ZUR WELT KOMMEN

Wie immer zur Winterzeit öffneten sich um Punkt 15 Uhr die Gefängnistore. Aus allen Zellen strömten Häftlinge in den Innenhof. Einige von ihnen hatten, an die Türe gelehnt, ungeduldig auf den Ausgang gewartet. Andere waren noch in ein Kartenspiel vertieft gewesen und eilten nun, leicht gebeugt, nach Draußen. Langzeitgefangene erhoben sich langsam von den Betten und trotteten als letzte über die Stufen – ins ummauerte Freie.

Ein sonniger Wintertag erwartete sie. Der Himmel war ähnlich einem riesigen, dunkelblauen Gewölbe. Einige wenige Wolken bildeten am Horizont eine schmale Bordüre aus Watte. Das gleißende Sonnenlicht ließ die an Dunkelheit gewöhnten Augen tränen; und die Ohren schmerzten, als das metallene Alle Gefangenen zirkuliiiieren! aus den Lautsprechern dröhnte.

Unter den Häftlingen bildeten sich alsbald die üblichen Gruppen. Umgeben von Gleichgesinnten, beschimpften und erniedrigten sie einander. Einige stießen mit den Ellbogen, so heftig sie konnten, Vorbeigehenden in die Seite. Aus den Augenwinkeln schielten sie alle auf die Hochsitze, wo hinter Panzerglas die Wärter mit Gewehren im Arm und Sonnenbrillen im Haar saßen.

Die Kunde, daß heute kein Wächter zu sehen war, verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Zunächst näherten sich die Gefangenen, wild gestikulierend, den Wachtürmen. Dann rannten sie zum Eingangstor, das sich ohne große Mühe öffnen ließ. Die Häftlinge sahen – zumeist zum ersten Mal seit vielen Jahren – das weite, offene, mauerlose Land.

Wiesen und Hügel waren von Schnee bedeckt. Auf den wenigen Flecken schwarzer Erde stocherten Krähen nach Eßbarem. Eine Allee aus Obstbäumen streckte ihre Äste gegen den Himmel, als wollte sie diesen um ein Almosen bitten. Wie Gerippe, die von der Hüfte an im Boden vergraben waren, standen sie da, ein Baumskelett neben dem anderen. Einige Vögel, auf deren Rücken noch frischer Schnee lag, hüpften kreischend von Geäst zu Geäst.

Wie wilde Tiere, deren Käfig man nach langer Zeit geöffnet hatte, verließen die Häftlinge das große Tor. Die meisten hielten, mit leicht eingezogenem Kopf, ständig Ausschau von einer Ecke zur anderen. Einige jauchzten vor Übermut und Freude und wälzten sich im Schnee, wo sie Schwimmbewegungen machten und die Zögerlichen mit Schneebällen bewarfen.

Plötzlich stand Martin, der Häftling mit den Narben am ganzen Körper, breitbeinig im Gefängnistor. Mit einer Stimme, die fast so schneidend wie jene aus den Lautsprechern war, befahl er allen, unverzüglich hinter die Gefängnismauern zu kommen. >Ihr glaubt, daß ihr nicht gesehen werdet. Doch allerorts sind sie, die Wächter, und sie werden euch töten, wenn ihr fliehen wollt. Ihr seht keine? Natürlich nicht, denn diese sind unsichtbar geworden!!<

Die Inhaftierten, die für einen Augenblick die süße Frucht der Freiheit genossen hatten, wollten zunächst nicht glauben, was sie da hörten. Schließlich erhob sich einer nach dem anderen von der Erde aus Furcht, schüttelte den Schnee aus der Gefängniskluft und scharte sich um den Propheten, der hinkend eine kleine Steinmauer erklommen hatte.

Nur einer ließ sich vom allgemeinen Tumult nicht anstecken und drehte unbeirrt seine Runden im Gefängnishof: Jonathan, den alle als >Monatshahn< verhöhnten. Wenn er angeredet wurde, so senkte er stets seinen Kopf, ballte die linke Hand zur Faust und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf den Knöchel des linken Zeigefingers, dann auf die Haut zwischen diesem und dem Knöchel des Mittelfingers, dann auf den Knöchel des Mittelfingers ... und zählte hastig: >Januar, Februar, März, April, Mai, Juni, Juli ...< Den Knöchel des kleinsten Fingers drückte er ein zweites Mal: >August, September, Oktober, November – und nach einer Pause endlich – Dezember<. Jonathan war ob seines hartnäckigen Fragens zu zwanzig Jahren Langeweile verurteilt worden.

Inzwischen hatte sich Martin in Verzückung und in ein wohliges Gefühl der Überlegenheit geredet. >Ihr denkt wohl<, argwöhnte er mit einem Unterton der Verachtung, >ihr denkt wohl, daß es keine Wächter mehr gibt. Denn ihr könnt sie nicht sehen. Doch wer hat die Zellentore geöffnet? Wer spricht zu euch aus den Lautsprechern?< Im Innenhof wurde es mucksmäuschenstill, dann dröhnte wieder Alle Gefangenen zirkuliiiieren! wie eine Sirene über die Köpfe hinweg.

Martin hob seinen Kopf und warf einen zufriedenen Blick zum Horizont, wo gerade Krähen der untergehenden Sonne entgegenflogen. Sein Gesicht entspannte sich und wurde zur leblosen Maske. Als der Hall der Sirenentöne nicht mehr zu hören war, wartete Martin noch einen Atem lang in sich gekehrt. Dann suchte er die Blicke der Mithäftlinge und gab seinen Worten Nachdruck, indem er deren Rhythmus mit einer Fliegenklappe nachahmte.

Verstört gingen alle, als die Zeit des Ausgangs verstrichen war, in die Zellen zurück. Ein paar legten sich auf ihre Betten und starrten zur Decke. Einer imaginierte, daß dort oben Augen wären, die sein Bett fixierten und nichts als eine willenlose Leiche sahen. Die meisten Häftlinge setzten sich, zumeist mit leicht unkoordinierten Bewegungen, an den Tisch und begannen ein neues Kartenspiel.

Jonathan aber hatte im Hof gewartet, bis alle in ihren Zellen verschwunden waren. Dann hastete er die wenigen Stufen zum Kerker hinauf, öffnete den Spind, wechselte rasch die Kleider, packte seine Sachen in einen Rucksack, eilte aus der Zelle und rannte zum großen Tor, das er mit der Schulter aufstieß. Dann lehnte er sich, nach Atem ringend, an die Gefängnismauer. Als ein Windstoß ihn frösteln ließ, stellte er den Mantelkragen hoch und wärmte den Hals mit der Hand.

Mit tastenden Schritten prüfte er, ob ihn der Boden vor dem Gefängnis tragen würde. Schließlich ging er – zunächst bedächtig, dann immer unbeschwerter – auf der Landstraße auf und davon. Die Umrisse der gelben Häuser der Vergangenheit wurden bald zur eisigen Silhouette am Horizont. Jonathan drehte sich mehrmals um, um sich der Schrumpfung zu vergewissern.

Nach einigen Stunden tauchten im Abendnebel die ersten Häuser auf. Es durchströmte ihn behaglich warm. Jonathan steuerte geraden Wegs auf den zentralen Dorfplatz zu. Die Lichter der Straßenlaternen schnitten mächtige Kegel aus dem Dunkel und warfen Schatten der Vorbeieilenden auf die Häuserwände. Lautlos torkelten die ersten Schneeflocken aus den Wolken auf die Erde.

Jonathan betrat das einzige Gasthaus im Ort. Dort mietete er sich ein Zimmer mit angeblichem Blick auf den gegenüberliegenden Hang, auf Wälder, die bis zur Bergspitze reichen, auf Wege und steile Felder, die mit Pferden bewirtschaftet werden. Oben am Bergkamm, so wurde ihm erzählt, seien alle Gipfelkreuze entfernt und durch Windräder ersetzt worden.

Jonathan betrat das Eckzimmer und hatte die Absicht, so lange hier und im Dorf zu bleiben, bis er sich darin geübt hatte, fortan nur noch den eigenen Willensregungen gemäß zu wollen. Der Eingangstür gegenüber hing ein großer Spiegel. Zuerst sah er darin nur Gegenstände des Zimmers, dann erkannte er die schemenhaften Umrisse seines eigenen Gesichts. Jonathan betrachtete es lange, öffnete ein wenig den Mund und strich mit den Fingern die Wangen auf und ab. Als ob er einen Radiergummi hielt, bildete sich ein Abrieb, der lautlos zu Boden fiel.

Nachdem Jonathan sich ausgeruht hatte, ging er die Treppen nach unten – und bestellte sich einen Punsch.

 

Zum Autor: geb. 1952 in Graz, lebt in Übelbach in der Steiermark. Wichtigste Buchveröffentlichungen: Gottes Güte und die Übel der Welt. Das Theodizeeproblem. Tübingen (Mohr) 1992; David Hume. Sein Leben und sein Werk. Paderborn (Schöningh) 21994.

Aus: Neue Literatur, Herbst 2003. Frankfurt 2003

 


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