Prof. Dr. Gerhard Streminger

Schopenhauers Kritik am Christentum
in Parerga und Paralipomena

aus: Aufklärung und Kritik 2/1994 (S. 3-15)
Die Seitenanzahlen des Originalartikels stehen im laufenden Text in Klammern


Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche sind die beiden wichtigsten deutschsprachigen Vertreter der sogenannten Populärphilosophie; ihr Einflug reichte (und reicht) weit über den engen Bereich der Universitäten und Hochschulen hinaus. Interessanterweise waren beide, trotz aller Unterschiede ihres philosophischen Ansatzes, glänzende Literaten, vehemente Gegner der »Professorenphilosophie« sowie heftige Kritiker des Christentums. Bei näherer Untersuchung zeigt sich dabei, daß ihr Verhältnis zur christlichen Lehre durchaus vielschichtig und komplex war. Wie im folgenden gezeigt werden soll, gilt dies auch für das Spätwerk Schopenhauers: In den Parerga und Paralipomena, wovon die berühmten Aphorismen zur Lebensweisheit ein kleinerer Teil sind, lehnte Schopenhauer den Glauben an einen persönlichen Schöpfergott zwar strikte ab, hob allerdings zugleich das Positive am »echten« Christentum hervor; dieses sah er in Augustinus und Luther in vorbildlicher Weise verkörpert

1. Die Lehre vom Leid der Welt

Im Gegensatz zur Religion der Griechen und Römer, jenem "Machwerk der Dichter aus Volksmährchen1, und in Opposition zum optimistischen Judentum, lehrt das Christentum – so Schopenhauer – das Elend unseres Daseins: Dem »echten Christen« sei die Welt "ein Jammerthal"2. Schopenhauer war überzeugt, daß diese Lehre vom Leid der Welt mit seiner eigenen Analyse der menschlichen Situation gänzlich übereinstimme. Der eigenen Analyse zufolge gleichen wir Lämmern, die "auf der Wiese spielen, während der Metzger schon eines und das andere von ihnen mit den Augen auswählt: denn wir wissen nicht, in unsern guten Tagen, welches Unheil eben jetzt das Schicksal uns bereitet, – Krankheit, Verfolgung, Verarmung, Verstümmelung, Erblindung, Wahnsinn, Tod u.s.w.3. Außerdem sei "aller Genuß und alles Glück negativer, hingegen der Schmerz positiver Natur.4 Mit dieser »negativen Privationslehre« will Schopenhauer ausdrücken, daß Menschen die Nicht-Erfüllung ihrer Wünsche ungleich lebhafter als die Erfüllung ihrer Wünsche erleben.5 Höchstens "auf dem Wege der Reflexion"6, indem sie sich bewußt machen, wie vielen möglichen Übeln sie bereits entgangen sind, können einige wenige die Realisierung ihrer Bedürfnisse über längere Zeit positiv und ohne ein Gefühl der Langeweile erleben. Den »echten« Christen hält Schopenhauer dabei zugute, daß sie sehr wohl um das Leid der Welt wüßten. Seiner Ansicht nach hatte Jesus dieses Wissen aus Ägypten mitgebracht, deren Landesreligion, so Schopenhauers überraschende Auffassung, indischen Ursprungs gewesen sei.7

2. Die Lehre von der Erbsünde

Das »echte« Christentum lehrt nicht nur das Leid der Welt, sondern vermag dafür auch eine Erklärung zu liefern und einen Weg der Erlösung aufzuzeigen: "Der Mittelpunkt und das Herz des Christenthums ist die Lehre vom Sündenfall, von der Erbsünde, von der (S. 4) Heillosigkeit unsers natürlichen Zustandes und der Verderbtheit des natürlichen Menschen, verbunden mit der Vertretung und Versöhnung durch den Erlöser, deren man theilhaft wird durch den Glauben an ihn."8 Für den wahren Christen besitzt daher die Welt eine moralische Bedeutung, sie ist ein Weltgericht, ein "Ort der Buße, ... eine Strafanstalt"9. Der Meinung, daß die Welt nur physische Bedeutung habe, oder der Gedanke, daß das Universum moralisch völlig indifferent sei, erschien Schopenhauer als ein heilloser Irrtum.

3. Die Christliche Moral

Außer der Betonung der Leiden der Welt und ihrer moralischen Bedeutung schätzte Schopenhauer am Christentum die Mitleidsethik. Im berühmten Dialog über Religion in den Parerga und Paralipomena faßt Demopheles Schopenhauers positive Auffassung von der christlichen Moral folgendermaßen zusammen: Bei den antiken Philosophen, Platon ausgenommen, war "das Ziel aller Tugend ein glückliches Leben" und die Moral "die Anleitung zu einem solchen. Von diesem platten und rohen Aufgehn in einem... schaalen Daseyn befreite das Christenthum die Europäische Menschheit ..." Es predigte nicht bloß Gerechtigkeit, "sondern Menschenliebe, Mitleid, Wohlthätigkeit, Versöhnlichkeit, Feindesliebe,... Ja, es gieng weiter: es lehrte, daß die Welt vom Uebel sei, und daß wir der Erlösung bedürften: demnach predigte es Weltverachtung, Selbstverleugnung, Keuschheit, Aufgeben des eigenen Willens, d.h. Abwendung vom Leben und dessen trügerischen Genüssen". Die "ernste, wahre und tiefe Bedeutung des Lebens war Griechen und Römern verloren gegangen: sie lebten dahin, wie große Kinder, bis das Christenthum kam und sie zum Ernst des Lebens zurückrief."10

Diesen drei positiven Aspekten des Christentum steht allerdings eine ganze Reihe negativer entgegen. Da Schopenhauers Kritik am Christentum nur vor dem Hintergrund seiner Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Philosophie verständlich ist, soll zunächst dieses Verhältnis kurz näher bestimmt werden. Schopenhauer zufolge ist die Philosophie eine Wissenschaft und enthält als solche keine Glaubensartikel. Folglich darf in ihr nur dasjenige akzeptiert werden, was entweder empirisch gegeben oder aber durch unzweifelhafte Schlüsse nachgewiesen ist. Im Gegensatz zu den Erkenntnissen der Philosophie sind religiöse »Wahrheiten« über alle Untersuchung erhaben, sie sind durch Autorität und Offenbarung abgestützt. Eine christliche Philosophie ist demnach unmöglich; denn sie wäre wie eine "Christliche Arithmetik ..., die fünf gerade seyn ließe"11.

Aber trotz dieses fundamentalen Unterschiedes beziehen beide, Philosophie und Religion, ihre Berechtigung aus einer gemeinsamen Aufgabe: Beide versuchen nämlich Antworten auf den allgemein menschlichen Wunsch nach Orientierung, nach Trost im Leiden und im Tod zu geben; dieses »metaphysische« Bedürfnis vermag die Naturwissenschaft nicht zu befriedigen. Aber ist somit auch die Aufgabe von Philosophie und Religion dieselbe, so sind deren Adressaten doch ganz verschiedene: Denn während die Philosophie sich an die Wenigen wendet, ist die Religion auf das Bedürfnis und die Fassungskraft des Volkes zugeschnitten. Wie es "eine Volkspoesie giebt und ... eine Volksweisheit: so muß es auch eine Volksmetaphysik geben. Denn die Menschen bedürfen schlechterdings einer Auslegung des Lebens, und sie muß ihrer Fassungskraft angemessen seyn."12 "Um nun ihre »Wahr-heiten« transportieren zu können, bedient sich (S. 5) die Religion deshalb des Vehikels der Allegorie"13, die sie als sensu proprio, also »im eigentlichen Sinne« wahr, "geltend zu machen hat"14. Denn nur eine Lehre, die als sensu proprio wahr ausgegeben wird, wird von Menschen respektiert und akzeptiert. Aus dieser Tatsache – Lehren werden als sensu proprio wahr ausgegeben, obwohl sie bloß allegorische Wahrheiten enthalten – entwickelt Schopenhauer einen ersten fundamentalen Kritikpunkt an der Religion.

3.1. Das Gewand der Lüge

Schopenhauer betont zunächst die Wirksamkeit von Allegorien. So ist für die – seiner Ansicht nach notwendige – Verneinung des eigenen Willens "die Vorstellung, daß man sich einem fremden, individuellen Willen gänzlich und ohne Rückhalt unterwerfe ..., ein psychisches Erleichterungsmittel und daher ein passendes allegorisches Vehikel der Wahrheit".15 Schopenhauer sieht im allegorischen Gehalt den "Glanzpunkt der Religion"16 schlechthin. Denn Menschen, die selbst »blind« sind, werden auf diese Weise von der Religion gleichsam bei der Hand gefaßt und geleitet.

Der Preis für diese Hilfestellung ist gleichwohl beträchtlich: Was für eine "gefährliche Waffe wird nicht Denen in die Hände gegeben, welche die Befugniß erhalten, sich der Unwahrheit als Vehikels der Wahrheit zu bedienen!" Wenn die Allegorie "sich eingeständlich als eine solche geben dürfte, da gienge es schon an: allein das würde ihr allen Respekt und damit alle Wirksamkeit benehmen. Sie muß daher als sensu proprio [im eigentlich Sinne] wahr sich geltend machen und behaupten; während sie höchstens sensu allegorico [im übertragenden Sinne] wahr ist. Hier liegt der unheilbare Schaden, der bleibende Uebelstand, welcher Ursache ist, daß die Religion mit dem unbefangenen, edlen Streben nach reiner Wahrheit stets in Konflikt gerathen ist "und immer von Neuem" in Konflikte geraten wird."17

Weil die Religion sich des Vehikels der Allegorie bedienen muß – denn täte sie es nicht, so verlöre sie ihre Interessenten (und wäre keine Religion mehr, sondern Philosophie) –, sind Priester ein sonderbares Mittelding aus Sittenlehrern und Betrügern. Nicht zuletzt deshalb, weil "Lug und Trug ... ein seltsames Tugendmittel" sind, ist die Geschichte der Religion eine solch blutige. Vom Dornbusch sind eben "keine Trauben" und von "Lug und Trug" ist "kein Heil zu erwarten ... Ich rufe Ketzergerichte und Inquisitionen, Religionskriege und Kreuzzüge, Sokrates' Becher und Bruno's und Vanini's Scheiterhaufen zum Zeugen an!"18 Aber nicht nur sind Vertreter der verschiedenen Religionen auch Betrüger, sondern das Leugnen der Allegorizität dem irdischen Effekt zuliebe führt inhaltlich zu moralisch höchst empörenden Lehren. Dies wird, so Schopenhauer, am Dogma von der Prädestination besonders deutlich.19

3.2. Die Konzeption eines fremden Willens

So wie David Hume20 erklärt auch Schopenhauer den Ursprung aller Religion aus dem Leid: Die beständige Not und Angst veranlaßt Menschen, die unerbittlichen und gefühllosen Naturkräfte zu personifizieren, um deren »Willen«, wie bei Menschen üblich, durch Bitten und Gebete beeinflussen zu können. Das Unhaltbare an einer solchen Weltsicht, im besonderen in ihrer theistischen Variante, sieht Schopenhauer darin, daß der unmittelbar (S. 6) faßbare Wille zu einem bloß mittelbaren herabgewürdigt wird. Anstatt in der Wirklichkeit "das ursprüngliche, urkräftige, erkenntnislose ... Wirken des Willens zu erkennen", wird der Weltwille als ein Etwas aufgefaßt, das "bloß sekundär" sei, das erst "am Lichte der Erkenntniß und am Leitfaden der Motive vor sich gegangen" wäre: Das "von innen aus Getriebene" wird als "von außen gezimmert, gemodelt und geschnitzt" 21 aufgefaßt.

Der Glaube an die Existenz eines mächtigen, planenden, fremden Willens versperrt aber nicht nur den Weg ins Innere der Natur, sondern führt nach Schopenhauer notwendigerweise obendrein zur Abgötterei: "Ob man sich ein Idol macht aus Holz, Stein, Metall, oder es zusammensetzt aus abstrakten Begriffen, ist einerlei: es bleibt Idolatrie, sobald man ein persönliches Wesen vor sich hat, dem man opfert, das man anruft, dem man dankt. Es ist auch im Grunde so verschieden nicht, ob man seine Schaafe, oder seine Neigungen opfert."22 Im Gegensatz dazu beugen Buddhisten vor keinem Götterbilde ihr Haupt, da "das Urwesen die ganze Natur durchdringe, folglich auch in ihren Köpfen"23 ist.

3.3. Der verhängnisvolle Einfluß priesterlicher Erziehung auf die Entwicklung des Kindes und die Suche nach Wahrheit.

Religionen wenden sich "nicht an die Ueberzeugung, mit Gründen, sondern an den Glauben, mit Offenbarungen". Da ein vertrauender Glaube in der Kindheit am stärksten ist, sind Priester "vor allem darauf bedacht, sich dieses zarten Alters zu bemächtigen." 24 Die Konsequenzen dieser »Abrichtung zum Glauben« sind fatal: Zum einen ist die "Gewalt früh eingeprägter religiöser Dogmen" auf die "angeborene Güte des Charakters"25 oftmals so stark, "daß sie das Gewissen und zuletzt alles Mitleid und alle Menschlichkeit zu ersticken vermag"26. Und zum anderen wagen Kinder es bald nicht mehr, "ernstlich und aufrichtig" nach der Wahrheit zu fragen27, da Priester eben nicht an Gründe, sondern immer nur an den Glauben appellieren.

Die Religion ist schon daher eine Gefahr für Wissenschaft und Philosophie: Während "des ganzen Christlichen Zeitraums liegt der Theismus wie ein drückender Alp auf allen geistigen, zumal philosophischen Bestrebungen und hemmt, oder verkümmert, jeden Fortschritt. Gott, Teufel, Engel und Dämonen verdecken den Gelehrten jener Zeiten die ganze Natur: keine Untersuchung wird zu Ende geführt, keiner Sache auf den Grund gegangen; sondern Alles, was über den augenfälligsten Kausalnexus hinausgeht, wird durch jene Persönlichkeiten alsbald zur Ruhe gebracht ..."28 Religion und Wahrheitssuche stehen in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, aber gelingt es den Wahrheitssuchern, sich aus der religiösen Umklammerung zu befreien, und breitet sich Wissen aus, so ist es nach Schopenhauer um die Religion geschehen: Denn "Religionen sind wie die Leuchtwürmer: sie bedürfen der Dunkelheit um zu leuchten. Ein gewisser Grad allgemeiner Unwissenheit ist die Bedingung aller Religionen, ist das Element, in welchem allein sie leben können." Sobald die Wissenschaft "zum Worte kommen darf; da muß jeder auf Wunder und Offenbarung gestützte Glaube untergehn; worauf dann die Philosophie seinen Platz einnimmt."29

4. Die Widersprüchlichkeit des Christentums

(S. 7) Nach Schopenhauer ist das Christentum ein Amalgam aus indischer Weisheitslehre und jüdischem Theismus. Zwar lehrt es das Böse der Welt, aber zugleich lehrt es auch die Güte Gottes. Während nach indischer Lehre der Ursprung der Welt selbst schon von Übel, nämlich eine sündliche Tat des Brahman ist, welcher Brahman nun wieder wir eigentlich selbst sind, wurde im Christentum jene Lehre von der Erlösung der Welt auf den jüdischen Theismus, derzufolge der Herr die Welt nicht nur gemacht, sondern sie nachher auch noch vortrefflich gefunden hat, aufgepfropft.30 Der Optimismus, und damit auch der jüdische Theismus, scheitert jedoch am Problem des Übels: Denn "das Uebel und die Sünde, Beide in ihrer furchtbaren Größe"31, sind nicht wegzuleugnen. Die traurige Beschaffenheit einer Welt, "deren lebende Wesen dadurch bestehn, daß sie einander auffressen, die hieraus hervorgehende Noth und Angst alles Lebenden, die Menge und kolossale Größe der Uebel,..., die Last des Lebens selbst und sein Hineilen zum bittern Tode, [ist] ehrlicherweise nicht damit zu vereinigen, daß sie das Werk vereinter Allgüte, Allweisheit und Allmacht seyn sollte."32

Den Versuch, diese Schwierigkeiten durch die Behauptung der Freiheit des menschlichen Willens zu lösen, hält Schopenhauer für gänzlich gescheitert. Denn ist "ein Wesen geschaffen; so ist es so geschaffen, wie es beschaffen ist: mithin ist es schlecht geschaffen, wenn es schlecht beschaffen ist, und schlecht beschaffen, wenn es schlecht handelt, ... Demzufolge wälzt die Schuld der Welt, eben wie ihr Uebel, welches so wenig wie jene abzuleugnen ist, sich immer auf ihren Urheber zurück..."33 Die Lehre vom Leid der Welt und die Annahme eines mit den Attributen der Allgüte, Allmacht und Allwissenheit ausgestatteten Höchsten Wesens sind nicht miteinander verträglich; das Christentum ist somit im Grunde in sich völlig widersprüchlich.

5. Der negative Einfluß auf die Moral

Zwar ist die Tendenz des Christentums "ethisch, im allerhöchsten, bis dahin in Europa nichtgekannten Sinne des Wortes"34, aber diese positive Tendenz ist leider eher theoretisch. Denn durch das Christentum ist die Menschheit moralisch verderbter geworden. Schopenhauer begründet diese provokante These durch einen Vergleich des Altertums mit dem Mittelalter: "Kaum glaubt man in beiden die selbe Art von Wesen vor sich zu haben: dort die schönste Entfaltung der Humanität, vortreffliche Staatseinrichtungen, weise Gesetze, klug vertheilte Magistraturen, vernünftig geregelte Freiheit, sämmtliche Künste, nebst Poesie und Philosophie, auf ihrem Gipfel, Werke schaffend, die noch nach Jahrtausenden als unerreichte Muster" dastehn; und nun "sieh' hieher, wenn du es vermagst.– Siehe die Zeit, da die Kirche die Geister und die Gewalt die Leiber gefesselt hatte, damit Ritter und Pfaffen ihrem gemeinsamen Lastthiere, dem dritten Stande, die ganze Bürde des Lebens auflegen konnten. Da findest du Faustrecht, Feudalismus und Fanatismus in engem Bunde, und in ihrem Gefolge gräueliche Unwissenheit und Geistesfinsterniß, ihr entsprechende Intoleranz, Glaubenszwiste, Religionskriege, Kreuzzüge, Ketzerverfolgungen und Inquisitionen..."35

Schopenhauer hatte bereits zwei Gründe genannt, weshalb die Früchte des Christentums (S. 8) oft so wenig attraktiv sind: Weil ihre Vertreter im Gewande der Lüge auftreten müssen; und weil die allegorischen Wahrheiten, als sensu proprio wahr ausgegeben, moralisch oft skandalös, also den menschlichen Empfindungen entgegengesetzt und doch mit höchster Autorität legitimiert sind. Es gibt noch einen weiteren Grund: Religionen üben "sehr häufig einen entschieden demoralisirenden Einfluß" aus. Damit will Schopenhauer sagen, daß die Pflichten gegen Gott oftmals "den Pflichten gegen die Menschen entzogen" werden, da es "sehr bequem ist, den Mangel des Wohlverhaltens gegen diese durch Adulation [Lobhudelei] gegen jenen zu ersetzen."36 Da es oft einfacher ist, "den Himmel durch Gebete zu erbetteln, als durch Handlungen zu verdienen", werden "für die nächsten Gegenstände des göttlichen Willens" nicht moralische Handlungen, sondern "Glaube, Tempelceremonien und Latreia [gottesdienstliche Bräuche] mancherlei Art ausgegeben ..."37

Zu allem Übel ist der negative Einfluß des Theismus auf die Moral häufig nicht nur ein solch demoralisierender, sondern sogar explizit destruktiver – und zwar aufgrund der spezifischen Form, in der religiöse »Wahrheiten« begründet werden: Zwar gibt der Theismus "der Moral eine Stütze, jedoch eine ..., durch welche die wahre und reine Moralität des Handelns im Grunde aufgehoben wird, indem dadurch jede uneigennützige Handlung sich sofort in eine eigennützige verwandelt, vermittelst eines sehr langsichtigen, aber sichern Wechsels, den man als Zahlung dafür erhält. Der Gott nämlich, welcher Anfangs der Schöpfer war, tritt zuletzt als Rächer und Vergelter auf."38 Die Moral "mittelst des Theismus stützen" heißt, "sie auf Egoismus zurückführen"; es steht daher "mißlich um jede Moral ..., die keine andere Basis hat, als den Willen Gottes."39 Und bei Licht besehen ist selbst dieser Begründungsversuch unhaltbar. Denn der Theismus erlaubt überhaupt keine Begründung der Moral, hebt er doch Freiheit und Zurechnungsfähigkeit der Menschen auf. Denn an einem Wesen, welches "das Werk eines andern ist, läßt sich weder Schuld noch Verdienst denken".40 Handelt der Mensch nun schlecht, dann ist die Schuld nicht seine eigene, sondern es ist die Schuld Desjenigen, der ihn gemacht hat.

Nach Schopenhauer ist ein moralisches Leben nur möglich durch die Verneinung des subjektiven Willens, dessen Bejahung sich gemeinhin bis zur Verneinung des Willens anderer steigert. Indem ich erkenne, daß mein Drang zum Leben zugleich das Wesen aller Dinge ist, erfasse ich die Basis aller Moralität: Das Wissen um die Identität alles Seienden schafft Mitleid, ohne angedrohte Strafen und ohne versprochenen Lohn. "Die moralischen Resultate des Christenthums", schreibt Schopenhauer, "findet man bei mir rationell und im Zusammenhange der Dinge begründet". Der Glaube an das Christentum "schwindet täglich mehr; daher wird man sich zu meiner Philosophie wenden müssen."41

Die nach Schopenhauer "wahrscheinlich ... schlimmste Seite der Religionen" in bezug auf die Moral sei abschließend angeführt: Nicht nur transportieren sie Lügen und untergraben sie das moralische Empfinden, nicht nur appellieren sie an den Egoismus des einzelnen und zerstören damit das Mitleid, sondern oftmals rufen sie ausdrücklich zu unmoralischem Verhalten auf: Die Gläubigen der einen Religion meinen berechtigt zu sein, gegen Andersgläubige "mit der äußersten Ruchlosigkeit und Grausamkeit" verfahren (S. 9) zu dürfen – etwas, das vor allem für die "Anhänger der monotheistischen Religionen" gilt.42 Den Grund für dieses Phänomen sieht Schopenhauer darin, daß ein alleiniger Gott "seiner Natur nach, ein eifersüchtiger Gott" ist, der "keinem andern das Leben gönnt".43

6. Christen vergrößern oft noch das vorhandene Leid.

Nach Schopenhauer ist die Welt ein Jammertal, und sind die Menschen einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teufel darin. Zu den Übeln der Welt, den physischen Übeln, kommen noch von Menschen geschaffene moralische Übel hinzu. Wieder sieht Schopenhauer Theisten mit ihrer "gezwungene[n], andressierte[n], demüthige[n], schleichende[n] Bettlergebärde44 in den Kriminalakten der Menschheitsgeschichte besonders reich vertreten. So begünstige der gelegentliche Optimismus der Theisten die Mißachtung der Wahrheit, daß die Welt ein Schauplatz des Jammers sei – etwas, das zu neuem Unglück führt. Sind wir nämlich einmal frei von Leid, so spiegeln unruhige Wünsche uns die Chimären eines unerreichbaren Glücks vor, und diese Wünsche verleiten uns, diese Chimären zu verfolgen: Dadurch "bringen wir den Schmerz, der unleugbar real ist, auf uns herab"45.

Neben dem Optimismus, der sich über die Übel der Welt hinwegzuschwindeln sucht (und dadurch neues Leid schafft), verursachen konkrete religiöse Normensysteme noch zusätzliches, konkretes Leid. Besonders abfällig äußert sich Schopenhauer hier über den ritterlichen Ehrenkodex, der mit dem, was der Mensch wirklich ist, nichts zu tun hat; es handle sich dabei um bloße Äußerlichkeiten. In der Antike war das ritterliche Ehrenprinzip durchaus unbekannt, somit ist es "offenbar ein Kind jener Zeit, wo die Fäuste geübter waren, als die Köpfe, und die Pfaffen die Vernunft in Ketten hielten, also des belobten Mittelalters und seines Ritterthums"46.

7. Das Christentum überwindet nicht die Angst vor dem Tod.

Schopenhauer kommt zu diesem zunächst ebenfalls sehr überraschenden Ergebnis über folgenden Gedankengang: DieAnnahme, daß wir, nachdem wir doch eine "unendliche Zeit gar nicht gewesen, von nun an in alle Ewigkeit fortdauern" sollten, ist eine "über die Maaßen kühne Annahme. Bin ich allererst bei meiner Geburt aus Nichts geworden und geschaffen; so ist die höchste Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß ich im Tode wieder zu nichts werde ... Nur was selbst ursprünglich, ewig, ungeschaffen ist, kann unzerstörbar seyn." Die Lehre von der geschaffenen, und doch unzerstörbarem Seele, ist also wenig überzeugend. Hingegen, "wie sollte Der den Tod fürchten, der sich als das ursprüngliche und ewige Wesen, die Quelle alles Daseyns selbst, erkennt ...?"47 Aus derselben Quelle wie die moralischen Tugenden entspringt nach Schopenhauer die Überwindung der Todesangst. Da das Christentum eine falsche Metaphysik lehrt, kann es weder die wahre Quelle moralischer Tugenden erkennen noch die Todesangst überwinden.

8. Die enge Verknüpfung mit der Historie

Ein weiterer "eigentümlicher Nachtheil" des Christentums besteht laut Schopenhauer darin, daß es nicht, wie die anderen Religionen, eine reine Lehre, sondern wesentlich und hauptsächlich eine Historie ist, eine Reihe von (S. 10) Begebenheiten, ein Komplex von Tatsachen, von Handlungen und Leiden individueller Wesen: Und eben "diese Historie macht das Dogma aus, der Glaube an welches sälig macht." Andere Religionen, namentlich der Buddhismus, kennen zwar auch historische Zugaben, etwa das Leben ihres Stifters: aber diese sind nicht Teil des Dogmas, sondern gehen neben demselben einher – "schon deswegen, weil die Lebensläufe der früher gewesenen Buddha's auch ganz andere waren, und die der künftigen ganz andere seyn werden."48

Damit ist das Christentum den Einwänden einer kritischen Geschichtsschreibung ausgesetzt. Mehr noch: Es bleibt verstrickt im Gewebe der Erscheinungen. Weil Schopenhauer der Meinung ist, daß die Geschichte keine das Wesen der Sache berührende Bedeutung hat, ist er an der irdischen Person Jesu wenig interessiert; dagegen beeindruckte ihn zutiefst die Gestalt des »Heilands« im Christentums (Paulus dürfte in diesem Punkt ähnlich gedacht haben).

9. Das Verhältnis zu den Tieren

Hierbei handelt es sich nach Schopenhauer nicht nur um einen eigentümlichen Nachteil, sondern um einen schweren Grundfehler des Christentums, dessen "heillose Folgen" sich täglich manifestieren: Das Christentum hat "widernatürlicherweise den Menschen losgerissen ... von der Thierwelt, welcher er doch wesentlich angehört, und ihn nun ganz allein gelten lassen will, die Thiere geradezu als Sachen betrachtend; ... Die bedeutende Rolle, welche im Brahmanismus und Buddhaismus durchweg die Thiere spielen, verglichen mit der totalen Nullität derselben im Juden-Christenthum, bricht, in Hinsicht auf Vollkommenheit, diesem letztern den Stab; so sehr man auch an solche Absurdität in Europa gewöhnt seyn mag."49 Schon deshalb sollte man "ein Mal aufhören", die Moral des Christentums "die allervollkommenste" zu nennen.50 Die Wirkung dieser jüdisch-christlichen Tradition ist ein Strom zusätzlichen Leids: Man sehe "die himmelschreiende Ruchlosigkeit, mit welcher unser christlicher Pöbel gegen die Thiere verfährt... [D]ie Menschen sind die Teufel der Erde, und die Thiere die geplagten Seelen".51 Den "Zeloten und Pfaffen rathe ich, hier nicht viel zu widersprechen: denn dies Mal ist nicht allein die Wahrheit, sondern auch die Moral auf unserer Seite."52 Die Ursache für die Trennung von Tier und Mensch im Christentum ist nach Schopenhauer das Fehlen des Mythos von der Seelenwanderung, den er für den bedeutendsten hält, der je ersonnen wurde; dieser Mythos steht von allen Mythen der philosophischen Wahrheit am nächsten.

Ich fasse meine Analyse von Schopenhauers Stellung zum Christentum kurz zusammen: Obwohl der Autor der Parerga und Paralipomena am Christentum durchaus positive Seiten findet (die Lehre vom Leid und der Versuch seiner Erklärung, das Festhalten an der moralischen Bedeutung der Welt, die Forderung nach Erlösung und Nächstenliebe), sind seiner Ansicht nach die Nachteile doch überwältigend:

a) Da Priester die allegorischen Wahrheiten der Religion als sensu proprio wahr ausgeben müssen, werden sie zu Lügnern;

b) die allegorischen Wahrheiten, wenn man sie im »eigentlichen« Sinne als wahr versteht, enthalten moralisch skandalöse Lehren; (S. 11)

c) durch die Konzeption eines fremden, allmächtigen Willens, wird die Sicht der Dinge eine äußerliche;

d) die Anbetung dieses Willens ist eine Form der Idolatrie;

e) da Priester an den Glauben, und nicht an Gründe appellieren, beeinflussen sie die Entwicklung der Kinder und deren Streben nach Wahrheit negativ;

f) weil das Christentum trotz der Lehre vom Leid die Existenz eines allgütigen Gottes postuliert, ist es grundsätzlich in sich widersprüchlich;

g) auf das moralische Empfinden übt das Christentum einen verhängnisvollen Einfluß aus: Aktive Nächstenliebe wird oft durch verschiedenste Tempeldienste ersetzt; die Begründung der moralischen Forderungen durch künftige Belohnungen und Bestrafungen appelliert an den Egoismus und nicht an das Mitgefühl des einzelnen; der eifersüchtige Eine Gott ermuntert zur Unterdrückung oder Auslöschung Andersdenkender;

h) durch den mit der Konzeption des christlichen Gottes häufig verknüpften Optimismus wird das Leid oft ebenso vergrößert wie mit konkreten Normensystemen (etwa dem ritterlichen Ehrenkodex);

i) da die christliche Seelenlehre wenig überzeugend ist, kann sie den Menschen auch nicht die Furcht vor dem Tod nehmen;

j) die enge Verbindung mit der Historie verstrickt die christliche Botschaft in die Welt der Erscheinungen und macht sie offen für historische Kritik;

k) und besonders verwerflich ist durch das Fehlen des Mythos der Seelenwanderung das jüdisch-christliche Naturverständnis.

Aber reicht diese negative Liste für Schopenhauer aus, um ein eindeutig vernichtendes Urteil über das Christentum zu fällen? So wie Philalethes, der Freund der Wahrheit, dies tat, der "hinterm Kreuze" den "Teufel" stehn sieht?53 Diese Frage ist meines Erachtens nicht eindeutig zu beantworten. Denn Schopenhauer ist sich unsicher, ob Religion überflüssig und Philosophie gangbar, ob also allegorische Wahrheiten notwendig sind, um das metaphysische Bedürfnis der Masse der Menschen zu befriedigen, oder ob das Volk die reine Wahrheit, und das ist natürlich seine Philosophie und die der Upanishaden, aufzunehmen imstande ist. An einigen Stellen äußert sich Schopenhauer sehr skeptisch54, an anderen, und diese sind zahlreicher, behauptet er, daß Menschen doch einmal reif sein werden für die reine Wahrheit – die Menschheit werde also einmal ihr metaphysisches Bedürfnis mit Hilfe philosophischer Wahrheiten befriedigen. Du hast "gewiß Recht", meint Philalethes zu Demopheles, "das starke metaphysische Bedürfniß des Menschen zu urgiren: aber die Religionen scheinen mir nicht sowohl die Befriedigung, als der Mißbrauch desselben zu seyn".55

Aber weshalb, so stellt sich die Frage, sollte die Menschheit für die Wahrheit reif werden, nachdem sie es jahrtausendelang nicht war? Schopenhauer gibt hier als Erklärung, daß die Religion "dem ächten philosophischen Streben, dem aufrichtigen Forschen nach Wahrheit, diesem edelsten Beruf edelster Menschheit"56 im Wege stand. Sind Menschen noch nicht bereit, die Wahrheit ohne das Gewand der Allegorie aufzunehmen, so ist dies nicht (S. 12) »naturbedingt«, sondern "hauptsächlich dem Drucke zuzuschreiben, unter welchem, zu allen Zeiten und in allen Ländern, die Philosophie von der Religion gehalten worden ist"57. Schreiten Physik und Metaphysik, "die natürlichen Feinde der Religion", weiter fort, so werden die Religionen untergehen, denn sie sind "Kinder der Unwissenheit, die ihre Mutter nicht lange überleben58. Bei immer größerer Ausbreitung des Wissens wird "die Anzahl der Menschen, denen sie nicht mehr genügen kann, immer größer, und diese wird mehr und mehr auf Wahrheit sensu proprio dringen."59

Weil Mythen "das Skelett des Christenthums" ausmachen, werden diese mit der Zeit "dermaaßen einschrumpfen, daß der Glaube nicht mehr daran haften kann. Die Menschheit wächst die Religion aus, wie ein Kinderkleid; und da ist kein Halten: es platzt. Glauben und Wissen vertragen sich nicht wohl im selben Kopfe: sie sind darin wie Wolf und Schaaf in einem Käfig; und zwar ist das Wissen der Wolf, der den Nachbar aufzufressen droht.– In ihren Todesnöthen sieht man die Religion sich an die Moral anklammern, für deren Mutter sie sich ausgeben möchte: – aber mit Nichten! Ächte Moral und Moralität ist von keiner Religion abhängig"60. Im Ganzen gesehen geht also, "von den Wissenschaften fortwährend unterminirt, das Christenthum seinem Ende allmälig entgegen"61.

Demopheles letztem Versuch, doch noch die Berechtigung des Christentums zu retten, da sie "die rohen und schlechten Gemüther der Menge" bändigt, um sie "vom äußersten Unrecht, von Grausamkeiten, von Gewalt und Schandthaten abzuhalten"62, läßt Philalethes nicht mehr gelten: Dieses Argument sei "falsch", denn die Griechen besaßen durchaus keine Religion in unserem Sinn:

"Von der Unsterblichkeit der Seele und einem Leben nach dem Tode, hatten die Alten gar keine feste, deutliche, am wenigsten dogmatisch fixirte Begriffe", sondern "ganz lockere, schwankende, unbestimmte" Vorstellungen... Hat nun aber deswegen bei ihnen Anarchie und Gesetzlosigkeit geherrscht?63 Daß die Zivilisation unter den christlichen Völkern inzwischen am höchsten steht, liegt nicht daran, daß das Christentum ihr günstig, sondern daran, daß es abgestorben ist und wenig Einfluß mehr hat. Solange es ihn hatte, war die Zivilisation weit zurück: im Mittelalter. "Alle Religion steht im Antagonismus mit der Kultur."64

Nach Schopenhauer gibt es also gute Gründe für die Annahme, daß die Menschheit die wahre Philosophie einmal aufzunehmen vermag, hat es doch schon einmal eine Zeit gegeben, in der Philosophen und Weisheitslehrer dem Volk die ungeschminkte Wahrheit mitteilen konnten. Buddha hat "den Kern aus der Schaale" gelöst und "die hohe Lehre selbst von allem Bilder- und Götterwesen" befreit und "ihren reinen Gehalt sogar dem Volke zugänglich und faßlich" gemacht. Dies sei ihm "wundervoll gelungen, und daher ist seine Religion die vortrefflichste und durch die größte Anzahl von Gläubigen vertretene auf Erden." 65 "Wir dürfen daher hoffen", schreibt Schopenhauer, daß einst "die aus Asien stammenden Völker" Europas "die heiligen Religionen der Heimath wieder erhalten werden: denn sie sind, nach langer Verirrung, für dieselben wieder reif geworden.66

Anmerkungen: (S. 13)

1 Ich zitiere nach der Zürcher Ausgabe der parerga und Paralipomena (1977). Die römische Ziffer verweist auf den Band, die nachfolgende Zahl auf die Seite. Zitat: II, S. 400.

2 I, S. 47.

3/4 II, S. 317.

5 I, S. 442.

6 "Wenn der ganze Leib gesund und heil ist, bis auf irgend eine kleine wunde, oder sonst schmerzende Stelle; so tritt jene Gesundheit des Ganzen weiter nicht ins Bewußtseyn, sondern die Aufmerksamkeit ist beständig auf den Schmerz der verletzten Stelle gerichtet und das Behagen der gesammten Lebensempfindung ist aufgehoben" (I, S. 442). Längere schmerzlose Phasen gehen zudem zumeist mit einem Gefühl der Langeweile einher.

7 I, S. 442.

8 Wie ein "aus fernen, tropischen Gefilden, über Berge und Ströhme hergewehter Blüthenstaub, ist im Neuen Testament der Geist der Indischen Weisheit zu spüren. Vom Alten Testament hingegen paßt zu dieser nichts, als nur der Sündenfall S. 420).

9 II, S. 427.

10 II, S. 328.

11 II, S. 384f.

12 I, S. 161. Schopenhauer bekennt sich in diesem Punkt also geradezu emphatisch zur Aufklärung, nämlich zur Eigenständigkeit philosophischen Denkens.

13 II, S. 360.

14 Ein Beispiel für eine Allegorie wäre die Verbildlichung des Schicksals durch einen vorausplanenden, persönlichen Gott.

15 I, S. 166.

16 II, S. 347.

17 II, S. 372.

18 II, S. 369f.

19 II, S. 378, 380, 361.

20 "Denn nicht nur läßt es, vermöge seiner ewigen Höllenstrafen, die Fehltritte, oder sogar den Unglauben eines oft kaum zwanzigjährigen Lebens durch endlose Quaalen büßen; sondern es kommt hinzu, daß diese fast allgemeine Verdammniß eigentlich Wirkung der Erbsünde und also nothwendige Folge des ersten Sündenfalles ist. Diesen nun aber hätte jedenfalls Der vorhersehn müssen, welcher die Menschen erstlich nicht besser, als sie sind, geschaffen, dann aber ihnen eine Falle gestellt hatte, in die er wissen mußte, daß sie gehn würden, da Alles mit einander sein Werk war und ihm nichts verborgen bleibt. Demnach hätte er ein schwaches, der Sünde unterworfenes Geschlecht aus dem Nichts ins Daseyn gerufen, um es sodann endloser Quaal zu übergeben. Endlich kommt noch hinzu, daß der Gott, welcher Nachsicht und Vergebung jeder Schuld, bis zur Feindesliebe, vorschreibt, keine übt, sondern vielmehr in das Gegentheil verfällt; da eine Strafe, welche am Ende der Dinge eintritt, wann Alles vorüber und auf immer zu Ende ist, weder Besserung, noch Abschreckung bezwecken kann, also bloße Rache ist. Sogar aber erscheint, so betrachtet, in der That das ganze Geschlecht als zur ewigen Quaal und Verdammniß geradezu bestimmt und ausdrücklich geschaffen, – bis auf jene wenigen Ausnahmen, welche, durch die Gnadenwahl, man weiß nicht warum, gerettet werden. Dieser aber bei Seite gesetzt, kommt es heraus, als hätte der liebe Gott die Welt geschaffen, damit der Teufel sie holen solle;... So geht es mit den Dogmen, wenn man sie sensu proprio nimmt: hingegen sensu allegorico verstanden, ist alles Dieses noch einer genügenden Auslegung fähig." (ll, S. 403)

21 Schopenhauers Ausführungen sind in diesem Punkt zum Teil wortwörtlich Humes (S. 14) Natural History of Religion entnommen. Schopenhauer äußerte sich immer mit größtem Respekt über den schottischen Aufklärer. Die wichtigsten religionsphilosophischen Argumenten Humes habe ich in David Hume. Sein Leben und sein Werk.Paderborn 1994 herausgearbeitet.

22 II, S. 416f..

23 I, S. 132n.

24 II, S. 361. Als Indiz für die Richtigkeit dieser Beobachtung führt Schopenhauer an, daß jemand, der "im reifen Alter seine Religion wechselt, von den Meisten verachtet" wird, eben weil Menschen intuitiv wissen, daß die Religion keine Sache "vernünftiger Ueberzeugung, sondern bloß des früh und vor aller Prüfung eingeimpften Glaubens" (II, S. 364) ist.

25 II, S. 389.

26 II, S.362. Die angeborene Güte ist allerdings nur ein Teil der menschlichen Natur: "Der Mensch ist im Grunde ein wildes, entsetzliches Thier. Wir kennen es bloß im Zustande der Bändigung und Zähmung, welcher Civilisation heißt: daher erschrecken uns die gelegentlichen Ausbrüche seiner Natur." Denke an "jene bigotten, kirchengehenden, streng den Sabbath beobachtenden Schurken, namentlich auch die Anglikanischen Pfaffen unter ihnen, [wie sie] ihre unschuldigen schwarzen Brüder behandeln, welche durch Unrecht und Gewalt in ihre Teufelsklauen gerathen sind"(II, S. 230f.).

27 Il, S. 362.

28 II, S. 365. Nicht ohne Grund hat sich die etablierte Religion immer wieder gegen die Naturwissenschaft gewandt.

29 II, S. 382.

30 "Brahma bringt durch eine Art Sündenfall, oder Verirrung, die Welt hervor, bleibt aber dafür selbst darin, es abzubüßen, bis er sich daraus erlöst hat.– Sehr gut!"(II, S. 326) Aber "so ein Gott Jehova, der animi causa [zum Vergnügen] und de gaieté de coeur [mutwillig] diese Welt der Noth und des Jammers hervorbringt und dann noch gar sich selber Beifall klatscht, mit ... [Alles war sehr gut: 1. Mose 1, 31], – Das ist nicht zu ertragen" (II, S. 327). Der Glaube an einen solchen Gott ist letztlich also eine neue Quelle des Leids.

31 I, S. 76.

32 I, S.138. Zum Theodizeeproblem vgl. mein Gottes Güte und die Übel der Welt.Tübingen 1992.

33 I, S. 77.

34 II, S. 387.

35 II, S. 385.

36 Il, S. 391. So muß es demoralisierend wirken, wenn "die Pfaffenschaft dem Volke vorlügt, die Hälfte aller Tugenden bestehe im Sonntagsfaulenzen und im Kirchengeplärr, und eines der größten Laster, welches den Weg zu allen andern bahne, sei das Sabbathbreaking, d.h. Nichtfaulenzen am Sonntage ..." (I, S. 295).

37 II, S. 391.

38 l, S. 139.

39 II, S. 239, 487.

40 Schopenhauer setzt fort: "... Die Richtigkeit dieser Argumentation haben, während die Andern sie verschmitzt und feigherzig ignorierten, S. Augustinus, Hume und Kant sehr wohl eingesehn und eingestanden."(I, S. 139f.)

41 I, S. 150. "Meine Ethik", schreibt Schopenhauer an anderer Stelle, "hat Grund, Zweck und Ziel: sie weist zuvörderst theoretisch den metaphysischen Grund der Gerechtigkeit und Menschenliebe nach und zeigt dann auch das Ziel, zu welchem diese, wenn vollkommen geleistet, am Ende hinführen müssen. Zugleich gesteht sie die Verwerflichkeit der Welt aufrichtig ein und weist auf die Verneinung des Willens, als den (S. 15) Weg zur Erlösung aus ihr, hin. Sie ist sonach wirklich im Geiste des Neuen Testamts, während die andern sämmtlich in dem des Alten sind und demgemäß auch theoretisch auf bloßes Judenthum (nackten, despotischen Theismus) hinauslaufen. In diesem Sinne könnte man meine Lehre die eigentliche Christliche Philosophie nennen; – so paradox Dies Denen scheinen mag, die nicht auf den Kern der Sache gehn, sondern bei der Schaale stehn bleiben" (II, S. 341f.).

42 II, S. 39417.

43 II, S. 396.

44 II, S. 495.

45 I, S. 444. Menschen, die den Mechanismus derartiger »künstlicher Sehnsüchte« nicht durchschauen, befinden sich in einer besonders mißlichen Lage: Sie leben "voll Mühe, Noth, Angst und Schmerz, ohne im Mindesten zu wissen, woher, wohin und wozu, und dabei nun noch die Pfaffen aller Farben, mit ihren respektiven Offenbarungen über die Sache, nebst Drohungen gegen Ungläubige" (II, S. 64). Freilich sind auch diejenigen, die anderen noch zusätzliches Leid bereiten, selbst Opfer, denn es ist "der Wille zum Leben, der, durch das stete Leiden des Daseyns mehr und mehr erbittert, seine eigene Quaal durch das Verursachen der fremden zu erleichtern sucht. Aber auf diesem Wege entwickelt er sich allmälig zur eigentlichen Bosheit und Grausamkeit" (II, S. 234).

46 I, S. 414.

47 I, S. 142f..

48 II, S. 407f..

49 II, S. 408.

50 II, S. 409.

51 II, S. 410.

52 II, S. 414.

53 II, S. 397. "In frühem Jahrhunderten war die Religion ein Wald, hinter welchem Heere halten und sich decken konnten. Der Versuch, dies in unsern Tagen zu wiederholen, ist schlecht abgelaufen. Denn nach so vielen Fällungen ist sie nur noch ein Buschwerk, hinter welchem gelegentlich Gauner sich verstecken. Man hat dieserhalb sich vor Denen zu hüten, die sie in Alles hineinziehn möchten, und begegne ihnen mit dem oben angezogenen Sprichwort: detras de la cruz está el diablo. [Hinter dem Kreuz steht der Teufel] (II, S. 434).

54 "In Wahrheit jedoch kann jene verborgene und sogar die äußern Einflüsse lenkende Macht ihre Wurzel zuletzt doch nur in unserm eigenen, geheimnißvollen Innern haben; da ja das A und O alles Daseyns zuletzt in uns selbst liegt. Allein auch nur die bloße Möglichkeit hievon werden wir, selbst im glücklichsten Falle, wieder nur mittelst Analogien und Gleichnissen, einigermaaßen und aus großer Ferne absehn können" (I, S. 234).

55 Philalethes setzt fort: "Anders freilich stellt sich die Sache, wenn wir den Nutzen der Religionen als Stützen der Throne in Erwägung ziehen." (II, S. 396)

56 II, S. 361.

57 II, S. 373.

58 II, S. 431.

59 I, S. 166.

60 Il, S. 432.

61 II, S. 433.

62 II, S. 366.

63 II, S. 367f.

64 II, S. 434.

65 Il, S. 245.

66 II S. 247. Obwohl ich den allermeisten Analysen Alfred Schmidts (Die Wahrheit im Gewande der Lüge. Schopenhauers Religionsphilosophie.München 1986) zustimme, kann ich sein Resümee nicht teilen: "Lob und Tadel halten einander zumeist die Waage; letztlich überwiegt bei Schopenhauer die positive Einschätzung der Religion" (S. 168).