Prof. Dr. Gerhard Streminger

Die Leiden an der Güte Gottes
Gedanken zu: A.Kreiner, Die Leiden der Welt und das Theodizee-Problem*

aus: Aufklärung und Kritik 2/2002 (S. 119-123)

Armin Kreiner ist einer der seltenen modernen deutschsprachigen Theologen, der sich einigen Forderungen der Aufklärung verpflichtet fühlt und nicht bereit ist, das schwache Pflänzchen der Vernunft kurzerhand auf dem Altar des religiösen Glaubens zu opfern. Vielmehr hält er, durchaus unzeitgemäß, an der rationalen Lösbarkeit der traditionellen Probleme der Gotteslehre fest. Er vertritt sogar den Standpunkt, daß selbst das berühmt-berüchtigte Theodizee-Problem, das seit Jahrtausenden den kritischen Impuls immer wieder neu entfacht, auf dem Weg der natürlichen Vernunft lösbar sei. Nach Kreiner ist der Glaube an einen allmächtigen und sittlich vollkommenen Gott vernünftig, denn ein solches Wesen ist durchaus verträglich mit den Leiden und Übeln der Welt.

Seine Gründe für diese – nicht nur für Ungläubige, sondern auch für Fideisten (und das sind die allermeisten modernen Theologen) – überraschende These sind folgende:

Im Einklang mit der reichen Tradition, in welcher der folgende Lösungsversuch immer eine besonders prominente Stelle eingenommen hat, argumentiert Kreiner, daß es eine menschliche Willensfreiheit gäbe; und daß nur deshalb, weil es sie gibt, Sittlichkeit möglich sei; und daß Sittlichkeit ein so hohes Gut ist, daß Gott die menschlichen Fehlentscheidungen, durch die ungerechtfertigterweise anderen Leid zugefügt wird, zurecht zulasse. Gott, der Allgütige und Allwissende, akzeptiert also menschliche Fehlentscheidungen, weil er deren Willensfreiheit respektiert, die wiederum unerläßlich ist für das überragende Gut der Sittlichkeit. Somit sind die moralischen Übel, die durch die Fehlentscheidungen der Menschen in die Welt kommen, kein Widerspruch zur sittlichen Vollkommenheit Gottes, sondern mit eben dieser durchaus verträglich.-

Soweit Kreiners Hauptargument. Dem naheliegenden Einwand, daß diese berühmte und weitverbreitete Argumentation schon deshalb nicht stimmig sein könne, da es menschliche Willensfreiheit gar nicht gäbe, entgegnet Kreiner folgendermaßen: "Wir alle machen die Erfahrung, dass wir uns in bestimmten Situationen anders hätten entscheiden können und sollen."(131)

Einmal abgesehen davon, wie Kreiner wissen könne, daß >wir alle< derartige Erfahrungen machten, bleibt das Problem, daß man aus dem, was man für wahr hält, nicht schließen könne, daß das Geglaubte auch wahr sei: Lange Zeit waren Menschen, beispielsweise, felsenfest davon überzeugt, daß die Erde eine Scheibe sei, und doch war dieser Glaube falsch. Um zu erkennen, ob eine Behauptung tatsächlich richtig ist oder nicht, bedarf es mehr als bloß subjektive Erfahrung; es bedarf der empirischen, experimentellen, intersubjektiven Überprüfung.

Die Antwort auf die Frage, ob menschliches Handeln determiniert sei oder nicht, sollte deshalb keinem subjektiven Glauben (>Wir alle machen die Erfahrung ...<), sondern der Wissenschaft überlassen werden; und diese scheint zum Ergebnis zu kommen, daß menschliche Entscheidungen – so wie andere Vorgänge in der Welt auch – kausal determiniert sind (siehe dazu etwa die beiden Aufsätze von Michael Schmidt-Salomon, in: Aufklärung und Kritik IX,1).

Sieht man von dieser erkenntnistheoretischen Präzisierung – Subjektiver Glaube ist kein hinreichendes Wahrheitskriterium – einmal ab, so wäre es im übrigen höchst überraschend, wenn viele Menschen – nach jahrhundertelanger Indoktrination durch theistische Moraltrompeter – nicht überzeugt wären, daß sie als Auserwählte Gottes frei wären und sich anders hätten entscheiden >können und sollen<.

Die Willensfreiheitsdoktrin und die damit einhergehende Zuschreibung von Schuld und Sünde ist vielleicht nichts anderes als eine menschenverachtende Lehre, die von Priestern erfunden wurde, um den Chef der Horde zu entlasten – und die Untergeordneten zu belasten und diese von sich abhängig zu machen, und zwar so: Zuerst schuldig sprechen, dann von Schuld frei sprechen, dann wieder sch ...

Natürlich gibt es Freiheitsgefühle, aber diese entstehen, wenn wir tun können, was wir tun wollen, wenn wir also frei sind, das zu tun, was wir zu tun beabsichtigen. Und eine solche Handlungsfreiheit ist, wie schon David Hume wußte, mit der kausalen Determiniertheit menschlicher Entscheidungen bestens verträglich kompatibel, wie der Fachausdruck heißt (siehe dazu Humes Untersuchung über den menschlichen Verstand, Kap. VIII).

Zudem scheinen Kreiners Aussagen über >Willensfreiheit und Sittlichkeit< vor folgendem Problem zu stehen: Entgegen der Meinung Kreiners (>Sittlichkeit und Verantwortung gibt es nur, wenn Willensfreiheit existiert<) gibt es Sittlichkeit und Verantwortung nur dann, wenn Menschen in bestimmter Weise determiniert sind. Nur wenn sie mit Hilfe eines bestimmten Antriebs, nämlich der Vernunft, alle anderen Antriebe beeinflussen können ... nur wenn es einen solchen, gleichsam höheren Antrieb gibt – etwas, das Tiere, Kleinkinder oder Zwangsneurotiker gerade nicht besitzen – ... wenn also für den Einzelnen die Möglichkeit besteht, nicht sofort handeln zu müssen, sondern sich überlegen zu können, ob diesem untergeordneten Antrieb nachgekommen werden solle oder nicht – ... nur wenn Menschen über einen solchen Antrieb verfügen, kann man von >Verantwortung< und in weiterer Folge von >Sittlichkeit< sprechen.

Um vorzuführen, daß die soeben skizzierte Argumentation nicht richtig ist, müßte Kreiner zeigen, daß die von ihm propagierte Willensfreiheit eben nicht in Zufall und Willkür mündet, obwohl – gemäß seinen eigenen Voraussetzungen – der Handelnde eben nicht von determinierenden Faktoren, etwa seinem Charakter, in seinen Willensentscheidungen beeinflußt wird.

Mündet jedoch die menschliche Willensfreiheit in Zufall und Willkür, wie sie es meines Erachtens tut, so wäre der Handelnde für sein Handeln nicht verantwortlich zu machen und nicht in traditioneller Weise zu loben oder zu tadeln, kurz: sittlich zu sprechen. Denn zwar ist er es, der handelte, aber die Handlung hat nicht wirklich etwas mit ihm – nämlich mit seinem Charakter – zu tun, wird sie doch von diesem nicht mitverursacht.

Wenn aber, wie es richtig zu sein scheint, auch menschliches Handeln determiniert ist, so hätte ein allmächtiger Gott alle Möglichkeiten, die Gesetze so zu ändern, daß menschliche Entscheidungen zu keiner unbegründeten Leidzufügung anderer führen. Und wenn der Allmächtige auch noch gütig wäre, hätte er dies getan. Also ist der Allmächtige nicht gütig, oder der Allgütige ist nicht mächtig – oder, noch einfacher, es existiert weder ein mächtiger noch ein gütiger Gott.

Aber gehen wir einmal davon aus, daß Kreiner recht hat und es menschliche Willensfreiheit tatsächlich gäbe und Menschen für ihr Handeln dennoch verantwortlich seien. Dann müßte von Verteidigern der – von Kreiner so genannten – >theistischen Hypothese< gezeigt werden, daß die tatsächlich vorhandene menschliche Willensfreiheit bestmöglich wäre (denn nur eine solche ist mit einem vollkommenen Gott verträglich).

Nun ist eine Willensfreiheit leicht vorstellbar, derzufolge Menschen nicht frei wären, sich zu entscheiden, ob sie einen Genozid begehen oder nicht, aber frei wären, sich zu entscheiden, ob sie am Nachmittag, wenn die Sonne hell scheint, zwei Meter hoch aus dem Stand springen wollen oder nicht.

Ohne zu wissen, was eine >bestmögliche< Willensfreiheit ist, wäre eine solche Willensfreiheit – keine Freiheit zum Genozid, aber dafür die Freiheit zum Hochsprung aus dem Stand ... eine solche Willensfreiheit wäre mit einem gütigen und weisen Gott gewiß besser verträglich als die tatsächlich vorhandene, nämlich: Freiheit zum Genozid, aber dafür keine Freiheit zum Zwei-Meter-Sprung aus dem Stand. Umgekehrt wäre aber auch eine Willensfreiheit vorstellbar, die noch schlechter als die vorhandene wäre, weshalb die Annahme eines mächtigen und allbösen Wesens mit der Beschaffenheit der Welt ebenfalls nicht verträglich wäre.

Kreiner entgegnet diesem Einwand, der ihm natürlich bestens bekannt ist, mit folgendem Argument: "Soll jeweils die positive Seite des Spektrums möglich, die negative Seite aber ausgeschlossen bleiben, dann hätte Gott nicht andere Menschen, sondern etwas anderes als Menschen erschaffen müssen."(132)

Das klingt gut und mag in einer Welt, in der alle negativen Seiten ausgeschlossen wären, richtig sein. Aber das Argument ist nicht stimmig, wenn man zwar einige negative Dinge zuläßt, aber deren Fülle ausschließt, etwa: Mobbing ja, Völkermord nein.

Die Erde wäre – anders als Kreiner meint – immer noch von Menschen bewohnt, wenn diese keine Freiheit mehr zum Völkermord, dafür aber zum Hochsprung aus dem Stand hätten. Solche Wesen könnten zwar weniger Energien in die Vernichtung anderer verwenden, aber sie hätten mehr Energien frei für die Verwirklichung intellektueller und ästhetischer Werte. Im Gegensatz zu Kreiners Behauptung erscheint eher die These als richtig, daß die Erde gerade dann von mehr Menschen bevölkert wäre, wenn es keine Freiheit zum Völkermord mehr gäbe.

Wäre einer der großen Diktatoren des 20.Jahrhunderts, der Nürnberg-Kenner aus dem Innviertel, kein Mensch mehr – wie Kreiner dies suggeriert –, wenn die Liebe des Diktators zur Architektur so ausgeprägt gewesen wäre, daß er von einer politischen Karriere Abstand genommen hätte? Die meisten würden meinen, daß überhaupt erst dann, wenn in diesem Fall ästhetische Bedürfnisse die vielen destruktiven Gelüste überlagert hätten, man von einem Menschen – und keinem Monster – sprechen könnte (so überlagern ja auch bei den meisten anderen Menschen verschiedene Bedürfnisse ihre destruktiven Gelüste).

Aber selbst wenn man in einem solchen Fall (>Ästhetische Bedürfnisse überlagern bei allen potentiellen Tyrannen die destruktiven Wünsche<) absurderweise tatsächlich von keinen Menschen mehr sprechen könnte, dann stellt sich die Frage, warum der gütige und allwissende Gott – der also alles weiß, was wißbar ist – angesichts von sittlichen Katastrophen wie Vernichtungslagern nicht etwas anderes als Menschen geschaffen hat? Kreiner sähe darin etwas grundsätzlich Negatives und schließt diese Möglichkeit von vornherein aus. Warum eigentlich?

Und selbst dann, wenn Gott nur Menschen mit der Freiheit zum Völkermord hatte erschaffen können, hätte er die Welt so konstruieren sollen, daß die bösen Entscheidungen der Menschen keine großen negativen Auswirkungen haben. Warum gibt es, beispielsweise, den von Adam Smith so genannten >Mechanismus der Unsichtbaren Hand< nicht öfter? In einem solchen Fall werden rational-egoistische Handlungen Einzelner – durch die Mechanismen des Marktes – mittelfristig zu Gütern für alle. Diesen Mechanismus der Unsichtbaren Hand gibt es allerdings in Gottes Schöpfung kaum. Aber dafür gibt es etwas anderes: Unproblematische Handlungen der Menschen, etwa deren Streben nach Sicherheit und Freiheit von Hungersnöten, führt unbeabsichtigterweise zu negativen Zuständen, die niemand wollte, etwa zum Abbau von Ozon in der Atmosphäre.

In der Schöpfung eines angeblich vollkommenen Gottes gibt es zwar das Wirken einer Unsichtbaren Hand. Aber diese gehört selten einem wohlwollenden, viel häufiger einem bösartigen Wesen – dem biblischen >Herrn der Welt<. Warum läßt – um einmal auf der problematischen Ebene der Personalisierung zu bleiben – Gott diesen bösen Engel schalten und walten, während jeder menschliche Vater, sofern er gütig ist und die Macht dazu besitzt, ein solches Treiben nicht zuließe?

Dementgegen meint Kreiner, daß selbst der Allmächtige die Naturgesetze nicht so leicht ändern kann, da sie ein zusammenhängendes Großes und Ganzes bildeten. Kreiner erläutert dies beispielsweise an Hand der so schrecklichen Krankheit Krebs: "Auch dadurch würde sich die physikalische Gestalt des Universums gravierend verändern und wir würden wiederum in einem anderen Universum landen."(135)

Aber Menschen greifen doch ständig in die Naturgesetze ein, verändern diese und konnten dadurch etwa die Lebenserwartung der Menschen im Westen wesentlich erhöhen – ein bis zweimal höher als im Mittelalter, als das Christentum, und gewiß auch die Diözese Mainz, in Hochblüte stand.

Hand aufs Herz, sehr geehrter Gotteskundiger: Durch eine kleine Substanz in der Zelle, die deren Wucherung verhindert, würde die physikalische Gestalt des Universums (also die Gestalt vieler Milliarden Sonnensysteme) wohl nicht gravierend verändert werden und wir landeten, wenn es auf Erden keine Krebsstationen mehr gäbe, auch keineswegs in einem anderen Universum. Oder hat sich die physikalische Gestalt des Universums gravierend verändert und sind wir in einem anderem Universum gelandet, seitdem die Pocken besiegt sind und es folglich keine Pockennarben mehr gibt?

Bereits aus der Bibel könnte man lernen, daß paradiesische Zustände für den Allmächtigen natürlich nicht unmöglich wären, und daß der Allgütige diese auch ursprünglich geschaffen hatte. Allerdings schuf dann der Allwissende nach seinem Ebenbilde aus dem Nichts zwei Wesen, die dummerweise so sein wollten wie das Urbild selbst. Anstatt für diesen Fehlgriff, der eine freie Entscheidung Gottes voranging, sich selbst zu bestrafen, beging der Allmächtige einen neuen Fehlgriff: Er bestrafte nämlich seine armen Geschöpfe (Woher kommt eigentlich der Antrieb, so sein zu wollen wie Gott, wenn dieser die Menschen aus dem Nichts geschaffen hat? Gott will offenbar, daß seine Geschöpfe so sein wollen wie er, werden dann aber dafür bestraft, wenn sie so sein wollen wie er. Selbst dem heiligen Paulus traue ich nicht zu, in dieser Handlung >Gottes unermeßliche Weisheit< erkannt zu haben.) Weiter: Der strafende Gott vertrieb also seine Geschöpfe aus dem Paradies, wo sie nun unter Schmerzen ihre Kinder zur Welt bringen, im Schweiße ihres Angesichts arbeiten müssen und sich deshalb nach dem Paradies sehnen und das paradiesische Kompliment erwidern, ein Wesen nach dem Bilde der Vollkommenheit aus dem Nichts zu schaffen.

Aber so wie schon der erste diesbezügliche Versuch mißlungen ist, so mißlingen auch alle weiteren Versuche. Schade um die vielen Energien, die bei dieser Staubarbeit verloren gehen und etwa zur Bekämpfung von Krebs ungleich besser eingesetzt werden könnten. Anstatt einem höchst dubiosen Wesen unser Los zu >überantworten<, wäre es vernünftiger, das Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und uns nicht von Sirenengesängen aus ehemals dunklen Klausen – ... gravierende Veränderung der Gestalt des Universums ... – beirren zu lassen und die Übel der Welt zu bekämpfen.

Es ist wesentlich erhabener, sich um die Erde und die darauf lebenden Wesen zu sorgen als sich Sorgen zu machen um den angeblich gütigen >Herrn im Himmel<.

Kreiners Argumente erweisen sich zwar als interessant, aber als wenig stichhaltig, und sein bescheidenes Resümee, daß es "eine Antwort auf das Theodizee-Problem" gibt (137), als ein wenig voreilig. Aber selbst dann, wenn es eine Lösung des Theodizee-Problems gäbe, könnte man nicht, wie Kreiner dies tut, den Glauben an einen vollkommenen Gott als vernünftig bezeichnen. Es wäre nämlich nur gezeigt, daß die Attribute der Vollkommenheit mit dem Leid in der Welt verträglich wären. Ob aber ein solches Wesen mit den besagten Eigenschaften auch tatsächlich existiert, ist eine ganz andere Sache.

Anmerkung:
* in: Aufklärung und Kritik 1/2002, S. 127-136