Prof. Dr. Gerhard Streminger (Graz)

Die Alternative zur erhitzten Halbbildung

Gedanken zu: Georges Minois, Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Aus dem Französischen übersetzt von Eva Moldenhauer. Weimar 2000. 740 Seiten.

Aus: Aufklärung und Kritik 1/2002, S. 191-194

Aber so etwas wie Gott, also eine Antwort auf die Sinnfrage,
das müssen Sie doch haben! Wofür sind Sie denn sonst da?
Was ist das für eine Eintagsfliege, lieber Herr Philosoph?

Bischof Horst Hirschler zu Herbert Schnädelbach

 

Verfolgt man ein wenig in den Medien die vielen Diskussionsrunden seit den Anschlägen vom September 2001, so glaubt man sich in die schönen Räumlichkeiten der Bibliothek zu Wolfenbüttel versetzt. Wie zur Zeit des größten deutschen Aufklärers, Gotthold Ephraim Lessing, wird allerorten um Verständnis und Toleranz zwischen den drei monotheistischen Religionen gerungen. Kaum jemand stellt das Phänomen der Religion als solches in Frage, und geschieht dies, so wird der Beitrag schnell wieder zur Seite geschoben.

Es dominiert die unausgesprochene Annahme, daß jeder ernsthafte Mensch ohnedies religiös sei. Und gänzlich unverständlich ist eine solche Meinung nicht, sollen sich doch etwa 85 Prozent der Bevölkerung als religiös bezeichnen (Tendenz steigend!). Bei dieser Form der Religiosität handelt es sich natürlich um keine konfessionell gebundene – die Kirchen sind leer –, sondern um einen diffusen Glauben an eine höhere Macht, die einen irgendwie leitet und in Grenzsituationen irgendwie präsent ist. Ein solcher Glaube ist in der Tat weit verbreitet; auch Adolf Hitler teilte ihn.

Und dabei gäbe es eine Unzahl von Fragen, die an die vor der Kamera um Toleranz Ringenden zu stellen wären. Man könnte zum Beispiel den Vertreter des mosaischen Glaubens fragen, warum er gerade diesem und nicht etwa dem christlichen oder dem muslimischen Glauben anhängt. Die Antwort wird sein, daß Jahwe in der jüdischen Bibel, mehr als anderswo, sich und seinen Willen geoffenbart habe. Als nächstes könnte man den Vertreter des Christentums fragen, warum er sich gerade dazu und nicht zum Judentum oder zum Islam bekennt. Die Antwort wird sein: Weil Gott im Neuen Testament, mehr als anderswo sonst, sich und seinen Willen geoffenbart habe; und vom Vertreter des Islams wird man bezüglich des Korans die gleiche Antwort hören.

Die Argumente, die zur Auszeichnung des jeweiligen >wahren< Glaubens vorgebracht werden, sind allein schon deshalb unplausibel, weil sie einander widersprechen und nicht zugleich wahr sein können. Zudem läßt sich weder die Behauptung der Existenz Gottes noch die Behauptung Seines wahren Willens begründen. Weil bezüglich der Existenz und Beschaffenheit von Erstursachen Erfahrung und Vernunft schweigen, sind Bekenntnisse zur Toleranz bloße Lippenbekenntnisse, solange sie ausschließlich als >gottgewollt< gerechtfertigt werden. Eine Toleranz >um Gottes willen< und nicht: >um der Mitmenschen willen< ist nicht vertrauenswürdig.

Der Wert der Toleranz läßt sich theologisch nicht rechtfertigen, und unter dem Firnis diesbezüglicher Lippenbekenntnisse verbirgt sich deshalb zumeist etwas ganz anderes: Insgeheim werfen die meisten Juden den Christen Verlogenheit vor, weil nämlich ihrer Meinung nach Jesus von Nazareth nicht den geoffenbarten Vorstellungen des Messias entsprach. Umgekehrt werfen die meisten Christen – insgeheim – den Juden Verstocktheit vor, weil diese nämlich nicht akzeptieren wollen, daß Jesus von Nazareth der verheißene Messias war. Und die meisten Muslime werfen den Christen vor – gegenwärtig weniger insgeheim –, daß diese einer schlimmen Blasphemie anhängen: Denn Christen glauben, daß der allmächtige Schöpfer des Himmels, der Engel und der Erde sich von römischen Soldaten auspeitschen und ans Kreuz habe schlagen lassen.1

Wie sollte auf diesem brüchigen Fundament der Wert der Toleranz gerechtfertigt werden können? Nur ein säkularer Staat, der die Macht besitzt, auf dem Recht zu beharren und die Menschenrechte aller einzufordern, kann diese erhitzte Halbbildung – high tech, low mind – abkühlen. Daß hinsichtlich der Existenz und Beschaffenheit der Erstursache Erfahrung und Vernunft schweigen, kann man allerdings nicht in Wolfenbüttel lernen: Man muß seinen Blick schon nach Paris und Edinburgh wenden.

Es paßt vorzüglich in diese verworrene Zeit, daß die Geschichte eines ganz anderen Denkens verfolgt und zusammengefaßt wurde. Dieses Denken ist um einiges älter als das Christentum und der Islam, und es kreist um folgende Topoi: Daß es keine begründbare Bezugnahme auf ein höheres transzendentes Wesen gäbe; daß keine Autorität existierte, die dem Menschen übergeordnet sei; daß es nichts gäbe außer dem Diesseits; daß die Frage nach der Existenz oder Nichtexistenz Gottes nicht entscheidbar, also die Existenz Gottes mit rationalen Mitteln nicht erkennbar sei; daß die Existenz Gottes aktiv verneint werden müsse.

Es sprengte den Rahmen dieser Arbeit, auch nur die Inhaltsangabe dieses großartigen Buches ausführlich wiederzugeben. Um zu seiner Lektüre anzuregen, seien einige wenige Gedankensplitter aus der Geschichte des Atheismus herausgegriffen:

Bei den Griechen kann man viele Formen dieses Denkens unterscheiden. In einer Welt voller Götter, Halbgötter, Nymphen und Zentauren, die zudem nicht der Phantasie von Religionsgründern, sondern jener von Dichtern entstammen, war es kein dramatischer Akt, wenn man die Existenz einiger dieser Fabelwesen negierte. Derartige Gedanken wurden deshalb auch vom Staat nicht als Bedrohung wahrgenommen.

Gespannt wurde die Situation, als Demokrit behauptete, daß alle Gottesvorstellungen illusionär seien: In Wirklichkeit gäbe es nur Materie und sonst nichts. Um 415 v.u.Z. verfaßte Protagoras seine Abhandlung Über die Götter, wovon nur der erste Satz überliefert ist – und dieser lautet: "Von den Göttern weiß ich nichts. Weder daß sie sind, noch daß sie nicht sind. Denn vieles hemmt uns in dieser Erkenntnis: Sowohl die Dunkelheit der Sache wie die Kürze des menschlichen Lebens."

Dieser Satz hätte wenige Jahre zuvor nur wenige aufgeregt, doch nun wurde Protagoras zum Staatsfeind erklärt. Man verbannte ihn aus Athen, und seine Schriften wurden verbrannt. Der Grund für diesen Stimmungswandel war, wie üblich, nicht übernatürlichen, sondern natürlichen Ursprungs: Athen befand sich in einer Umbruchsphase. Es gab eine allgemeine Unsicherheit, und jeder Zweifel an den Göttern wurde zum Zweifel am Staat. Die Götter und der örtliche Kult war, nach jahrzehntelanger Verunsicherung durch den Peloponnesischen Krieg, keine persönliche Glaubenssache mehr, sondern Zeichen staatsbürgerlicher Zugehörigkeit.

Der Atheismus galt von nun an als moralisch verwerflich – ein Vorwurf, den besonders nachdrücklich und geschichtsmächtig ein anderer Philosoph, nämlich Platon, formulierte. Mit diesem Vorwurf wurden (und werden) Atheisten in den nächsten 3000 Jahren konfrontiert, obwohl im Namen der Religion wesentlich mehr Greueltaten begangen wurden als im Namen eines diesseitsbezogenen Atheismus.

Etwa zur gleichen Zeit wie die Stoa entstand der Epikureismus, der noch stärker als die Stoa atheistisch geprägt war. Jahrhundertelang war >Epikureer< ein Schimpfwort, oft ein Todesurteil. Vor allem ein Gedanke erboste Gläubige – zurecht: Epikur zufolge ist die Lust – und nicht etwa der religiöse Glaube – das Fundament eines glücklichen Lebens. Doch unter >Lust< verstand er primär >das Freisein von störenden Elementen<, worunter Epikur das Freisein von Bedürfnissen und Schmerzen, vor allem auch das Freisein von der Furcht vor Göttern verstand. Und es gibt keine guten Gründe, sich vor diesen zu fürchten: Denn daß die Götter, von denen man wohl annehmen kann, daß sie gut sind, nicht mächtig sein können, zeigt – so Epikur – die Beschaffenheit der Welt.

Das Problem, wie Gottes Güte mit den Übeln auf Erden verträglich sein sollte, blieb bis heute ungelöst und Stachel im Fleisch der allermeisten Theisten. Aber vielleicht sollen wir, um dem Problem zu entgehen, uns das Höchste Wesen gar nicht als gut und gerecht vorstellen? Dann aber wird die Idee einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits unplausibel, und gerade diese Idee will man – als Basis für die Moral – keinesfalls aufgeben. Also ist der mächtige Gott doch gut und gerecht. Woher dann aber die Übel?

Dieser Stachel, der den atheistischen Impuls immer wieder entfacht, saß tief im Fleisch schon der Kirchenväter: Woher kommt, so fragte beispielsweise Augustinus, der böse Wille der bösen Engel? Und auch der Heilige wußte darauf keine überzeugende Antwort.

Im christlichen Zeitalter der Menschheit konnte sich der Atheismus 1600 Jahre lang kaum artikulieren. Zwar gab es eine rege Kritik an den Zuständen in der Kirche Roms, aber diese Kritik geschah innerhalb des Christentums, oft mit Jesus-Worten garniert. Erst im 17. Jahrhundert begegnet man einer organisierten Negation Gottes. Es entstanden säkulare Moralsysteme sowie eine wissenschaftliche Weltanschauung, derzufolge nur das für wahr gehalten wird, was von der natürlichen Vernunft begründet werden kann.

Eine Erklärung für die positiven Eigenschaften Gottes gibt der vielleicht wichtigste atheistische Denker des 19. Jahrhunderts. Der 1804 geborene Ludwig Feuerbach ging davon aus, daß Gott eine Projektion des Menschen sei. Um diesen greifbar zu machen, zu objektivieren, entledigt sich der Mensch seiner positiven Eigenschaften und spricht diese IHM zu. Durch diese Entäußerung macht sich der Mensch arm, auf daß Gott reich sei; der Mensch verachtet sich, auf daß Gott geliebt werde. Läßt der Mensch den mythischen Gott schrumpfen, wird – so Feuerbach – der Mensch den wahren Gott verehren, nämlich sich selbst. Feuerbach war zwar ein Atheist, aber kein Nihilist, denn ihm ging es um keine Negation des Daseins (eine Spezialität vieler theistischer Systeme), sondern um die Negation der Negation des Menschen.–

Vielleicht können diese wenigen Gedanken zur Lektüre des Buches von Minois anregen, das – wie es so schön heißt – >in keiner Bibliothek fehlen sollte<, deren Besitzer sich der Aufklärung verpflichtet fühlt.

Das Buch ist ein unschätzbares Nachschlagewerk zur Geschichte des Atheismus und zudem von nicht geringem systematischem Interesse: Man kann nämlich Alternativen zu jenen Schlachtrufen studieren, mit denen Generationen von Menschen unterdrückt und ausgebeutet wurden: Ohne Gott keine Moral und: Ohne Gott kein Sinn! Es gibt keine Gründe, sich von denen verunsichern zu lassen, die sich provoziert fühlen, wenn es einem gleichgültig ist, warum es vor 15 Milliarden von Jahren im Universum geknallt hat. Nicht wenige Theisten belästigen ihre Mitmenschen mit Fragen, die vornehmlich sie selbst interessieren, sowie mit Antworten, die nicht begründet werden können: Wenn man den Schöpfergott (warum nur einer?) die Eigenschaft der Ewigkeit zuspricht, warum nicht gleich der Materie?

Keine Kritik? Es wirkt beckmesserisch, diesen Autor an einen wichtigen Erkenntnisstrang des aufgeklärten Denkens zu erinnern, der meines Erachtens unterbelichtet bleibt. Aber da diese Unterlassung inzwischen zur Formel sich verdichtet hat, sei der Punkt angeführt: In der materialistischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts wird, anerkennend, fast nur auf die französische Aufklärung Bezug genommen. Historiker mögen innehalten und Voltaires Philosophische Briefe über England lesen sowie sich mit den Umständen von David Humes grandiosem Erfolg im Paris der Enzyklopädisten beschäftigen. Sie werden dann, jenseits vernünftigen Zweifels, zur Meinung gelangen, daß der Baum der Aufklärung in zwei Böden wurzelt: in demjenigen Frankreichs, natürlich, und in demjenigen Großbritanniens – und dieser letzte Lebensstrom ist vielleicht sogar der widerstandsfähigere.

Anmerkung:

 1 Und warum vertrauen die einen Moses und die anderen Jesus und die dritten Mohammed – und nicht Don Quichote? Deutete man dessen Reden, Handlungen und Abenteuer so allegorisch wie die Reden, Handlungen und Abenteuer in den heiligen Büchern, und investierte man jahrhundertelang darin so viel Energie, so würde man unschwer eine ganz und gar übernatürliche und göttliche Weisheit finden.