeichen der Anhänglichkeit und Untertanentreue fordert, ist im übrigen ein sehr unsicheres Wesen).

((38)) Das erste Gebot besäße dann allerdings eine gewisse Überzeugungskraft, wenn das zweite: Glaubt an mich! plausibel wäre. Nun ist es schwierig, jemanden für vertrauenswürdig zu halten, der so massiv an die Ängste der Menschen appellierte. Dies mag blasphemisch klingen, ist es jedoch nicht, denn selbst die meisten seiner Anhänger sind nicht bereit, sich auf Jesus zu verlassen. Denn nur wenige vertrauen darauf, daß es genüge zu bitten – und ihnen gegeben werde(38) – und daß Jesus es ernst meinte, als er forderte: "Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen, ... Dann komm und folge mir nach!"(39) Daß diese Forderung von den allermeisten offiziellen Vertretern der verschiedenen christlichen Kirchen kaum ernst genommen wird, ist offensichtlich, wenn man ihren Reichtum bedenkt.(40)

((39)) Auch hinsichtlich anderer Forderungen wäre es einmal interessant, die Vertrauenswürdigkeit, die Jesus bei Gläubigen genießt, auf die Probe zu stellen. Selbstverständlich verkündet der Klerus, die Bibel sei das Wort Gottes und feiert Jesus als den Erlöser der Menschheit. Nun hatte dieser gefordert: "Ihr habt gehört, daß da gesagt ist: Aug um Aug, Zahn um Zahn! Ich aber sage Euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen, sondern wenn dich jemand auf deine rechte Wange schlägt, dem biete auch die andere dar."(41)Ich zweifle sehr, ob beispielsweise die Konzilsväter von Trient (oder die Inquisitoren) Sätze wie diese in einem wortwörtlichen Sinn verstanden. Aber warum sollten derartige Gebote, deren Autor angeblich Gott ist, bloß in einem >übertragenen< Sinn verstanden werden? Schließlich sind sie völlig verständlich, zudem wäre es höchst unplausibel, wenn das Höchste Wesen keine deutlichen Grundsätze, sondern >Mysterien< geoffenbart haben sollte. Und schlußendlich: Wo endet diese Art der Interpretation? Ist etwa auch die Auferstehung Jesu in einem >übertragenen< Sinn zu verstehen? Oder gilt dies etwa für seine Gebote?

((40)) Mag man auch bedauern, daß die Geistlichkeit die Jesus-Worte von der rechten Backe nicht wirklich ernst nimmt, so ist es andererseits ein Glück, daß Christen auch das Folgende nicht ganz so ernst nehmen: "So jemand zu mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kinder, Brüder, Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein."(42) Und viele, die sich so große Sorge um das christliche Abendland machen und allerorts seine Bedrohung wittern, können offenbar nicht einmal genau lesen: "Seid nicht besorgt ..., was ihr essen, noch ... was ihr anziehen sollt ... Trachtet nicht danach, ..., und seid nicht in Unruhe; denn nach diesem allen trachten die Heiden; euer Vater aber weiß, daß ihr dies benötigt ... Sorget euch nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selber sorgen."(43) Wie verträgt sich diese manchen vielleicht gar nicht so unsympathische Hippie-Moral mit den vielen Sorgen, die Christen sich um das Morgen machen und damit, daß sie auch noch vor dem Kreuz desjenigen schwören, der vom Schwören nichts wissen wollte: "Es sei euer Jawort ein Ja, euer Nein ein Nein. Was darüber hinausgeht, ist vom Bösen"(44)? Es gibt also zahlreiche Hinweise, daß auch Christen, von Lippenbekenntnissen abgesehen, gar kein so großes Vertrauen in die Worte ihres Erlösers haben – und sich wie Heiden verhalten.

((41)) Soviel zum zweiten Gebot der Jesuanischen Ethik: Glaubt an mich! Aber, so könnten Gläubige immer noch entgegnen, die große Tugend der Feindesliebe mache die Jesuanische und christliche Ethik zur hervorragendsten. In der Tat ist neben der Gottesliebe und dem Glauben an die herausragende Rolle Jesu die Menschenliebe, gelegentlich bis zur ausdrücklichen Liebe zu Feinden gesteigert, die große Forderung des NT. Sie äußert sich am deutlichsten in der Kritik Jesu an der pharisäischen Einhaltung der Sabbat-Gesetze, die doch um der Menschen willen da sein sollen, in seinen tröstenden Reden und in seinem relativ unbefangenen Umgang mit den Außenseitern der Gesellschaft: mit Frauen, Prostituierten und Finanzbeamten.(45) Als einmal eine Ehebrecherin gesteinigt werden sollte, trat Jesus dazwischen und meinte: "Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein ... Ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr."(46)

((42)) Mir ist nicht bekannt, daß in der Geschichte der hl. Kirche eine Ehebrecherin jemals mit so milder Ermahnung davongekommen wäre. Bereits Augustinus soll Jesus in diesem Punkt ob seiner >übertriebenen Milde< getadelt haben. Mir ist auch nicht bekannt, daß der Jesuanische Hinweis: >Was ihr den Geringsten getan habt, habt ihr mir getan<, in der Geschichte der christlichen Kirchen auf ein besonders nachhaltiges Echo gestoßen wäre. Zwar werden die Gläubigen ermuntert, die kleinen Kreuze des täglichen Lebens zu tragen, aber oft ist dies nur deshalb vonnöten, weil die offiziellen Vertreter des Glaubens nur in einem >übertragenen< Sinn ihr Kreuz auf sich nehmen. Vom gepriesenen Nutzen der Armut hatten und haben die Kirchen vor allem den Nutzen.

((43)) Trotz der beeindruckenden Worte Jesu zur Ehebrecherin weckt jedoch auch sein vielgerühmtes Liebesgebot einige fundamentale Zweifel.

(a) Geringe Originalität

((44)) Seit der Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer im Jahre 1947 dürfte es als gesichert gelten, daß es keine spezielle Lehre gibt, deren alleiniger Urheber Jesus ist. Seine Ideen finden sich, zumindest in ähnlicher Form, bereits in der nicht-christlichen jüdischen Literatur; alter Wein wurde hier offenbar bloß in neue Schläuche gefüllt.

((45)) Die Texte, die man in Qumran fand, "enthalten Stellen, die inhaltlich, ja teilweise sogar wörtlich, mit Passagen übereinstimmen, die im NT zu lesen sind. Der Bezug zur Bergpredigt tritt deutlich hervor. Brüderlichkeit galt den Essenern als religiöse Pflicht, Nächstenliebe als moralisches Gebot. Zu schwören war ihnen untersagt; statt dessen sollten sie nur >ja, ja< oder >nein, nein< sagen. Armut, Demut und Askese waren ihre Ideale. Sie glaubten an die Unsterblichkeit der Seele."(47) Auch in anderer Hinsicht ist vieles nicht originell, was über das Leben Jesu behauptet wird: Es ist wohl kein Zufall, daß der ursprünglich persische Gott Mithras, der spätere Heiland und Sonnengott der Römer, nach dem der erste Tag der christlichen Woche noch immer Sonntag heißt, von einer Jungfrau in einer Krippe ausgerechnet am 25. Dezember geboren und von Hirten gehuldigt wurde – um nur einige der auffallendsten Parallelen zum evangelischen Christus zu erwähnen.(48)

((46)) Aber ist auch trotz auffallender Parallelen die Nähe Jesu zu den Essenern in der Gelehrtenwelt umstritten, so ist unbestreitbar, daß sich die berühmte Forderung nach Nächstenliebe bereits im AT findet. Das Christentum ist auch hier, entgegen landläufiger Meinung, nicht übertrieben originell, was ja auch von Jesus selbst bezeugt wird: "Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun, daß ich das ewige Leben erwerbe? Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Wie liesest du? Er antwortete und sprach: >Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte und deinen Nächsten wie dich selbst.< Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tue das, so wirst du leben."(49)

Während also das berühmte Gebot der Nächstenliebe bereits im AT zu finden ist, findet sich im NT auch das Gegenteil: "Dies redete Jesus und hob seine Augen auf zum Himmel ... Ich habe deinen Namen den Menschen offenbart ... [Einige] haben geglaubt, daß du mich gesandt hast. Ich bitte für sie; nicht für die Welt bitte ich, sondern für die, welche du mir gegeben hast ..."(50) Die berühmte Feindesliebe scheint also angesichts dieser Passage von ihrem angeblichen Erfinder mehr gefordert als in die Tat umgesetzt worden zu sein. Und diese widersprüchliche Haltung des Herrn teilte auch der Lieblingsapostel: "Jeder, der weitergeht und nicht in der Lehre des Christus bleibt, hat Gott nicht; wer in der Lehre bleibt, der hat sowohl den Vater als auch den Sohn. Wenn jemand zu euch kommt und diese Lehre nicht bringt, so nehmt ihn nicht ins Haus auf und grüßt ihn nicht. Denn wer ihn grüßt, nimmt teil an seinen bösen Werken."(51) Wenn das Nächstenliebe ist, dann ist jede Ausgrenzung Andersgläubiger ein Akt der Liebe. "So jemand den Herrn Christus nicht lieb hat, der sei verflucht", meint daher auch der hl. Paulus.(52) Es fügt sich nahtlos in dieses düstere Bild, daß das Gleichnis vom guten Samariter nur von Lukas berichtet wird, während die Drohung, daß es jenen, die Jesu Jüngern nicht glauben, einmal fürchterlich ergehen werde, in allen synoptischen Evangelien zu finden ist.(53)

(b) Die Schroffheit des biblischen Jesus

((47)) Der angeblich >größte Morallehrer aller Zeiten< war oft bar jeden Mitleids. Denn Jesus droht allen mit Verdammnis, die gegen den Heiligen Geist lästern(54), er erwartet, daß seine Botschaft dazu führen werde, daß "der Bruder den Bruder in den Tod liefern wird und der Vater das Kind [!]"(55), er rät uns, nicht zu glauben, daß er gekommen sei, "Frieden auf die Erde zu bringen", sondern "das Schwert" und "Entzweiung"; und "des Menschen Feinde werden seine Hausgenossen sein".(56)

((48)) Es besteht kein Zweifel, obwohl dies von liberaleren Theologen zumeist verdrängt wird, daß Jesus von der Existenz Satans überzeugt, ja davon geradezu besessen war: Er spricht von Satan als seinem Feind, er bezeichnet sich als derjenige, der gekommen sei, um diesen zu vernichten, er sieht ihn vom Himmel "wie einen Blitz" fallen.(57) Ein besonders drastisches Beispiel für die Schroffheit des Friedensfürstens und dessen Glauben an Dämonen findet sich im Johannes-Evangelium: "Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es eurem Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an."(58) Jesus spricht diese Bannformel über keine Massenmörder, sondern über Juden, "die an ihn glaubten" oder geglaubt hatten.(59)

((49)) Vor dem Hintergrund solcher Passagen ist es nicht verwunderlich, daß viele vom angeblichen Messias genug hatten und ihm den Rücken kehrten: "Daraufhin zogen sich viele Jünger zurück und wanderten nicht mehr mit ihm umher"(60), was wiederum im Meister eine der typischen Reaktionen verkannter Genies hervorrief: "Dann begann er den Städten, in denen er die meisten Wunder getan hatte, Vorwürfe zu machen, weil sie sich nicht bekehrt hatten: Weh dir, Chorazin! Weh dir, Betsaida! ... Und du, Kapernaum, meinst du etwa, du wirst bis zum Himmel erhoben? Nein, in die Unterwelt wirst du hinabgeworfen. Wenn in Sodom die Wunder geschehen wären, die bei dir geschehen sind, dann stünde es heute noch. Ja, das sage ich euch: Dem Gebiet von Sodom wird es am Tag des Gerichts nicht so schlimm ergehen wie dir."(61) An anderer Stelle droht Jesus, was besonders sinnig ist, gar den Schwangeren und Säugenden.(62)

((50)) Es gibt wohl nur wenige ethische Lehren, die von Drohungen gegenüber Andersdenkenden und von Verheißungen für Anhänger so voll sind: "Ich verordne euch ... ein Reich. Ihr sollt ... mit mir an meinem Tisch essen und trinken, und ihr sollt auf Thronen sitzen und die zwölf Stämme Israels richten."(63) Welcher eitle und ein wenig einfältige Mensch wäre nicht bereit, einige irdische Mühen auf sich zu nehmen, wenn solches ihn erwartete? Diese und ähnliche Passagen ("Wißt ihr nicht, daß die Heiligen die Welt richten werden? ... Wißt ihr nicht, daß wir Engel richten werden?"(64)) sind eine der Wurzeln christlicher Selbstgerechtigkeit, gelegentlich bis zum Größenwahn gesteigert. Und es gibt noch weitere Beispiele für die unverständliche Schroffheit Jesu:

– sein Verhalten gegenüber Familienangehörigen. Jesus sprach, soweit wir wissen, seine Mutter mit keinem respekt- oder gar liebevollen Wort an. Sie war für ihn die >Gebärende<, das Weib – eine Anrede, die für damalige Ohren vielleicht noch schockierender als für unsere geklungen hat. Nun mag Maria, als alternde Jungfrau, manchmal etwas pedantisch, gelegentlich möglicherweise sogar etwas zänkisch gewesen sein. Aber von einem so außergewöhnlichen Sohn hätte man mehr Verständnis für ihre gewiß nicht einfache Situation an der Seite von Josef und Jesus erwartet. Man wird jedoch enttäuscht: Aus dessen Umgang mit seiner Mutter spricht kaum Nächstenliebe, wohl ein altes Thema, nämlich der sich als religiöses Genie wähnende Sohn und seine, um die verschiedenen Unzulänglichkeiten wissende Familie: "Was habe ich mit dir zu schaffen, Weib."(65) In der Kirche Roms nimmt Maria einen ganz außergewöhnlichen Rang ein, aber auf Jesus können sich ihre Vertreter kaum berufen, da dieser für einen Mutterkult denkbar ungeeignet ist. Zudem dürfte Jesus nur eines der Kinder Mariens gewesen sein(66), aber zumindest Katholiken fällt es auch heute noch schwer zu glauben, daß die Mutter Gottes auch in anderer Weise als durch den Heiligen Geist geschwängert wurde.

– sein Verhalten gegenüber dem jüdischen Klerus. Fast immer hat Jesus die Ältesten, die Rabbiner, Schriftgelehrten und Pharisäer vor allem Volk herabgewürdigt, manchmal sogar verteufelt. Er diffamierte sie, die in Zeiten der Besatzung wahrscheinlich als einzige dem jüdischen Volk einen gewissen Rückhalt und eine gewisse Identität geben konnten, als Schlangenbrut und Natterngezücht. Daß Jesus sich nicht scheute, verschiedene Schattenseiten des Klerus aufzuzeigen, macht ihn durchaus sympathisch, aber ein solch verkommenes Pack können die damaligen Geistlichen schon deshalb nicht gewesen sein, weil sie den Jesuanischen Messiasanspruch und seine Drohbotschaft nur sehr bedingt ernst nahmen.

– sein Verhalten gegenüber Heiden. Auch von ihnen hatte Jesus keine sehr hohe Meinung. Ihm ging es auch nicht um deren Bekehrung, seine Liebe scheint deren Erlösung nicht eingeschlossen zu haben: "Gehet nicht auf der Heiden Straße und zieht nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel."(67) An einer Stelle meint Jesus gar, die Nichtjuden "plappern", wenn sie beten(68), und er dürfte sie gemeint haben, als er von "Hunden" und "Säuen" sprach: "Ihr sollt das Heiligtum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen."(69) Als stolzer Israelit ging er sogar so weit, dem Gebot der Nächstenliebe eine nationale Grenze zu setzen: Als eine Nichtjüdin von ihm Heilung für ihre kranke Tochter erfleht, hört sie aus seinem Munde diese bitteren Worte: "Füttern wir erst die Kinder; es ist nicht fein, den Kindern das Brot zu nehmen und es den Hunden vorzuwerfen."(70) Erst als sich die Frau erniedrigt und mit den Hunden vergleicht, die "von den Krumen der Kinder" essen, hatte Jesus Erbarmen.(71) Sie mußte sich also unwürdig-unterwürfig, eben hündisch, verhalten, damit der Menschensohn sich ihrer erbarmte.

((51)) Im Gegensatz dazu findet sich meines Wissens in den rabbinischen Texten der damaligen Zeit kein Verbot, Nicht-Juden zu helfen. Die von Jesus faktisch geübte Feindesliebe, die über die Nächstenliebe noch hinausgehen soll, war weit weniger beeindruckend als die Forderungen, die er an andere stellte. Auch Sünder (und wer ist bei dem sogleich zu Zitierenden kein Sünder?) scheint diese nicht einzuschließen: "Geht von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer ...! Denn mich hungerte, und ihr gabt mir nichts zu essen; mich dürstete, und ihr gabt mir nicht zu trinken; ich war Fremdling, und ihr nahmt mich nicht auf; ... Und diese werden hingehen in die ewige Pein, die Gerechten aber in das ewige Leben."(72) Wenn alles das schon ausreicht, um ins ewige Feuer zu gehen, dann werden es im Himmel wahrlich wenige sein. Dieser wird wahrscheinlich völlig unbewohnt sein, denn dem Schöpfer desselben und der Erde muß es ein leichtes sein, die Hungernden und Dürstenden – tagtäglich sterben etwa 40.000 Kinder den Hungertod – mit Speise und Trank zu versorgen.

(c) Die Ethik der Bergpredigt

((52)) Die Historizität der Bergpredigt, sofern man darunter eine tatsächlich von Jesus gehaltene, abgeschlossene Rede versteht, ist einigermaßen umstritten. Gegen ihre Historizität spricht schon die Kürze, denn hätte sie tatsächlich stattgefunden, so hätte sie – bei durchschnittlichem Redefluß – nur wenige Minuten gedauert; wieder einmal wären die Zuhörer, die möglicherweise von weither angereist kamen, eher verwirrt als erleuchtet gewesen. Wahrscheinlich wurde die Bergpredigt vom Evangelisten aus kursierenden Jesus-Worten zusammengestellt. Ausführlich wird sie nur von Matthäus berichtet, bei Lukas ist sie noch weiter gekürzt, bei Markus und Johannes fehlt sie überhaupt. Man sollte meinen, daß die Bergpredigt bei den Evangelisten größere Beachtung gefunden haben müßte, wenn sie für ein Verständnis der Person und der Botschaft Jesu wirklich so wichtig wäre (wie die allermeisten modernen Christen glauben). Aber nicht nur schweigen sich die einen über eine vermeintliche Predigt am Berg mit dem darin enthaltenen Gebot der Feindesliebe aus, sondern Markus hebt ausdrücklich nur die Nächstenliebe hervor. In einer Diskussion bekennen sich der markinische Jesus und ein Schriftgelehrter übereinstimmend zur Nächsten-, nicht aber zur Feindesliebe.(73)

((53)) Aber sind wir damit nicht doch zu jenem Punkt zurückgekehrt, der trotz allem die Jesuanische Ethik so außergewöhnlich und zur hervorragendsten macht, nämlich bei der Forderung nach Feindesliebe? Selbst dieses Gebot indessen kann, von Meinungsverschiedenheiten unter den Evangelisten einmal abgesehen, kaum überzeugen. Denn zum einen ist die Feindesliebe zu eng (nicht-menschliches Leben wird zumindest nicht explizit eingeschlossen), und zum anderen ist sie zu weit, da für die allermeisten schlichtweg unerreichbar: Wer kann denn schon die Feinde, die einen erniedrigt, entwürdigt, im Selbstwert verletzt haben, lieben? Derjenige, der von Menschen Unerreichbares fordert, erzeugt bloß Schuldgefühle und macht die Moral zu einem Phantasiegebilde anstatt zu etwas, dessen Befolgung die Menschen ernsthaft anstreben und voneinander verlangen können. An einem Kanon unerreichbarer Tugenden, etwa der Forderung, selbst die Feinde zu lieben, verzweifeln die meisten. Fordern allein genügt nun einmal nicht. Wäre unser Empfinden auf diese Weise nachhaltig beeinflußbar, so müßten alle Christen angesichts der Frohbotschaft kreuzfidele Wesen sein, was sie offenbar nicht sind.

((54)) Die Forderung: "Das gebiete ich euch, daß ihr einander liebt!"(74) ist noch aus einem anderen Grund unsinnig. Sie schafft nämlich einen emotionalen Einheitsbrei, in dem die verschiedenen Töne und Zwischentöne menschlicher Zuneigung untergehen. Denn eine so universelle Liebe ist gegenüber jenen, die uns wirklich wohlgesonnen sind, ungerecht. Daher ist es gar nicht wünschenswert, die Feinde zu lieben, was natürlich nicht bedeutet, daß man den Wunsch, sie zu vernichten, kultivieren sollte. Aber zwischen >lieben< und >vernichten< gibt es ein sehr breites, für Anhänger Jesu aber wohl eher laues Spektrum an Möglichkeiten. Viel sinnvoller als die Forderung, die Feinde zu lieben, ist die Forderung, sich einmal ehrlich zu fragen, ob in ihren Vorwürfen nicht doch ein Körnchen Wahrheit steckt. Leider hat der Mensch "eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas ... nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren"; hierher gehört, so Nietzsche, "die ganze Moral der Bergpredigt".(75)

((55)) Zudem wird bei den Jesuanischen Forderungen nicht bedacht, daß es verschiedener Voraussetzungen bedarf, damit Menschen überhaupt ein Mitgefühl mit anderen entwickeln können. Beim Nazarener finden sich außer >Bete und Bitte!< kaum Hinweise, wohl aber beispielsweise bei Arthur Schopenhauer, der in seiner Mitleidsethik etwa so argumentierte: Indem wir verstehen lernen, daß überall der gleiche Wille zum Leben herrscht, ist eine Basis geschaffen, den subjektiven Willen, dessen Interesse stets partikulär ist, zumindest gelegentlich zu verneinen. Durch Willensverneinung entsteht Mitleid, Menschenfreundlichkeit und Achtung gegenüber anderen Lebewesen. Nur vor dem Hintergrund solcher oder ähnlicher Überlegungen entsteht Respekt: Betrachte andere nicht nach Stand und Würde, denn dies weckt Gefühle des Neides, der Verachtung und des Hasses, sondern betrachte ihre Leiden, ihre Nöte, ihre Ängste, ihre Schmerzen! Dann wird man das eigene Wesen im fremden wiedererkennen, sich mit anderen verwandt fühlen, mit ihnen sympathisieren und Mitleid empfinden.

((56)) Das Wissen um diese Hilflosigkeit der Menschen, um die Tatsache, daß wir alle Mängelwesen sind, kann Mitgefühle in uns aufkommen lassen. Aber Jesus ist, zumindest in den uns noch verfügbaren Quellen, über Forderungen nicht weit hinausgekommen, zu denen er überdies in problematischer Weise Menschen motivierte und die er selbst nur eingeschränkt in die Tat umsetzte. Aber wenn man nicht bloß predigen, sondern sich über die menschliche Situation ernsthaft Gedanken machen will, dann muß man sich auch überlegen, welche Bedingungen notwendig sind, damit Menschen imstande werden, bestimmte Forderungen zu realisieren und was sie daran hindert, es zu tun.(76) Ohne derartige Überlegungen sind gerade schön klingende Gebote besonders unterdrückend, heuchlerisch und nichts anderes als subtile Formen der Erpressung. Es ist wohl kein Zufall, daß dem nun schon fast 2000 Jahre währenden Großversuch zur Vermehrung von Liebesgefühlen Millionen Unschuldige zum Opfer gefallen sind.

((57)) Menschen, die nicht aus Einsicht, sondern aus Pflicht mitfühlend und nächstenliebend sind, sind bloße Diener. Manchmal sind sie einfach farblos, häufig sind sie jedoch schlimme Tyrannen. Viele Missionare, sofern sie ihre alleinseligmachende Wahrheit verkünden, sind Menschen, die vor anderen (Kulturen) wenig Respekt haben; sie sind in Wirklichkeit ziemliche Despoten, denen kaum beizukommen ist, da die Institutionen, denen sie angehören, sie vor der unwissenden oder sich dumm stellenden Welt schützen. Aber viel eher denn im Wunsch, anderen eine Religion aufzubürden, äußert sich Nächstenliebe in der Bereitschaft, mit ihnen ernsthaft zu kommunizieren. Wer zu solch vertrautem Umgang nicht fähig oder bereit ist, sollte sich keinesfalls als >Entwicklungshelfer< betätigen. Viel wichtiger, als einander zu belehren oder zu dienen, ist es, einander verstehen und gefallen zu wollen.

(d) Keine wirkliche Soziallehre

((58)) In vielen sogenannten linkskatholischen und links orientierten protestantischen Kreisen gilt Jesus als Sozialreformer, manchmal sogar als Sozialrevolutionär. Tatsächlich wird im NT das Streben nach irdischen Gütern kritisiert und der Reichtum verdammt. Die berühmteste Stelle lautet so: "Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme."(77) Dennoch war Jesus kein Verfechter eines sozialen Gleichheitsgrundsatzes, da ihm nicht die gerechte irdische Gesellschaft, sondern das jenseitige Heil der Menschen am Herzen lag. Dies läßt sich an zwei Punkten weiter verdeutlichen:

– Das Verhalten Jesu gegenüber den Reichen war keineswegs eindeutig. Derselbe Jesus, der vom reichen Jüngling forderte, daß er alles verkaufe, verlangt dies vom korrupten Oberzöllner Zachäus, bei dem eine solche Forderung vielleicht angebrachter gewesen wäre, keineswegs.(78) Derselbe Jesus, der seine Jünger ermahnte, ihren Besitz den Armen zu geben, ließ sich selbst mit kostbarstem Nardenöl salben, und als Judas einwarf, daß es besser wäre, das Geld den Armen zu geben, erfährt er von höchster Stelle eine schlimme Abfuhr: "Die Armen habt ihr allezeit bei euch, mich aber habt ihr nicht allezeit."(79) Das könnten alle Reiche freilich allezeit sagen.

– Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg läßt sich auch als Desinteresse Jesu an sozialer Gerechtigkeit interpretieren. Denn der Besitzer entlohnt alle gleich, obwohl die einen schon seit dem frühen Morgen geschuftet haben und die anderen erst nachmittags zur Arbeit erschienen sind.(80) In einem anderen Gleichnis redet Jesus wie ein zynischer Kapitalist: "Ich ernte, wo ich nicht gesät, und sammle, wo ich nicht ausgestreut habe."(81) Und endgültig unerträglich ist dies: "Jesus sprach zu den Dabeistehenden: Nehmt das Pfund von ihm und gebt es dem, der die zehn Pfunde hat. Und sie sprachen zu ihm: Herr, er hat ja schon zehn Pfunde! Ich sage Euch aber: Wer da hat, dem wird gegeben werden; von dem aber, der nicht hat, wird auch genommen werden, was er hat. Doch jene meine Feinde, die nicht wollten, daß ich über sie König würde, bringt her und erschlaget sie vor mir."(82) Wie sollte aus derartigem Seelenmüll eine brauchbare Soziallehre herleitbar sein?

((59)) Viele Jesus-Worte sind nur vor dem Hintergrund seiner Naherwartung des Gottesreiches zu verstehen. Wenn man überzeugt ist, daß das Ende der Welt naht, dann ist es durchaus konsequent, sich um die Dinge dieser Welt nicht zu kümmern bzw. sich dafür keine klaren Richtlinien auszudenken. So ist auch das Folgende keine Offenbarung göttlicher Weisheit: Wenn es auf dasselbe hinausläuft, ob man die Ehe bricht oder eine Frau begehrlich ansieht, dann wird ein Fundament der Sittlichkeit geleugnet, nämlich der entscheidende Unterschied zwischen Impuls und Tat. Wer das Unglück hat, das Verlangen zu einer bösen Tat zu verspüren, hat nun keinen Grund mehr, sie nicht auszuführen, besteht doch laut Jesus zwischen Impuls und Tat ohnedies kein Unterschied. Religiosität zerstört hier Moralität. Es ist, gerade auch in konservativen Kreisen, Mode geworden, zur Bergpredigt ein Lippenbekenntnis abzulegen und zugleich in jenen Riesenindustrien zu arbeiten (oder ihr Kunde zu sein), die systematisch bemüht sind, die Häufigkeit begehrlicher Blicke zu steigern. Es fällt nicht leicht, diese Heuchelei zu überbieten.

((60)) Ein soziales Reformprogramm läßt sich, entgegen landläufiger Meinung, aus den Jesuanischen Predigten kaum ableiten. Wohl zu idyllisch, wenn nicht ausgesprochen unverantwortlich wäre der Traum, daß bei genügend Gottvertrauen die Probleme von alsbald sechs Milliarden Menschen sich von selbst lösten und Gott für alle Bedürfnisse schon sorgen würde – so, wie er es angeblich >für die Blumen auf dem Felde und für die Vögel unter dem Himmel tut< (allzu groß ist im übrigen auch diese Sorge nicht, wenn man bedenkt, daß alle zehn Minuten eine Pflanzen- oder Tierart ausstirbt).

((61)) Selbstverständlich gab es auch vor zweitausend Jahren genug der Dinge, die die Aufmerksamkeit und die Sorge Jesu verdient hätten: die Situation der Sklaven, der Mühseligen und Beladenen, diese schlimmste Form der Ausbeutung. Aber anstatt Sklaven zu ermuntern, sich in dieser Welt für ihre Interessen einzusetzen und gegen ihre Peiniger aufzustehen, wird ihnen zugerufen, sich mit ihrem irdischen Los abzufinden; sie werden in ihrem elenden Dasein selig gesprochen. Aber die Abschaffung der Sklaverei wäre wohl der erste Schritt zur Einleitung eines sozialen Programms. Ist man hingegen überzeugt, daß das Ende naht, so gibt es keine guten Gründe, Energien zu verschwenden, um die ohnedies zum Untergang bestimmte irdische Welt zu verbessern. Viel vernünftiger ist dann die Forderung: Habt euer künftiges Seelenheil im Auge und "gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist"(83). Aber ein Spruch wie dieser bedeutete zur damaligen Zeit nichts anderes als die Rechtfertigung einer Sklavenhaltergesellschaft. Selbst Kaiser Augustus, der vielerorts Glorifizierte, soll einen Sklaven kreuzigen haben lassen, weil dieser seine Lieblingswachtel getötet und gegessen hatte.

((62)) Zwar wird menschliche Freiheit als ein überragendes Gut behauptet, sobald es darum geht, den lieben Gott im Himmel zu entlasten, aber ansonsten ist menschliche Freiheit kein allzu großes Gut; viel häufiger geht es um Unterordnung unter die eine übergeordnete Autorität und ihre Vertreter auf Erden. Mit dem Hinweis, daß das Christentum den Sklaven ohnedies religiöse Gleichstellung gebracht habe, wurde im christlichen Zeitalter der Menschheit die Sklaverei nicht beseitigt. Ein Beispiel möge für viele stehen: "Selbst der berühmte hl. Martin von Tours, Schutzpatron Frankreichs und Patron der Gänsezucht, der noch als Soldat, wer wüßte es nicht, einem nackten Bettler ... seinen halben Mantel schenkte (warum nicht den ganzen?), hat als Bischof ... dann 20.000 Sklaven gehalten – wer wüßte es!"(84) Die Sklaven und die Armen teilen mit den Reichen vielleicht den künftigen Himmel, keineswegs aber die Erde. In ihren besten Zeiten gab die Kirche vor (Nächstenliebe!), alles mit Bettlern zu teilen, und hat fast alle zu Bettlern gemacht. Als Ausgleich für irdische Entbehrungen durfte dann die Herde am Gottesdienst teilnehmen, Gebäude und Gewänder des Klerus bewundern, geistliche Lieder singen und kostenlos das Abendmahl einnehmen!

((63)) Die Tatsache, daß die Gesellschaft in Herren und Sklaven eingeteilt ist, hat Jesus offenbar nicht als besonders anstößig empfunden. Im folgenden Gleichnis wird das Verhältnis von Herr und Sklave sogar ausdrücklich als Vorbild für das Verhältnis des Menschen zu Gott dargestellt: "Wenn einer von euch einen Sklaven hat, der pflügt oder das Vieh hütet, wird er etwa zu ihm, wenn er vom Feld kommt, sagen: >Nimm gleich Platz zum Essen?< Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: >Mach mir etwas zu essen, gürte dich und bediene mich; wenn ich gegessen und getrunken habe, kannst auch du essen und trinken.< Bedankt er sich etwa bei dem Sklaven, weil er getan hat, was ihm befohlen wurde? So soll es auch bei euch sein: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: >Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan<."(85) Eingedenk solcher Herrenworte überrascht es nicht, daß Christenmenschen sich oft wie Sklaven aufführen und, als Ausgleich für diese Verletzung ihres Selbstwertgefühls, dann Rache üben, wenn sie die Macht dazu haben.

((64)) In diesem Gleichnis Jesu, und noch ausgeprägter in den Briefen des Paulus, wird die Beziehung des Sklaven zu seinem Herrn als Modell für die Beziehung des Menschen zu Gott verwendet.(86) Die Leiden der Sklaven werden salbungsvoll ins Geistige erhöht, sie werden selig gesprochen, aber der Skandal, daß es auf Erden Sklavenhalter gibt, wird vergessen. Weder Jesus noch Paulus noch die urchristliche Kirche noch das mittelalterliche Christentum noch Luther haben das Recht aller auf ein die humanen Bedürfnisse respektierendes Leben anerkannt; an deren Elend und den Menschenrechten vorbei schwindelten sie sich zum Gottesdienst. Man braucht an dieser Stelle vielleicht nur an den Ausspruch Jesu zu erinnern, daß es besser sei, >als Krüppel< zu leben und in den Himmel einzugehen, "als daß du zwei Hände habest und fahrest in die Hölle, in das ewige Feuer".(87)

((65)) Angesichts solcher Passagen ist das Bild, das sich heute große Teile der Öffentlichkeit vom Helden des Christentums machen, geradezu grotesk. Dieses ist weitgehend von zwei Aussprüchen bestimmt: >Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein< und: >Vater vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.<(88) Aber beide Aussprüche fehlen in den ältesten und wichtigsten Handschriften! Weil Jesus an einer gerechten diesseitigen Gesellschaft nicht interessiert war, mußten die allermeisten Errungenschaften einer zivilisierteren, demokratischen Gesellschaft gegen die christliche Hierarchie durchgesetzt werden. Jesus und die Evangelien sind, um diesen Punkt zusammenzufassen, "an der sozialen Ungerechtigkeit an sich nicht interessiert: sie stellen den Himmel und das ewige Feuer in den Mittelpunkt."(89)

(e) Keine wirkliche Liebesbotschaft

((66)) Bemerkenswerterweise wird >Liebe<, obwohl angeblich so zentral für die Lehre Jesu, in den Evangelien kaum näher bestimmt (wie ja auch die psychischen Voraussetzungen für Nächsten- bzw. Feindesliebe nicht näher erläutert werden). Aber >Liebe< ist der Name für eine sehr komplexe, erklärungsbedürftige Empfindung, die Dinge einschließt wie Erinnerungen, Assoziationen, Phantasien, sympathetische Anteilnahme, die Freude am Anderssein, die Aufgabe von Besitzansprüchen und von Konventionen in der Freiheit der Intimität. Und es gibt nicht nur diese Form der Liebe. Es gibt die Liebe der Eltern zu ihrem behinderten Kind, der Großeltern zu ihren Enkeln, der Vertriebenen zu dem Land, in dem sie geboren wurden, der Künstler zu ihrem Werk, der Menschen zu sich selbst, der Nonnen zu Christus, der Philosophen zur Wahrheit.

((67)) Alle diese Dinge bedürfen in einer Liebesethik der Klärung, aber Jesus gab nur einen einzigen deutlicheren Hinweis: "Das ist mein Gebot, daß ihr einander liebet, wie ich euch geliebt habe. Eine größere Liebe hat niemand als die, daß er sein Leben hingibt für seine Freunde. Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage."(90)

((68)) Zum einen überrascht (oder vielleicht überrascht es inzwischen nicht mehr), daß nur diejenigen Freunde Jesu sind, die gehorchen; und dann überrascht, daß derjenige am meisten lieben soll, der sein Leben für seine Freunde hingibt. Ist nicht die Liebe desjenigen viel größer, der auch für jene stirbt, die nicht bloß das tun, was er von ihnen verlangt hatte? Zudem zerstört ein Mensch, der bereit ist, sich stets für seine Freunde aufzuopfern, das Glück und die Seelenruhe der meisten, ausgenommen vielleicht sein eigenes, im Grunde recht erbärmliches Glück. Liebe ist mehr als Selbstaufopferung, die im übrigen von allen Machthabern zur Verfolgung ihrer inhumanen Ziele gefordert wird. Liebe ist zumindest die Bereitschaft zu vertrautem Umgang mit anderen. Im 1. Korintherbrief, Kapitel 13, werden einige wichtige Dinge angesprochen, aber es ist wohl nicht Liebe, wenn man sich mit der Absicht erniedrigt, um schließlich erhöht zu werden.(91) Alles in allem wirkt die >Liebesethik< des NT so, als forderten hier Menschen von anderen Liebesgefühle, obwohl sie von der menschlichen Psyche kaum etwas verstehen.

C. Schlußbemerkung

((69)) Ich habe zu zeigen versucht, daß sich trotz der offensichtlichen Unsystematik der evangelischen Berichte eine Jesuanische Ethik herausdestillieren läßt. Geht man von den drei wesentlichen Bestimmungsstücken einer Ethik aus: die Aufstellung von Geboten bzw. Forderungen, die Begründung derselben sowie die Motivierung zu einem rechtmäßigen Verhalten, so finden sich im Evangelium vor allem Forderungen und Motivierungen. Eine Begründung der Gebote wird bestenfalls angedeutet, aber es gibt keine ernsthaften Zweifel, worin diese bestehen müßte. Den späteren christlichen Ethikern kommt das Verdienst zu, diesen Punkt näher ausgeführt zu haben.

((70)) Auf diese Begründungsversuche konnte allein aus Platzgründen nicht eingegangen werden. Die Annahme der Existenz Gottes wurde ebenso zu begründen versucht wie die Annahme seiner Güte (scheint es doch nur gut zu sein, die Gebote eines Wesens ohne weitere Begründung zu befolgen, das selbst gut ist). Da die Rechtfertigung jeder christlichen Ethik auf solchen metaphysischen Annahmen basiert, jedoch weder die Existenz Gottes bewiesen werden kann noch eine Theodizee gelingt noch das Vorhandensein einer unsterblichen Seele in begründeter Weise zu zeigen ist, fehlt jeder christlichen Ethik das Fundament; sie ruht meines Erachtens(92) auf tönernen Füßen.

((71)) Auch auf einige spezielle Forderungen, namentlich die christliche Sexualmoral, bin ich nicht näher eingegangen. Es wäre leicht, hier Kritik zu üben, gibt es doch eine reiche Tradition derselben – es sei nur an Friedrich Nietzsches Ablehnung der christlichen Leibfeindlichkeit erinnert. Die Sexualmoral ist jener Teil der christlichen Ethik, der in der Öffentlichkeit am meisten Widerspruch erfährt (zum Teil mit dem plausiblen Argument, daß sich viele Forderungen auf keine Jesus-Worte zurückführen lassen). Inmitten einer bedrohlichen Bevölkerungsexplosion sind einige Forderungen der katholischen Kirche in der Tat – gelinde gesagt – etwas unverantwortlich. Doch auch hier rennt man, zumindest in weiten Teilen Europas, mit einer Kritik nur offene Türen ein, gehören doch zu den schärfsten Kritikern der christlichen Sexualmoral viele der treuesten Anhänger christlichen Gedankenguts. Und wenn Papst Johannes Paul II. wieder einmal über sein Lieblingsthema predigt, ziehen es selbst viele Mitglieder seiner Kirche vor, betreten zu schweigen.

Anmerkungen:

(*) Ich möchte mich bei Georg Andree, Bernd A. Bayerl und Josef Buchegger für einige wertvolle Hinweise bedanken.

(1) Jesus gründete also, wie dies für theozentrische Moralphilosophien charakteristisch ist, seine Ethik auf Metaphysik – unterläßt es allerdings, diesen Punkt näher auszuführen. Im theozentrischen Weltbild Jesu (und in dem vieler seiner Anhänger) wird eine göttliche Autorität schlichtweg vorausgesetzt; nicht ihre Existenz gilt es zu beweisen, sondern SEINEN Willen gilt es zu verstehen.
(2) Buggle (1992, S. 23). Dieses Buch enthält eine systematische Auflistung vieler problematischer biblischer Stellen.
(3) Jh 6.60.
(4) Mk 4.10f. (m.H.).
(5) Kaufmann (1965, S. 297).
(6) 15 Apg 2.6.
(7) 1 Tim 1.2,20; 2 Petr 2.12.
(8) Mt 8.12.
(9) Mt 16.28 (m.H.); 26.64; Dan 7.13f.; Lk 23.42; Jh 1.50f.; Lk 9.27: "Ich sage euch aber in Wahrheit [!]: Es sind einige unter denen, die hier stehen, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie das Reich Gottes gesehen haben"; Mk 9.1; Mt 24.34: "Und er sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Es sind einige von denen, die hier stehen, die den Tod nicht schmecken werden, bis sie das Reich Gottes in Kraft haben kommen sehen ... Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschehen ist."
(10) Zu den unheilvollen Auswirkungen der chaotischen christlichen Moral vgl. den kurzen Abriß in Streminger (1992, S. 247-63).
(11) Mt 27.45,51f. Also nicht nur der Gekreuzigte, sondern auch andere Tote sollen damals auferstanden sein.
(12) Mk 16.9ff. (m.H.).
(13) 1 Thess 4.15,17.
(14) 2 Thess 3.10.
(15) 2 Petr 3.4. Im zweiten Clemensbrief wird der Unglaube mit der Parusieverzögerung in direkten Zusammenhang gebracht. Um das Christentum aus diesen Zweifeln zu retten, so meinen manche Gelehrte, verfaßten Anhänger Christi das >spirituelle< Johannes-Evangelium.
(16) 1 Kor 7.29f.
(17) 2 Kor 5.17.
(18) Jh 18.36.
(19) Die Vorstellung der Auferstehung wird erst im Kampfe der Makkabäer gegen die Seleukiden entwickelt.
(20) Mk 12.26f.; Mt 12.40. An einer Stelle scheint Jesus andere Schriftgelehrte sogar auf den Unterschied zwischen prophetischer und apokalyptischer Messiaslehre aufmerksam zu machen (Mk 12.35f.).
(21) Kaufmann (1965, S. 158).
(22) Deschner/Herrmann (1991, S. 138).
(23) Schweitzer (1951, S. 22).
(24) Im folgenden ist natürlich immer der biblische Jesus gemeint, auch wenn dies oft nicht explizit gekennzeichnet wird.
(25) Im neuen katholischen Katechismus feiern Höllen- und Teufelsvorstellungen bedrohliche Urstände.
(26) Jahwe an Moses, Dtn 13.1 (m.H.).
(27) Mk 3.29; 9.43-48; Mt 3.12; 5.22; 5.29f; 7.19; 8.12; 13.40ff; 13.50; 16.18; 18.8; 22.13; 23.33; 24.21; 25.30; 25.41: "Dann wird er auch zu denen zur Linken sagen: Geht von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer ..."; 25.46: "Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber das ewige Leben"; Lk 3.17; 12.5; 13.27f.; vgl. 2 Thess 1.6ff.
(28) Bergpredigt: Mt 5.1-7.29. Höllendrohungen: Mt 5.22f.; 5.29f. "Allein 38 Stellen, sämtlich im NT, führt der Index der von der württembergischen Bibelanstalt Stuttgart 1952 herausgegebenen Lutherbibel unter dem Stichwort >ewige Verdammnis< an." (Buggle 1992, S. 103).
(29) Jh 15.6.
(30) Vgl. Holbach (1970, S. 78).
(31) Die Sadduzäer hielten sich nur an die fünf Bücher Mose, also konnten sie keine ewige Hölle als >gottgewollt< akzeptieren.
(32) Lk 10.20.
(33) Mt 25.45f; Jak 2.13; Dan 12.2; Jh 5.29; Röm 2.7f.
(34) Nietzsche (Zarathustra, S. 121).
(35) Durch diesen Opfertod, in dem der Schöpfer Himmels und der Erde sich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen ließ, ist ER mit seinen Ebenbildern versöhnt – und die Menschheit erlöst: Ein gütiger Gott, der einen unschuldigen Gott sterben läßt, um einen gerechten Gott zu beschwichtigen! Wer mag das verstehen?
(36) Meines Wissens tut Allah im Koran genau dies. Im Islam gibt es keine Ursünde und daher auch keine Notwendigkeit für eine Erlösung durch einen Gottessohn. >Gottessöhne< waren in der antiken Welt im übrigen zahlreich. Allein Zeus hatte – allerdings auf menschliche, nicht göttliche Art – mit Menschenfrauen eine ganze Schar von Kindern gezeugt, zum Beispiel Herakles.
(37) Mt 10.28. Wenn wir uns vor Gott fürchten, so werden wir auch vor seinen Priestern zittern, denen die Macht gegeben wurde, >zu binden und zu lösen<.
(38) "Macht euch keine Sorge und saget nicht: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns bekleiden? ... Bittet, und es wird euch gegeben werden." (Mt 6.31; 7.7).
(39) Lk 18.22.
(40) Vgl. Herrmann 1993.
(41) Mt 5.38f.
(42) Lk 14.26. Anders ausgedrückt: Man muß alles, was einem lieb ist, hassen. Warum spricht man trotz dieser Passage von einer Froh-, gar Liebesbotschaft?
(43) Lk 12.22,29f.; Mt 6.34.
(44) Mt 5.37. Manchmal wird >vom Bösen< mit >vom Teufel< übersetzt.
(45) Vgl. allerdings Mynarek 1996.
(46) Jh 8.7,11.
(47) Fricke (1988, S. 61). In manchen Interpretationen der Gedankenwelt der Essener wird allerdings nicht ihre Friedfertigkeit, sondern ihre Aggressivität betont. Wie sogleich gezeigt wird, wäre dies kein hinreichender Grund, an der geistigen Nähe Jesu zu den Essenern zu zweifeln.
(48) Eine andere Quelle, die Christen verwendet haben dürften, um sich mittels Bekanntem Gehör zu verschaffen, ist diese: "Der babylonische Marduk ..., als guter Hirte gepriesen, wird gefangengenommen, verhört, gegeißelt, zusammen mit einem Verbrecher hingerichtet, während ein anderer freikam." (Deschner/Herrmann 1991, S. 36; vgl. S. 139) Interessant ist auch der mit großem Eifer als Zeitgenosse Jesu durchs Land ziehende Appolonios von Tyana.
(49) Lk 10.25ff. Man vergleiche das christliche Gebot der Nächstenliebe, das in der Realität zumeist nur die persönlichen Feinde, nicht aber die angeblichen Feinde Gottes einschloß, mit 3 Mose 19.18 ("Du sollst dich nicht rächen und den Kindern deines Volkes nichts nachtragen und sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.") sowie 2 Mose 23.4f. und Sprüche Salomos 25.21.
(50) Jh 17.1ff. (m.H.).
(51) 2 Jh 10f.
(52) 1 Kor 16.22.
(53) Mt 10.14f.; 11.24; Mk 6.11; Lk 10.10ff.
(54) Mk 3.29.
(55) Mt 10.21. Der Vater wird das Kind in den Tod liefern ...!
(56) Mt 10.34,36 (m.H.). Des Menschen Feinde ...! Während den Christen geboten wird, Andersdenkende nicht einmal zu grüßen, vergnügt sich Christus mit des Menschen Feinde! Wenn man meint, >alle diese Jesus-Worte seien doch nicht wörtlich zu nehmen<, stellt sich, wie bereits erwähnt, zumindest die Frage, weshalb man andere Passagen, in denen beispielsweise von seiner Auferstehung erzählt wird, wortwörtlich nehmen sollte. Allegorische Auslegungen sind ziemlich albern, zumindest hoffnungslos subjektiv, da Exegeten das Wort so lange drehen, bis es endlich das hergibt, was man gegenwärtig will, daß es soll. Das Kriterium für Interpretationen in einem >übertragenen Sinn< ist der Zeitgeist. Die christliche Botschaft ist dann aber kein >Salz der Erde<, sondern eine Reaktion auf bereits vorhandene Moralvorstellungen.
(57) Lk 10.17.
(58) Jh 8.44.
(59) Jh 8.31 (m.H.). Diese Passage dürfte am deutlichsten den christlichen Antisemitismus (besser: Antijudaismus) ausdrücken. In den folgenden Jahrhunderten haben es die Juden zu spüren bekommen, daß der angebliche Gott ihren Vorstellungen nicht entsprach: die teuflischen Juden, die Gottesmörder. Vgl. Buggle: "Nach Kasper und Lehmann ... findet sich der Ausdruck >Teufel< im NT 34mal, im gesamten, etwa drei- bis viermal so umfangreichen AT nur einmal, >Satan< im NT 36mal (nach Haag sogar 80mal), im AT 18mal ; >Dämon< im NT 64mal, 30mal ist dort von bösen und unreinen Geistern die Rede." (1992, S. 166).
(60) Jh 6.66.
(61) Mt 11.20ff.
(62) Mk 13.17.
(63) Lk 22.29f.
(64) 1 Kor 6.2.
(65) Jh 2.3f.
(66) Vgl. Mk 6.3.
(67) Mt 10.5f. Jesus selbst ging allerdings in der Heiden Städte, beispielsweise ins hellenistische Gadara, wo er leider nicht Philosophie lernte, sondern Schweine in den Abgrund stürzte.
(68) Mt 6.7.
(69) Mt 7.6.
(70) Mk 7.27.
(71) Mk 7.28.
(72) Mt 25.41ff.
(73) Mk 12.31.
(74) Jh 15.17 (m.H.).
(75) Nietzsche (Menschliches, Allzumenschliches, S. 131).
(76) Der Allmächtige verfügte ja über alle Möglichkeiten, solche Bedingungen zu schaffen.
(77) Mt 19.24. Statt >ein Nadelöhr< ist wohl >das Nadelöhr< und damit ein besonders enges Stadttor Jerusalems gemeint – so jedenfalls die für Wohlhabende wohlwollende Interpretation.
(78) Lk 19.8f.
(79) Jh 12.8.
(80) Mt 20.1ff. Üblicherweise wird dieses Gleichnis so interpretiert, daß Jesus sagen wollte, daß diejenigen, die erst spät den Glauben, daß er der Messias war, für richtig halten, so behandelt werden wie jene, die dies von früher Kindheit an tun. Aber wenn Jesus dies sagen wollte, warum hat er es nicht getan? Wer oder was hinderte ihn daran, das zu sagen, was er sagen wollte? Und weshalb sollte eine der wenigen Passagen, die Soziales wenigstens zum Gegenstand haben, so massiv umgedeutet werden?
(81) Mt 25.26.
(82) Lk 19.24ff. Selbst in einer allegorischen Auslegung sind wohl keine Umstände denkbar, die ein solches Verhalten rechtfertigten.
(38) Mt 22.21; Mk 12.17; Lk 20.25.
(84) Deschner (1990, S. 524).
(85) Lk 17.7ff. (m.H.). Wer solche Zustände als >himmlisch< erlebt, ist eine Gefahr für die Demokratie.
(86) Lk 12.42f.; Eph 6.5; 1 Kor 7.20f.; 1 Petr 2.18f.; Eph 5.22f.
(87) Mk 9.43.
(88) Jh 8.7; Lk 23.34.
(89) Kaufmann (1965, S. 220).
(90) Jh 15.13f.
(91) Lk 14.7ff.
(92) Siehe Streminger 1992.

Literatur:

Ich zitiere zumeist aus der revidierten Elberfelder Bibel (Brockhaus Verlag Wuppertal 1986).

BUGGLE, F.: Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Reinbek 1992.

DAHL, E. (Hrsg.): Die Lehre des Unheils. Fundamentalkritik am Christentum. Hamburg 1993.

DESCHNER, K.: Kriminalgeschichte des Christentums. Band III: Die alte Kirche. Reinbek 1990.

DESCHNER, K./HERRMANN, H.: Der Anti-Katechismus. 200 Gründe gegen die Kirchen und für die Welt. Hamburg 1991.

FRICKE, W.: Standrechtlich gekreuzigt. Person und Prozeß des Jesus aus Galiläa [1986]. Reinbek 1988.

HERRMANN, H.: Die Caritas-Legende. Hamburg 1993.

HOLBACH, P.T.: Religionskritische Schriften (Das entschleierte Christentum, Taschentheologie, Briefe an Eugénie). Berlin/Weimar 1970.

KAUFMANN, W.: Der Glaube eines Ketzers [1959]. München 1965.

MYNAREK, H.: Jesus und die Frauen. Das Liebesleben des Nazareners. Frankfurt 1996.

NIETZSCHE, F.: Menschliches, Allzumenschliches, in: Sämtliche Werke. Band II. München 1988.

–: Also sprach Zarathustra, in: Sämtliche Werke. Band IV, München 1988.

SCHMIDT-LEUKEL, P.: Berechtigte Hoffnung. Über die Möglichkeit, vernünftig und zugleich Christ zu sein. Paderborn 1995.

SCHWEITZER, A.: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung [1906]. Tübingen 1951.

STREMINGER, G.: Gottes Güte und die Übel der Welt. Tübingen 1992.

 

Diese Darstellung wurde zuerst als Hauptartikel veröffentlicht und diskutiert in "Ethik und Sozialwissenschaften", Streitforum für Erwägungskultur (EuS 8/1997) Die Redaktion dankt Verlag und Herausgeber für die Genehmigung zum Abdruck.